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Die Aufwartefrau, welche eben das Haus betrat, hörte diesen Schrei und stürzte daraufhin entsetzt die Treppe hinauf.
Das junge Mädchen jedoch, über die Brüstung des ersten Stockes gebeugt, rief ihr von oben zu:
»Einen Arzt! Rasch einen Arzt! Laufen Sie, laufen Sie. Papa stirbt!«
Der Körper Meinerts jedoch war leblos, bereits kalt. Die Augen standen weit offen, blickten erschreckt und verglast. Kein Atemzug flog mehr durch die halbgeöffneten Lippen, das Herz hatte aufgehört zu schlagen. Aber Toni wollte durchaus nicht an den Tod ihres Vaters glauben. Sie konnte nicht glauben, daß der, welcher noch am Abend vorher so glücklich, so frisch gewesen war, heute nichts anderes war, als ein Leichnam!
Dem herbeigerufenen Arzt genügte ein Blick, eine ganz kurze Untersuchung, um zu konstatieren, daß der Tod bereits vor mehreren Stunden eingetreten sein mußte.
»Das ist ja nicht möglich! Das kann ja nicht sein!« rief Toni verzweifelt. »Herr Doktor, retten Sie ihn! Sie müssen ihn retten … Ich will, daß Sie ihn retten, ich flehe Sie an.«
Er befühlte das Herz und den Puls Meinerts und betrachtete ihn mit aller Aufmerksamkeit, aber das nur, weil er nicht den Mut hatte, dem flehenden und verzweifelten Kinde diese Bitte einer letzten Untersuchung abzuschlagen. Sobald er sich erhob, schien seine ganze Haltung und sein Blick zu sagen:
»Leider habe ich mich nicht getäuscht. Fassen Sie Mut.« Sie aber stellte sich plötzlich dicht vor ihn hin und blickte ihm offen und Antwort gebietend in die Augen:
»Wenn er tot ist, woran ist er denn gestorben?«
»Jedenfalls am Herzschlag,« stotterte der alte Arzt, da er sich genötigt sah, irgend etwas zu sagen.
Wie vom Blitz getroffen fiel sie vor dem Bett in die Knie, ihre Augen auf den geliebten Toten gerichtet, ihre Hände gefaltet; sie konnte nicht sprechen, ihre Kehle war wie zugeschnürt und konnte auch nicht einen Ton von sich geben; sie war dem Wahnsinn nahe.
Plötzlich hörte man das Geräusch mehrerer Personen, welche in das Haus traten. Es war der Polizeikommissar von Wilmersdorf, gefolgt von seinem Protokollführer und einem seiner Beamten. Auf den Auftrag des Arztes hin war er von der Aufwartefrau benachrichtigt worden, daß seine Gegenwart in der Güntzelstraße schleunigst nötig wäre, worauf er sofort dem Rufe Folge leistete.
Sobald ihn der Arzt bemerkt hatte, eilte er ihm ins Treppenhaus entgegen und sagte leise: »Ich hielt es für meine Pflicht, Sie sofort hierher zu bitten. Heute nacht ist hier ein Verbrechen begangen worden. Der Mann, den Sie da drin in seinem Bett liegen sehen, ist erdrosselt worden.«
»Sind Sie dessen auch sicher, Herr Doktor?« fragte der Kommissar, nachdem er eine Bewegung der Ueberraschung und des instinktiven Schreckens unterdrückt hatte.
»Vollkommen. Gerade die Symptome der Erdrosselung habe ich eingehend studiert, und ich habe eben auf dem Gesicht, auf dem Hals und auf der Brust des Opfers gewisse Anzeichen bemerkt, an denen man sich nicht täuschen kann. Wenn Sie mir folgen wollen, so werden Sie dieselben selbst konstatieren können.«
»Wer ist das junge Mädchen, das vor dem Bett kniet?« fragte der Kommissar, der Toni durch die offengebliebene Tür bemerkte.
»Ich bin heute zum erstenmal hier,« erwiderte der Arzt. »Aber soviel ich zu verstehen glaube, ist das die Tochter des Unglücklichen.«
»Fräulein Meinert also? Ich kannte flüchtig ihren Vater, der in letzter Zeit mehrmals bei uns war, um sich seine Unterschrift legalisieren zu lassen. Er war Hauptmann a. D., ein äußerst gediegener Mensch. Aber wir können doch nicht den Leichnam in Gegenwart der jungen Dame einer genauen Untersuchung unterziehen; wir müssen sie überreden, sich zu entfernen.«
»Dies wird ziemlich schwer sein. Sehen Sie sie nur an.«
»Jedoch …«
»Na, ich will's versuchen.«
Der Doktor ging abermals in das Zimmer, näherte sich Toni, faßte sie unter beide Arme und hob sie empor. Willenlos ließ sie alles mit sich geschehen. Darauf führte sie der Arzt nach der zweiten Türe, die in den Salon führte.
Der fast leblose Körper des jungen Mädchens folgte dem ihm gegebenen Impuls, doch ihr Kopf blieb immer nach rückwärts gewendet, dem Bett zugewendet, ihre Augen immer auf den Leichnam geheftet. Während sie der Arzt im Salon auf ein Sofa legte, gab er der Aufwartefrau den Auftrag, über die Waise zu wachen.
Darauf kehrte er in das Zimmer zurück, das inzwischen der Polizeikommissar mit seinem Protokollführer betreten hatte.
Der Schutzmann jedoch war indes in den Garten hinabgegangen und hatte sich vor die Tür des Hauses gestellt, um die Neugierigen, welche bereits ziemlich zahlreich das Haus belagerten, zu verhindern, in das Haus zu dringen.
Der Doktor trat, vom Polizeikommissar gefolgt, an das Bett und zeigte auf den Leichnam:
»Sehen Sie nur, das Gesicht ist aufgelaufen, hat eine violette Färbung und ist beinahe wie gesprenkelt, und blutiger Schaum quillt aus den Nasenlöchern. Die Zunge ist etwas vorgestreckt, und zwischen den Zähnen förmlich eingeklemmt. Hier haben Sie aber das sicherste Anzeichen, welches niemals täuscht: diese Art von gesprenkelten, roten Pünktchen, die Sie überall auf dem Gesicht bemerken und auch auf den Augenlidern. Sehen Sie?«
»Jawohl. Aber ich habe diese Erscheinung natürlich nicht so sehr studiert wie Sie, und diese Zeichen, die Sie mir angeben, genügen mir nicht vollkommen, um mich zu überzeugen. Ein so kräftig gebauter Mann, wie der Hauptmann Meinert war, hätte sich doch nicht so ohne weiteres erdrosseln lassen; er hätte sich doch verteidigt.«
»Er hat sich auch verteidigt, oder er hat es wenigstens versucht. In seinem Schlafe überrascht, wurde der Hals wie mit einem eisernen Ringe zugeschnürt, und trotzdem hat der Angegriffene versucht, aus dem Bett zu springen. Die Anordnung der Decken, das herabgefallene Laken sind Beweise genug. Gleichzeitig muß er mit den Armen in der Luft herumgeschlagen haben. Er hat jedenfalls alle Macht angewendet, den Mörder zu packen, dessen furchtbaren Griff er an seinem Halse fühlte. Er konnte ihn jedoch nicht sehen, denn der Elende stand da am Kopfende. Er verbarg sich hinter den eisernen Stangen, faßte mit den Händen durch die Stangen und stemmte sich mit den Knien gegen das Bett.«
»Nach Ihrer Meinung also geschah die Erdrosselung nur mit Hilfe der Hände?« fragte der Kommissar.
»Ganz gewiß. Sie wissen doch, daß dies die häufigste Art des Erdrosselns ist. Beide Hände – oder auch bloß eine – genügen vollkommen, die Erdrosselung zustande zu bringen. Dazu braucht man auch gar kein besonders starker Mann zu sein. Manche Leute von unscheinbarem Aussehen haben eine ungemeine Muskelkraft und eine unwiderstehliche starke Hand. Irgendein auf den Hals ausgeübter Druck, der imstande ist, die Luftröhre zuzupressen, kann in ganz kurzem Zeitraum den Tod herbeiführen.«
»Dann müßten wir doch aber auf dem Hals die Spuren der Finger und der Nägel des Mörders vorfinden, » bemerkte der Kommissar, der sich schon weniger hartnäckig gegen die Ansicht des Arztes sträubte.
»Da sind sie auch, sehen Sie nur. Rot, wie sie anfangs waren, als ich den Toten zuerst untersuchte, werden sie jetzt bläulich, violett, infolge der raschen Abkühlung des Körpers.«
»Das stimmt.«
»Und bemerken Sie nur diese Ekchymosen, welche sich unterhalb des Unterkiefers und des Halses ansetzen und sich auf jeder Seite der Luftröhre bilden! Ich spreche Ihnen hier nur von den äußeren Anzeichen, welche ins Auge springen. Mein Kollege und Lehrer, Professor Hobrandt, dem ich sofort telephonieren ließ, muß gleich hier sein. Er wird die innere Untersuchung des Körpers vornehmen und andere interne Anzeichen entdecken, an denen man sich nicht täuschen kann. Der Mörder kann wohl alle äußeren Spuren eines Mordes verwischen, er wird aber nie imstande sein, die Wissenschaft zu täuschen.«
Mährend er also sprach, war Toni auf der Türschwelle erschienen, mit halbgelösten Haaren, fieberndem Blick, trotzdem schön in ihrer Jugendlichkeit und ihrem tiefen Schmerz, und hörte den Auseinandersetzungen des Arztes zu.
Soeben hatte der Doktor aufgehört, dem Polizeikommissar seine Ansichten mitzuteilen. Die medizinischen Anzeichen jedoch, welche den Mann der Wissenschaft frappiert hatten, waren nicht imstande, den Vertreter des Gesetzes vollkommen zu befriedigen. Der letztere, indes er dem Arzte zuhörte und mit ihm den Leichnam studierte, suchte mit den Augen im ganzen Zimmer umher, ob er nicht irgendeinen materiellen Beweis für die Anwesenheit des Mörders entdecken könnte. Er fragte sich, welche Motive der Mörder gehabt haben könnte. Sollte es sich um irgendeinen Racheakt handeln? Das war kaum anzunehmen. Was für einen Feind sollte der alte, harmlose Offizier gehabt haben, der sich schon längst von der Welt zurückgezogen hatte und einzig und allein seinen Pflichten als Vater lebte?
Oder sollte Raub das Motiv gewesen sein? Wenn man die Kahlheit der Mauern, die armselige, einfache Ausstattung des ganzen Zimmers betrachtete, war auch das schwer anzunehmen. Jedenfalls waren diese beiden Punkte aufzuklären, und der Kommissar war eben im Begriff, sich in den Salon zu begeben, um Toni Meinert zu befragen, als sie plötzlich, wie bereits gesagt, in der Türe erschien.
Sie lehnte an der Wand und hielt in der Hand ein Taschentuch, welches sie von Zeit zu Zeit an die Lippen preßte, um in nervösem Schmerz in dasselbe hineinzubeißen. Das Blut stieg ihr wieder allmählich vom Herzen ins Gesicht, und einzelne, verirrte Tränen rollten über ihre Wangen hernieder. Zweifellos hatte sie sich jetzt über die Situation Rechenschaft gegeben. Sie sah nun schon klarer, worum es sich handelte; ihr Unglück erschien ihr in deutlicheren, in schrecklicheren Umrissen.
Der Kommissar sah ein, daß er, wenn er sich jetzt direkt an das junge Mädchen wandte, in dem Zustande, in dem es sich befand, leicht eine Nervenkrisis herbeiführen könnte, welche die Untersuchung nur unnötig aufhalten würde. Deshalb tat er, als wenn er die Anwesenheit des jungen Mädchens gar nicht bemerkt hätte, um sich an den Arzt zu wenden, dem er ganz laut seine Meinung und seine Zweifel über den Fall mitteilte. Er sagte sich, daß Toni ihn so hören mußte, und daß sie in einem gegebenen Augenblick instinktiv sich genötigt sehen würde, irgendeine Bewegung zu machen, einen Schrei auszustoßen, irgendein Wort auszusprechen, welches in die Sache irgendwie Licht bringen könnte.
Er begann demnach dem Arzt zu erklären, daß er sich seinen Mutmaßungen anschlösse, daß in diesem Falle ein Verbrechen vorläge.
Toni zerdrückte in ihren Händen das kleine Taschentuch, aber sagte nichts.
Dann sprach er über die Existenz, welche der Hauptmann Meinert geführt hatte, über dessen regelmäßiges Leben, seine Ehrbarkeit und Güte, und schloß mit der Behauptung, daß ein solcher Mann wohl schwer imstande sein könnte, irgend welchen Haß erweckt zu haben.
Die Tränen Tonis rannen nur noch ungestümer, als sie das Lob ihres toten Vaters hörte; sie nickte bejahend mit dem Kopf, als ob sie sagen wollte: »Sie haben recht! Das ist ja so wahr! Er war zu gut, um Feinde zu haben!«
»Die Annahme jedoch,« fuhr der Kommissar weiter fort, das Wort immer an den Arzt richtend, »daß ein Raubmord das Motiv des Verbrechens gewesen sein könnte, ist schwer anzunehmen. Jeder Mensch wußte, daß der Hauptmann kein Vermögen besaß, daß er einzig und allein von seiner kleinen Pension lebte. Es gibt in Berlin so viele reiche Hauseigentümer, welche manchmal in viel einsameren Villen wohnen als in dieser hier, als daß ein Raubgieriger seinen Kopf gewagt hätte, sich gerade in dies Haus einzuschleichen, in dem nichts zu holen war.«
Sobald Toni diese Worte hörte, führte sie die Hand nach der Stirn, als ob ein Gedanke plötzlich in ihr aufdämmerte, – ein Gedanke, der ihr entschwunden war. Sie entfernte das Taschentuch von ihren Lippen und schien sich Mühe zu geben, etwas sagen zu wollen. Die Kehle jedoch war ihr immer noch zugeschnürt und ließ sie nur unartikulierte Laute hervorbringen.
Dann aber erhob sie den Arm und streckte ihn aus, mit der Hand nach dem Kopfende des Bettes weisend, als ob sie sagen wollte: »Sehen Sie, sehen Sie dort nach, sucht!«
Der Kommissar, ohne recht zu verstehen, folgte jedoch ihrer Bewegung. Er näherte sich dem Bette, untersuchte die Laken, hob das Kopfkissen empor und suchte mit der Hand unter demselben. Da er weder etwas sah noch etwas fand, wandte er sich an Toni:
»Habe ich Sie recht verstanden, mein Fräulein, ist es das, was Sie wollten?«
Sie machte abermals eine gewaltsame Anstrengung, bis es ihr gelang, die kaum artikulierten Worte hervorzustoßen:
»Ja … ja … Geld … Brieftasche … verschwunden … Räuber … Mörder!!«
Sie konnte nicht weiter reden, ein konvulsivisches Schluchzen erstickte ihre Stimme. Die erwartete Krisis war eingetreten.
Immerhin war jedoch ein wichtiges Moment aufgeklärt worden: ein Raub lag vor. Es war nicht mehr daran zu zweifeln. Das Zeugnis dieser unglücklichen Tochter ließ keinen Zweifel mehr übrig. Die ganze Sache trat definitiv in eine andere Phase: die erste Annahme eines natürlichen Todes, eines Schlaganfalles oder eines Selbstmordes war geschwunden. Man befand sich angesichts eines geheimnisvollen Verbrechens, jedoch eines Verbrechens, dem Raub zugrunde lag, wie bei der Mehrzahl der Verbrechen.
Eben wollte der Kommissar das Haus verlassen, das von Schutzleuten abgesperrt war, als Lulu unter der Tür erschien und die Wächter heiß anflehte, sie hineinzulassen. Sie erkannten sofort, daß man von dieser Neuangekommenen vielleicht wichtige Details erfahren konnte, weshalb sie sich beeilten, ihr die Tür zu öffnen.
Lulu stürzte sofort ins Haus, kletterte die Treppe hinauf, eilte zu Toni, die sie mit ihren Armen umschloß, um sie mit Küssen zu bedecken; und während sie jammerte und weinte und herzzerreißend schluchzte, sprudelte sie in ihrer gesprächigen Art eine Menge von Worten hervor, aus denen der Kommissar immerhin etwas Neues erfahren konnte.
Auf diese Art erfuhr er auch, daß der Hauptmann gestern abend mit einer Brieftasche, die 530 000 Mark in Banknoten enthalten hatte, nach Hause gekommen war.
Diese wichtige Enthüllung warf allerdings ein ganz neues Licht auf die Sachlage und vergrößerte deren Wichtigkeit um ein Bedeutendes.
Der Kommissar wollte Lulu eben einem regelrechten Verhör unterziehen, als er von neuem Lärm in der draußen stehenden Menge vernahm und das Geräusch von heranrollenden Wagen: der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt waren zusammen gekommen.
Gleichzeitig hielt auch ein anderer Wagen vor der Gartenpforte, dem der bekannte Kriminalwachtmeister Dühms entstieg, dem vom Polizeipräsidium, sobald die Depesche des Kriminalkommissars eingetroffen war, der Auftrag erteilt worden war, die geheimnisvollen Spuren des Verbrechens weiter zu verfolgen.
Der Staatsanwalt und Herr von Salbach, ein wegen seines geistigen Scharfblicks und seines Eifers durchaus beliebter Untersuchungsrichter, betraten sofort das Haus, während der Kriminalwachtmeister einstweilen den Garten vornahm, sobald er von dem anwesenden Wilmersdorfer Polizeikommissar einige Aufschlüsse erhalten hatte. –
Während sie den Ort in Augenschein nahmen, unterzog der Untersuchungsrichter Tonis Freundin Lulu einem eingehenden Verhör.
Nachdem sie ihre Personalien angegeben und wegen der Undeutlichkeit ihrer Aussprache ihren Vor- und Zunamen buchstabiert hatte, fragte er sie, inwieweit sie von den einzelnen Ereignissen Kenntnis hätte.
»Um wieviel Uhr sind Sie von hier weggegangen?«
»Es war etwa so gegen zehn Uhr.«
»Sind Sie allein weggegangen?«
»Ich bin mit der Aufwartefrau, die auch nach Hause ging, durch den Garten gegangen und dann vor dem Hause in eine Droschke gestiegen.«
»Ist hinter Ihnen die Haustür abgeschlossen worden?«
»Jawohl, zweimal; ich glaube immer noch das Geräusch des sich drehenden Schlüssels zu hören.«
»Und innen war kein Riegel?«
»Nein. Ich hatte immer dem Hauptmann geraten, eine Sicherheitskette anbringen zu lassen, doch erhielt ich stets zur Antwort: »Welcher Dieb wird denn so dumm sein, bei mir einzubrechen? Erstens einmal habe ich nichts, und zweitens wissen die Spitzbuben ganz genau, daß ich ein alter Soldat bin und in meinem Hause ein ganzes Arsenal von Waffen sein muß.«
»Und abends wurde wohl auch die Gartentür abgeschlossen?«
»Jawohl, Herr Untersuchungsrichter, und zwar mit demselben Schlüssel, der auch die Haustüre abschloß.«
»So hat Sie also Herr Meinert bis an die Tür begleitet?«
»Nein. Die Aufwartefrau hat abgeschlossen. Sie hatte deshalb einen zweiten Schlüssel, damit sie des Morgens hineinkonnte, ohne die Herrschaft zu stören.«
»Ich danke Ihnen vielmals. Sie können sich jetzt zu ihrer Freundin begeben. Ich will Sie nicht länger von ihr trennen.«
Man ließ darauf die Aufwartefrau kommen und fragte sie, ob sie die Eingangstür in letzter Zeit eingeölt habe. Sie verneinte dies.
»Wieviel Schlüssel gab es, die die Eingangstür öffnen?« fragte der Richter.
»Zwei, Herr Richter.«
»Der Ihrige und der des Herrn Hauptmann, nicht wahr? Wo ist der letztere?«
»In der Flurhalle, an einem Nagel, an den ihn der Herr Hauptmann immer jehangen hat, nachdem er des Abends immer die Türe abjeschlossen hat.«
»Und der Ihrige? Geben Sie ihn mir.«
»Da ist er, jnädiger Herr.«
»Aber der Schlüssel ist ja ganz fettig und eingeölt. Und Sie haben mir doch gerade in diesem Augenblick gesagt, daß Sie ihn nicht eingeölt hätten?«
»Aber nein, jnädiger Herr, nein. Ick bin mir det ja sicher. Ick verstehe ooch davon keen Wort nich. Aber, da kommt mir nu een Gedanke,« fuhr sie etwas hoffnungsfreudiger fort. »Vielleicht hat man det Schloß in der Nacht injefett't, damit der Schlüssel keen' Lärm nich machen soll. Und als ick den Schlüssel heut früh injeführt habe, da is er schmutzig jeworden. Det habe ick jleich nich so bemerkt. Der jnädige Herr muß bedenken, daß ick jerade det Schreien vom jnädigen Fräulein jehört habe, wie ick ufjeschlossen habe, und da bin ick jleich so verrückt jeworden, daß ick an weiter jar nichts gedacht habe.«
Der Untersuchungsrichter sah sich den Schlüssel mit Dühms genau an, und da sie dieselben Oelspuren daselbst fanden wie an dem Schloß, folgerten sie, daß die einfache Einführung dieses Schlüssels in das Schloß denselben unmöglich derart hätte einfetten können. Gleichzeitig aber kamen sie überein, indem sie einen verständnisvollen Blick austauschten, daß sie jetzt nicht länger in die Aufwartefrau dringen könnten. Denn es war durchaus von Wichtigkeit, daß sie keine Ahnung habe, daß man sie irgendwie in dieser Sache verdächtigen könnte.
Bald darauf wurde auch sie entlassen.
Der Untersuchungsrichter durchlas dann das ärztliche Gutachten. Zum Schlusse desselben bemerkte der Gerichtsphysikus, daß die Hände des Mörders eine ganz eigentümliche Form haben müßten: lang, knochig und dazu von einer außergewöhnlichen Muskelkraft. Uebrigens sollten noch von den Fingereindrücken genaue Abdrücke gemacht werden.
Den nächsten Morgen ließ sich Dühms bei Salbach melden und hielt ihm einen längeren Rapport ab.
»Sie bleiben also dabei, daß es ihrer zwei gewesen sind?« fragte Herr von Salbach.
»Ich beharre um so mehr dabei, als nach dem Rapport meiner Beamten ein Kellner, der in der Destillation angestellt ist, in der Nacht vom 24. zum 25. März einen Mann unruhig und aufgeregt hat in der Güntzelstraße auf- und abgehen sehen, vor dem Neubau, der die Ecke der Uhlandstraße bildet.«
»Und hat sich ihm vielleicht eine andere Person später zugesellt?«
»Nein, nicht hier. Aber später sah man den, auf den die Beschreibung paßt, in Begleitung eines anderen Individuums in der noch nicht ausgebauten Straße, die von dem elektrischen Geleise durch leere Baustellen nach der Ludwigskirchstraße führt. Sie sehen also, daß er sich dem Schauplatz des Verbrechens nach und nach genähert hat.«
»Und auch jenem Hause oder vielmehr jener Straße, in der die Aufwartefrau wohnt,« bemerkte der Untersuchungsrichter. »Hat man sie vielleicht in jener Gegend, auf der anderen Seite des Ludwigskirchplatzes, bemerkt? Das wäre bezeichnend.«
»Nein. Darüber wurde mir nichts berichtet. Die Nachforschungen, die ich dort anstellen ließ, waren nur sehr oberflächlich und summarisch.«
Gleich darauf wurde der Rechtsanwalt Dr. Herbert gemeldet.
»Sagen Sie mir, Herr Doktor,« fragte Herr von Salbach, »bildete diese Summe von 530 000 Mark, die Sie Hauptmann Meinert eingehändigt hatten, das ganze Vermögen seines Bruders?«
»Das ganze.«
»Sie haben als Sequester alle Werte realisiert?«
»Es waren keine Werte vorhanden. Der Nachlaß bestand nur aus einem Haus, das zwangsweise verkauft worden ist. Diese 530 000 Mark bildeten den Preis für den Zwangsverkauf des Hauses.«
»Hatten mehrere Personen Ihrer Bekanntschaft davon Kenntnis, an welchem Tage Sie mit dem Hauptmann abrechnen würden?«
»Ich habe es niemand gesagt. Doch Herr Hauptmann Meinert konnte es jemand gesagt haben.«
»Hatte man in Ihrem Büro Kenntnis über den ganzen Prozeß?«
»Das jedenfalls.«
»Wäre es möglich, daß von dort aus irgendeine Indiskretion begangen wurde?«
»Das ist allerdings möglich, obzwar mir nichts darüber bekannt ist.«
»Denn nach meiner Ansicht,« versicherte der Untersuchungsrichter, »ist das Verbrechen seit langem schon geplant und reiflich überlegt worden.«
»Doch wie sollte man gewußt haben,« bemerkte der Rechtsanwalt, daß der Hauptmann das Geld, nachdem er es bei mir behoben hat, mit sich nach Hause in die Güntzelstraße nehmen würde? Es war viel eher anzunehmen, daß er es in irgendeiner Bank deponieren würde. Das war auch ursprünglich seine Absicht. Und wenn er dieselbe nicht ausgeführt hatte, lag der Grund lediglich darin, daß er zu spät von mir weggekommen ist.«
»Sagen Sie: Fräulein von Gordon hat doch alles getan, um das Vermögen zu erhalten und zu behalten, und sie mußte an dem Tage, an dem das Gericht seinen letzten, definitiven Urteilsspruch fällte, eine grausame Enttäuschung empfunden haben. Geben Sie mir doch, verehrter Herr Doktor, einige nähere Angaben über die besagte Person.«
»Jeder Berliner Lebemann, den Sie über Rosa von Gordon befragen würden, wird Ihnen zur Antwort geben, daß sie eine Varietékünstlerin von sehr zweifelhaftem Ruf ist,« erwiderte der Rechtsanwalt.
»Ist man da nicht im Irrtum?« fragte der Untersuchungsrichter.
»Nicht so ganz. Sie war einmal etwa vierzehn Tage lang im Wintergarten aufgetreten, und da sie über keine Mittel verfügte, deren Ursprung bekannt wäre, da sie sich in der Gesellschaft gewisser Lebemänner bewegt und außerordentlich gut lebt, so schließt man daraus ziemlich folgerichtig, daß eine oder mehrere Personen die Ausgaben für den Aufwand der Künstlerin bestreiten.«
»Und Sie zweifeln daran?«
»Ich kann nicht gerade sagen, daß ich daran zweifle; ich möchte bloß sagen, daß ich nichts Genaueres darüber weiß. Denn bisher hat man niemals mit Bestimmtheit irgendeinen Namen eines ihrer Geliebten oder ihrer Beschützer nennen können. Wollen Sie bemerken, Herr Richter, daß gerade ich ein großes Interesse daran hatte, in bezug auf diese junge Dame vollkommen genau orientiert zu sein. Ich hegte großes Interesse für ihren Gegner, den Hauptmann; ich wünschte lebhaft, was ich auch absolut nicht verheimlichte, daß das Vermögen meines früheren Klienten, des Herrn Julius Meinert, an seine natürlichen Erben übergehe, also in den Besitz dieses so tadellos anständigen Bruders und des so außerordentlich sympathischen Mädchens, gelange. Und als das Reichsgericht die nochmalige Revision des Prozesses anordnete, tat ich mein Möglichstes, um dem Hauptmann in jeder Hinsicht dienlich zu sein. Ich hatte also alles Interesse, gegen Fräulein Rosa von Gordon irgend etwas Nachteiliges zu entdecken, und habe deshalb alle Hebel in Bewegung gesetzt, etwas zu erfahren. Ich habe bei all meinen anderen Klienten, die sich meist aus der großen und aus der Lebewelt zusammensetzen, über sie Erkundigungen eingezogen, da sie so ziemlich über alle Personen orientiert sind, welche in jener Welt leben und von sich reden machen.«
»Und Sie haben nichts weiter erfahren?«
»Nichts Positives.«
»Wie erklärt man sich also ihr ganzes Auftreten und den relativen Luxus, mit dem sich diese Frau umgibt?«
»Man erklärt ihn sich überhaupt gar nicht. Rosa von Gordon ist den meisten geradezu ein Rätsel, allerdings ein Rätsel, über das sich der Berliner vielleicht acht Tage lang den Kopf zerbricht und das er dann zu erraten aufgibt, da ihm das Ergründen desselben zu langweilig wird und er an andere Sachen zu denken hat, die ihm näher liegen und die »en vogue« sind.
»So will ich es denn übernehmen, dieses Rätsel zu lösen,« entschloß sich Herr von Salbach, »da heute die Lösung dieses Rätsels für uns von einer gewissen Wichtigkeit sein könnte.«
»Das ist leicht möglich,« erwiderte der Rechtsanwalt nach einer kurzen Pause.
»Bitte, sagen Sie mir noch, woher eigentlich diese bewußte Dame stammt,« fragte der Untersuchungsrichter weiter. »Woher kommt sie? Wo ist sie geboren? Was waren ihre Eltern? Sie müssen das besser wissen, als irgendein anderer, da Sie notwendigerweise alle ihre Papiere in Händen gehabt haben müssen.«
»Aus diesen geht hervor,« erwiderte Doktor Herbert, »daß sie in Agram in Kroatien geboren ist. Ihre Mutter war eine Italienerin und ihr Vater ein Triestiner, namens Calmus, angeblich Reisender, wie der Geburtsschein angibt!«
»Und existieren dieser Vater und diese Mutter noch?«
»Die Mutter ist tot. Ich hatte ihren Totenschein kürzlich in meinem Büro; ich glaube, ich muß ihn noch haben. Was den Vater anbelangt, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Nach Aussage der Rosa Calmus und laut der Auskünfte, die mir die Botschaft gegeben hat, soll er vor einigen Jahren Wien plötzlich verlassen haben, infolge von schlechten Geschäften, und seitdem weiß man nichts mehr von dem guten Mann.«
»Und wie und weshalb kam Rosa von Gordon dazu, sich gerade in Deutschland niederzulassen?«
»Eine reiche Wiener Familie, welche auf ihrer Durchreise damals Triest berührte, hatte sich ihrer angenommen und sie als Gesellschafterin engagiert. Mit dieser Familie, welche von den eleganten Manieren der jungen Dame vollkommen entzückt war, kam sie auch nach Berlin, wo sie blieb, um eines schönen Tages auf der Variétébühne unter dem Namen Rosa von Gordon zu debütieren. In plastischer Hinsicht war ihr Debüt eines der glänzendsten; denn man konnte nicht so leicht einen originelleren Kopf, eine schönere und imposantere Gestalt als die der genannten Dame sehen. Dazu kam eine Art von Feenkostüm … na, ich weiß nicht, ob man das überhaupt noch ein Kostüm nennen konnte.«
»Ach so, es war also eher eine Ausstellung als ein Debüt,« bemerkte Herr von Salbach lächelnd.
»Ganz recht. Vierzehn Tage lang ließ sie sich als Fee bewundern, trotzdem ihre Stimme absolut nichts wert war; und nachdem das elegante Berlin und die Fremden zur Genüge konstatiert hatten, daß sie jung, schön, wundervoll gebaut, so verführerisch wie möglich sei, zog sie sich ins Privatleben zurück. Und dieses Privatleben, wie ich Ihnen bereits bemerkte, kennt man eben nur ziemlich ungenau.«
»Und zu dieser Zeit war es wohl auch, daß sie die Bekanntschaft des Herrn Julius Meinert machte?«
»Ja, beiläufig um diese Zeit. Nachdem der Herr vierzig Jahre lang gearbeitet und sich ein Vermögen erworben hatte, wollte er nun im Alter die Zeit wieder einholen, die er der Arbeit gewidmet hatte, dieselbe fürderhin nur seinem Vergnügen und seinen Passionen widmend; er besuchte nämlich die Variétés, soupierte spät und meist in vornehmen Restaurants, die berühmte chambres separees hatten. Ich hatte ihm wiederholt bezüglich seines Lebens Vorstellungen gemacht. Eines Tages jedoch hatte ich ihm keinen Vorwurf mehr zu machen; denn er hatte sich ›rangiert‹, wie er sagte.«
»Ach so; rangiert an der Seite von Fräulein von Gordon?« fragte lächelnd der Untersuchungsrichter.
»Leider erfuhr ich die Geschichte etwas zu spät.«
»Wieso? Hatten Sie denn von dieser Liaison keine Kenntnis gehabt, so lange sie dauerte?«
»Absolut keine. Wenn ich davon Kenntnis gehabt hätte, so würde ich jedenfalls meinem alten Klienten ernstliche Vorstellungen gemacht haben und insbesondere seinem Bruder, dem Hauptmann, dringend geraten haben, seinem Bruder Julius etwas mehr zu mißtrauen. Denn der gute Hauptmann war ahnungslos wie ein neugeborenes Kind.«
»Sobald aber Rosa von Gordon wegen des Testaments in Ihr Büro kam, konnten Sie doch Ihr Erstaunen darüber, daß sie zum Schaden der natürlichen Erben Universalerbin geworden war, nicht verhehlen?«
»Ich habe ihr auch weder mein Erstaunen noch mein Bedauern verhehlt und ihr offen erklärt, daß ich darüber empört sei.«
»Und was hat sie Ihnen darauf geantwortet?«
»Daß sie ebenso erstaunt sei wie ich und daß sie alles eher erwartet hätte, als sich derart von dem Verstorbenen begünstigt zu sehen.«
»Sie hat also ihre Beziehungen zu Julius Meinert nicht in Abrede gestellt?«
»Ihre freundschaftlichen Beziehungen – nein. Dafür desto hartnäckiger jedes intimere Verhältnis.«
»Und Sie haben dies geglaubt?«
»Herr von Salbach, ich habe so vieles in meinem Leben gesehen, daß ich nichts absolut glaube und auch nichts absolut bezweifle.«
»Sie würden also annehmen, daß man sein ganzes Vermögen einer beinahe fremden Person hinterläßt?«
»O, was Testamente anbelangt, glaube ich alles. Es gibt keinen für Ueberraschungen fruchtbareren Boden als Testamente. Aber, um auf den speziellen Fall zurückzukommen, will ich Ihnen noch sagen, daß das eigenhändig geschriebene Testament durchaus klar und präzisiert, und daß es vielleicht in einem Augenblick aufflackernder Leidenschaft geschrieben war, vielleicht gerade zu dem Zweck, einen langen Widerstand endlich zu besiegen. Julius Meinert konnte an diesem Testament die Größe seiner Liebe bekunden und hoffte vielleicht, dafür belohnt zu werden. Es ist gar nicht unmöglich, daß er, nachdem er seine Belohnung erhalten hätte, das Testament wieder ruhig umgestoßen und die Universalerbschaft in ein einfaches Legat verwandelt haben würde.«
»Und da er das Testament nicht geändert hat, so sind Sie der Meinung, daß er immer noch hoffte?«
»Oder, daß er auf einen so raschen Tod nicht vorbereitet war. Er hat ihn vielleicht gerade in dem Moment überrascht, als er das Schriftstück, welches er niemals ernst genommen hat, umstoßen wollte.«
»Und dieser Tod war plötzlich eingetreten?«
»Ja.«
»Und man war darüber nicht verwundert?«
»Nein. Julius Meinert war etwas apoplektisch, und das Leben, das er führte und das so plötzlich auf ein durchaus geregeltes Leben gefolgt war, mußte früher oder später ein solches Ende nehmen.«
»Und dieses selbstgeschriebene Testament hat Ihnen niemals irgend einen Verdacht eingeflößt? Sie kamen niemals auf den Gedanken, daß dasselbe vielleicht von einer anderen Hand geschrieben sein könnte?«
»Im Gegenteil, auch ich kam auf den Gedanken ebenso wie der verstorbene Hauptmann. Und auch die Schriftsachverständigen, die wir in dieser Sache zu Rate gezogen haben, äußerten dies Bedenken. Aber schließlich waren wir alle gezwungen, anzuerkennen, daß dies die Schrift des Verstorbenen wirklich war.«
»Noch ein letztes Wort, lieber Doktor. Während die Sache in Leipzig schwebte, wie und auf welche Art lebte da jene bewußte Rosa von Gordon?«
»Genau so wie früher, inmitten einer Gesellschaft von hochgeborenen und äußerst angesehenen Leuten. Sie fuhr täglich in ihrer Equipage im Tiergarten spazieren und galt als die ziemlich unbestritten schönste Vertreterin der Dreiviertelwelt, welche sie, was Schönheit anbelangt, meilenweit schlägt. Eigentlich rangiert sie auch nicht recht in diese Kategorie von Frauen. Sie gehört zu jenem Typus von Frauen, wie sie jede Großstadt in höchstens zehn bis zwölf Exemplaren aufweist.«
»Haben Sie sie, seitdem sie den Prozeß verloren hat, wieder einmal gesehen?«
»Jawohl. Ich war genötigt, sie einige Aktenstücke unterschreiben zu lassen.«
»Und wie war ihre Haltung?«
»Vornehm und so gefaßt wie irgend möglich.«
»Ich glaube nicht an so viel Fassung,« versicherte der Untersuchungsrichter sich erhebend, wodurch er Doktor Herbert andeuten wollte, daß die Unterredung beendet sei. »Wir werden darauf noch zurückkommen müssen.«
Sobald sich der Rechtsanwalt entfernt hatte, begab sich der Untersuchungsrichter sofort nach Wilmersdorf, um Fräulein Meinert seinen Besuch abzustatten.
Toni befand sich augenblicklich nicht in diesem Zimmer, das der Untersuchungsrichter eben betreten hatte, so daß derselbe sie im kleinen Zimmer aufsuchen mußte, wo sie an der Seite der kleinen, schluchzenden Lulu saß.
Nach der ersten Begrüßung fragte er sie, ob sie in der Lage wäre, ihm einige Fragen zu beantworten, was Toni bejahte.
»Sie hatten dem Doktor gegenüber geäußert, daß Sie gegen jemand in dieser Mordsache einen Verdacht hegten?«
Toni ließ den Kopf sinken und schwieg.
»Ich bitte, darauf zu antworten,« mahnte der Richter.
Da sie abermals schwieg, fügte er hinzu:
»Sollten Sie indessen anderer Ansicht geworden sein? Haben Sie vielleicht diesen Verdacht aufgegeben? Beruhigen Sie sich, mein verehrtes Fräulein; Sie werden nur diejenigen bloßstellen, welche bloßgestellt werden müssen; ich werde vollkommen mit Ihrem Zustande begreiflicher Erregung rechnen, in dem Sie sich damals befanden … Mir wurde mitgeteilt, daß Sie von einem Menschen sprechen wollten, der sich vor drei Tagen hier eingefunden hatte.«
»Allerdings,« erwiderte sie leise.
»Heute ist der 26. Es handelt sich um den 23.« Sie nickte zustimmend.
»Und Ihr Vater war gerade abwesend?«
»Ja. Er war wie gewöhnlich nach dem zweiten Frühstück ausgegangen.«
»Und wie kam jener Fremde in das Haus herein?«
»Er hatte an der Gartenpforte, welche ich sonst immer abschließe, geklingelt, als ich mich mit der Aufwartefrau allein befand.«
»Und da hat sie auf das Klingeln geöffnet und den Fremden hier ins Haus geführt?«
»Das heißt, der Mensch ist von selbst hier hereingekommen. Da ich glaubte, es wäre mein Vater, eilte ich ins Treppenhaus und bemerkte da einen Fremden, welcher eben die letzte Stufe heraufkam. Im ersten Moment furchtbar erschrocken, fragte ich ihn, wer er sei und was er wolle. Er erwiderte, daß er Papa sprechen möchte. Ich sagte ihm, daß Papa nicht zu Hause sei, worauf die Aufwartefrau heraufkam und mich um Entschuldigung bat: der Herr hätte sie gebeten, auf den gnädigen Herrn im Salon warten zu dürfen. Ich ließ ihn also in den Salon eintreten und daselbst warten – hier, wo wir uns gegenwärtig befinden.«
»Und Sie sind mit ihm im Salon geblieben?«
»Nein, ich ließ ihn allein hier. Ich ging in den Garten hinab, weil mir der Mensch unheimlich war.«
»Und wie lange ist er hier geblieben?«
»Wohl eine gute Viertelstunde. Er kam dann von selbst herunter und sagte mir im Garten, daß es ihm leid täte, er könnte nicht länger warten und wollte in den nächsten Tagen wiederkommen.«
»Erinnern Sie sich vielleicht an die Züge jenes Menschen?«
»Nicht deutlich genug, daß ich Ihnen dieselben beschreiben könnte, Herr Rat. Und doch, wenn ich ihn sehen würde, bin ich der festen Ueberzeugung, daß ich ihn sofort erkennen würde.«
»Und sein unheimlicher Gesichtsausdruck hat Sie geängstigt?«
Sie dachte einen Augenblick nach und erwiderte dann: »Nicht gerade sein böses Gesicht. Er hatte zwar im ganzen etwas Falsches, Bösartiges an sich. Er sah mich an wie jemand, dem wir Haß einflößen. Gerade dieser Ausdruck des Hasses hat mich so an ihm frappiert.«
»Sind Ihnen vielleicht die Hände jenes Mannes aufgefallen?«
Toni erschauerte unwillkürlich, und das Blut wich aus ihren Wangen. Aber sofort hatte sie diese Anwandlung unterdrückt und antwortete ruhig und gefaßt: »Allerdings. Sie sind mir ziemlich genau in Erinnerung; ich habe noch nie so auffallend große, kräftige, geradezu muskulöse Hände mit solch langen Fingern gesehen.« Doch kaum hatte sie diese Erklärung abgegeben, als sie die Augen schloß und eine leichte Ohnmacht zu überwinden hatte.
Herr v. Salbach überließ Toni der Obhut ihrer Freundin Lulu und begab sich nach Moabit zurück.
Daselbst fand er bereits den Kriminalwachtmeister vor, der ihn seit einigen Augenblicken erwartete. Dühms machte sofort dem Untersuchungsrichter von seinen im Laufe des Tages eingezogenen Erkundigungen Mitteilung.
Ein Taxameterkutscher, der von dem Falle durch die Zeitung Kenntnis erlangt hatte, hatte sich sofort auf dem Polizeipräsidium gemeldet und ausgesagt, daß er am 23. März gegen 11 Uhr vormittags einen Fahrgast bis an die Uhlandstraße, Ecke Ludwigskirchstraße, gefahren habe. Daselbst wäre der Mann ausgestiegen und hätte ihn mit den Worten bezahlt: »Ich will Sie lieber hier bezahlen, denn ihr Droschkenkutscher seid mir außerhalb des Berliner Rayons zu teuer; doch bleibt mir noch ein ganzes Ende, da hinaus zu laufen.«
Der Droschkenkutscher hätte diesen Worten absolut keine Wichtigkeit beigemessen, wenn er nicht gleich darauf Gelegenheit gehabt hätte, zu konstatieren, daß diese Worte einfach erlogen waren. Er habe in einer nahegelegenen Destillation ein Glas Bier getrunken und bald darauf bemerkt, wie sein Fahrgast aus der Uhlandstraße wieder in die Ludwigskirchstraße einbog und zurückkam. Jedenfalls war dem Fahrgast daran gelegen, dem Kutscher eine andere Angabe zu machen und ihn über das Endziel seines Ganges zu täuschen; denn er habe dann beobachtet, wie der Fremde jenem Hause in der Güntzelstraße zuschritt, in dem das Verbrechen begangen wurde. Die von dem Droschkenkutscher gegebene Beschreibung jenes Mannes deckte sich vollkommen mit den anderen Angaben.
»Jedenfalls hat die Sache seit gestern immerhin eine gewisse Form angenommen,« bemerkte der Untersuchungsrichter. »Allerdings sind wir noch weit davon entfernt, den Mörder zu haben; wir wissen weder seinen Namen, noch wer er ist, aber wir kennen doch zum Teil seine Physiognomie. Nach und nach wird uns sein Schattenriß immer deutlicher, bis er wie lebend vor uns steht. Sie haben jedenfalls nicht versäumt, diese annähernde Beschreibung sämtlichen Polizeikommissaren von Berlin zu übermitteln?«
»Gewiß, Herr Rat. Ich habe sogar Depeschen an unsere sämtlichen bedeutenden Hafenstädte und an die größeren Grenzstationen abgehen lassen. Ein so gerissener Kunde setzt sich nicht der Gefahr aus, auf den großen Verkehrswegen abgefaßt zu werden, wo er sich doch immer mehr oder weniger mit offenem Visier sehen lassen muß, während man sich in einem Berliner Schlupfwinkel doch immer am allerbequemsten und sichersten verbergen kann.«
»Da bin ich vollkommen Ihrer Ansicht. Was ist aber mit dem anderen? Denn Sie behaupten doch, daß es zwei gewesen sind?«
»Auch von dem habe ich einiges erfahren: Ein Einwohner von Wilmersdorf, welcher gegen zehn Uhr abends nach Hause ging, begegnete der Frau Müller, wie die Aufwärterin des Hauptmanns Meinert heißt, bei dem großen Neubau an der Ecke, bei der Kreuzung der Güntzelstraße und der Ludwigskirchstraße. Er hat sie bestimmt erkannt, weil sie früher auch bei ihm im Dienst gewesen war. Gerade als er ihr begegnete, war in der Begleitung der Frau Müller ein Individuum, das lebhaft auf sie einsprach. Bald darauf waren beide in der Dunkelheit verschwunden.«
»Und Sie schließen daraus?«
»Daß dies unser zweites Individuum ist, dessen Fußstapfen ich im Garten entdeckt habe, der Helfershelfer des anderen, und der den Auftrag hatte, der Aufwartefrau Meinerts, sobald sie das Haus verließ, aufzulauern, ihr zu folgen und sich auf irgend welche Weise den Schlüssel zu verschaffen. Er soll ein Mann von etwa fünfzig Jahren gewesen sein, mit sehr ausdrucksvollem Blick, sehr lebhaft, von mittlerer Größe, ziemlich schlank, und mit etwas abfallenden, schmalen Schultern. Er hatte ziemlich langes Haar, Vollbart, trug einen Arbeitskittel, eine dunkle Hose und hatte einen Schlapphut auf. Uebrigens ist diese Beschreibung völlig konform mit der, welche uns von dem Kellner der Destillation gemacht wurde.«
»Nicht wahr. Sie lassen diese Frau Müller observieren?«
»Natürlich, Herr Rat. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, habe ich meine besten Beamten dazu verwendet.«
»Ebenso wichtig ist es, jene Rosa von Gordon nicht aus den Augen zu lassen und herauszubekommen, ob einer der gekennzeichneten Männer sie besucht oder irgendwie mit ihr in Verbindung steht. Lassen Sie uns demnach ein jeder in seiner Richtung vorgehen und die Dame beobachten. Am besten durch einen weiblichen Detektiv. Mag sie z. B. als Dienstmädchen in den Dienst dieser Gordon treten. Versäumen wir es aber nicht, uns so oft wie möglich zu sprechen und uns sofort alles mitzuteilen, so Geringfügiges wir auch in der Sache entdeckt haben mögen.«