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6. Kapitel.

[Ab hier fehlerhafte Kapitelnumerierung korrigiert. Re. Für Gutenberg]

Toni Meinert hatte sich, so schwer es ihr auch wurde, schließlich doch entschlossen, mit dem kleinen Rest des Vermögens zu ihrer Freundin Lulu Romanowski zu ziehen. Außer einem Bild ihrer verstorbenen Mutter und außer einigen Photographien ihres verstorbenen Vaters konnte sie nichts in ihr neues Heim hinüberretten, weil sämtliche Papiere und Schriften ihres Vaters sowie dessen Arbeiten vom Gericht mit Beschlag belegt waren.

Außer einem entfernten Vetter Konrad Arnheim, der sich in den deutschen Kolonien im Bismarckarchipel, namentlich auf Jaluit, eine glänzende kaufmännische Position erworben hatte, besaß sie keine Verwandten. Sie wußte, daß Konrad ein erklärter Liebling ihres Vaters gewesen war, ein Mann, auf den man sich in jeder Hinsicht blindlings verlassen konnte und zu dem sie eine gewisse Sympathie hinzog.

Inzwischen aber mußte sie doch leben; und sowohl ihre Mittel als auch die der armen Lulu waren so gut wie erschöpft.

Die letztere erinnerte sich an die wohlwollenden Worte des Rechtsanwalts Doktor Herbert, daß Toni sich vertrauensvoll an ihn wenden möge, falls sie sich in Verlegenheit befände, daß er alles tun wollte, damit der armen Waise nichts fehle.

Eines Tages begaben sich denn die beiden Frauen, beide in tiefe Trauer gekleidet, in die Wohnung des Rechtsanwalts.

Jagows Verhalten dem Hauptmann Meinert gegenüber hatte den Rechtsanwalt veranlaßt, jenem ein anderes Zimmer anzuweisen und den Empfang seiner Klienten einem andern Schreiber anzuvertrauen, um eine zweite Ungeschicklichkeit wie damals zu vermeiden.

Sobald Dr. Herbert einen Blick auf die Visitenkarten geworfen hatte, eilte er den Damen rasch entgegen und bat sie in der herzlichsten Meise, in sein Zimmer einzutreten.

»Ich wollte schon alle diese Tage bei Ihnen vorsprechen; leider kam mir immer etwas dazwischen. Um so mehr freut es mich, daß Sie den Weg hierher gefunden haben, und ich danke Ihnen dafür. Stellen Sie sich vor, ich wäre ein Verwandter von Ihnen, ein alter, alter Freund – wie man hier in Berlin so sagt: ein Onkel. – Darum eröffnen Sie mir Ihr Herz und sagen Sie mir, was für Pläne, Absichten und Aussichten Sie haben.«

Darauf wandte er sich an Lulu Romanowski mit den Worten: »Haben Sie schon für Ihre junge Freundin nachgedacht, ob sie nicht irgendwelchen Unterricht erteilen könnte? Vielleicht in Musik oder in Sprachen? Ich will sie gern empfehlen. Das furchtbare Schicksal hat bei vielen meiner Freunde Teilnahme erweckt, so daß man sich außerordentlich für sie interessiert.«

»Das schon, Herr Doktor; ich glaube, daß sie ganz gut Klavierstunden geben könnte … Aber ist es denn wirklich schon so weit? Muß man denn für immer die Hoffnung aufgeben, die gestohlene Summe wiederzufinden?«

»Nein, nein, gewiß nicht,« erwiderte Dr. Herbert, »noch ist nichts verloren. Aber man muß alles voraussehen. Jede Zukunft ist mehr oder weniger ungewiß. Ich würde an Ihrer Stelle so handeln, als wenn Sie nichts mehr zu erwarten hätten, weder von den Menschen, noch von dem Zufall. Verlassen Sie sich nur auf sich selbst. Habe ich nicht recht?« wandte er sich fragend an Toni, ihre Hand ergreifend.

»Ich glaube, der Rat ist nicht schlecht,« fuhr er fort. »Allerdings ist einem mit gutem Rat allein nicht gedient. Bitte, nehmen Sie einstweilen diese zweitausend Mark. Sie werden mir diese dann zurückgeben, wenn Sie selbst Ihren Lebensunterhalt verdienen. Und wenn Sie ihn nicht verdienen, na, dann sehen Sie es eben als eine kleine Summe an, die ich Ihnen von dem Honorar zurückgebe, welches mir Ihr Herr Vater gegeben hat. Ich tue nur das, was auch Ihr Herr Vater meiner Tochter gegenüber getan hätte, wenn sie in gleicher Lage wäre …«

»Wie soll ich Ihnen danken, Herr Doktor!« flüsterte Toni, indes ihre Tränen von neuem flossen.

Eben als sie die zweitausend Mark in ihr total verwaistes Portemonnaie steckte, klopfte es an die Tür.

»Herein!«

Jagow erschien in der Türe. Er glaubte, den Rechtsanwalt allein anzutreffen; denn sobald er die beiden Damen bemerkte, wollte er sich wieder zurückziehen.

Er zögerte einen Augenblick; da er jedoch sah, wie ihn Herbert verwundert anblickte, entschloß er sich, weiter in das Zimmer zu treten.

Kaum hatte er einige Schritte gemacht, als Toni Meinert mit entsetzten Augen in die Höhe sprang, in die Ecke des Zimmers flüchtete und auf Jagow mit dem Ausruf wies:

»Das ist er! Das ist er!«

Dr. Herbert sprang auf und verfolgte hochverwundert den halb irrsinnigen Blick des jungen Mädchens, der immer noch auf Jagow haftete. Dieser jedoch richtete einen erstaunten Blick auf Herbert, der Tonis Hände ergriff, immer noch in der Angst, als könnte er es mit einer Irrsinnigen zu tun haben.

Sobald sich Dr. Herbert von seiner Verwunderung erholt hatte, wandte er sich an Toni:

»Was meinen Sie damit, liebes Fräulein? Auf wen beziehen sich Ihre Worte? Auf meinen Schreiber?«

»Ja,« hauchte Toni, am ganzen Körper zitternd.

»Soll das eine Anklage sein, die Sie gegen meinen Beamten erheben?« Toni gab keine Antwort.

»Jawohl, ich habe ihn gesehen,« erwiderte sie endlich, wieder vollkommen Herrin ihrer selbst. »Zwei Tage vor dem Tode meines Vaters. Er ist es, der bei uns gewesen ist, als ich mit unserer Aufwartefrau allein zu Hause war. Er ist es, der mich damals so furchtbar erschreckt hat.«

»O, wenn ich das gewußt hätte,« erwiderte Jagow im natürlichsten Tone, indem er sie unterbrach. »Ich bin wirklich verzweifelt, mein Fräulein!«

»Sie geben also zu, daß Sie zu jener Zeit im Hause des Hauptmanns gewesen sind?« fiel ihm Herbert rasch ins Wort.

»Aber gewiß, Herr Rechtsanwalt. Warum denn nicht? Ich bin sogar über eine Viertelstunde bei dem Fräulein gewesen und hatte die Ehre, mich mit dem Fräulein im Hause selbst zu unterhalten.«

»Und was hatten Sie bei Fräulein Meinert zu suchen? Habe ich Sie dahingeschickt?«

»Nein, Herr Rechtsanwalt. Ich ging nur aus persönlichen Gründen hin.«

»Aus persönlichen Gründen? Was soll das heißen?«

»Gott, das ist ganz einfach, Herr Rechtsanwalt. Hauptmann Meinert ist ziemlich oft hierher gekommen, und da hatte ich eben Gelegenheit, mich öfter mit Herrn Hauptmann zu unterhalten. So hatte er Mir damals auch mitgeteilt, daß er, wenn er den Prozeß gewinnen würde, aus der Güntzelstraße ausziehen wollte, um nach dem Westen zu ziehen. Und da ich gerade eine Wohnung suchte, die ziemlich abseits von dem Geräusch der Großstadt lag, ein kleines Haus mit einem Garten, hatte ich dem Herrn Hauptmann mitgeteilt, daß ich mir seine Wohnung ansehen wollte; und so bin ich hingegangen.«

»Es ist gut,« sagte der Rechtsanwalt, sich an seinen Schreiber wendend.

Jagow verbeugte sich vor den beiden Damen und entfernte sich gemessenen Schrittes.

Sobald sich jedoch hinter ihm die Türe geschlossen hatte, rief Dr. Herbert einen seiner Angestellten herein und sagte:

»Ach, ich bitte Sie, lieber Herford, geben Sie doch acht, daß sich Herr Jagow nicht aus dem Büro entfernt, unter keinem Vorwand … Sollte er Miene machen, gehen zu wollen, so benachrichtigen Sie mich sofort … Aber reden Sie nicht darüber. Ich möchte nicht einen meiner Angestellten kompromittieren, ehe ich mich nicht genau über ihn informiert habe.«

»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Rechtsanwalt,« erwiderte der junge Mann.

Jagow indes dachte gar nicht daran, sich zu entfernen; denn gleich darauf konnte man durch die angelehnte Tür sehen, wie Jagow wieder vor seinem Pult saß und ruhig weiterarbeitete, als ob nicht das geringste passiert wäre.

Sobald Dr. Herbert wieder in seinem Schreibzimmer war, ging er rasch auf Toni Meinert zu und sagte:

»Nun erklären Sie sich deutlicher, mein liebes Kind! Als Sie beim Eintritt meines Schreibers mit solcher Energie ausriefen: ›Das ist er!‹, da wollten Sie nicht nur damit sagen: ›Das ist der Mann, welcher in Abwesenheit meines Vaters zu uns gekommen ist,‹ sondern Sie hatten auch noch einen anderen Gedanken.«

»Nun ja denn,« ermannte sich Toni. »Ich dachte an den Mörder. Aber sagen Sie es nicht, Herr Rechtsanwalt! Ich bitte Sie, sagen Sie es niemand … Ich habe nicht das Recht, derart eine Person anzuklagen.«

»Aber war dies nicht ein plötzlicher Gedanke, ein völlig neuer, der Ihnen jetzt eben auftauchte?«

»Nein, nein, am Tage der Ermordung habe ich schon mit dem Gerichtsarzt darüber gesprochen und mich auch später zu dem Untersuchungsrichter dahin geäußert; aber diesem gegenüber lange nicht mehr so wie hier zuerst … Heute war ich nicht mehr Herrin meiner selbst … Als ich diesen Mann wiedersah und er so plötzlich vor mir stand, war es, als ob eine geheime Gewalt mich gezwungen hätte, auszurufen: ›Das ist er!‹«

Dr. Herbert erhob sich. Fräulein Romanowski sah ein, daß es Zeit sei, sich zurückzuziehen, und wollte Toni mit sich nehmen.

Sie ließ es willenlos geschehen; doch bei der Tür angekommen, rief sie plötzlich und angstvoll:

»Also, Herr Doktor, der Mann wird in Ihrem Büro bleiben, nicht wahr? Sie werden von meinem Verdacht dem Untersuchungsrichter nichts sagen?«

»Sie haben mich gebeten, zu schweigen, indem Sie sehr wohl die Gefahr erkennen, welche Ihre Worte nach sich ziehen könnten. Und so werde ich schweigen.«

Nachdem er die beiden Damen bis zur Tür begleitet hatte, suchte Dr. Herbert den jungen Schreiber auf, den er mit der Ueberwachung Jagows betraut hatte, und fragte ihn, ob es etwas neues gäbe.

»Ich verliere ihn nicht aus den Augen, Herr Rechtsanwalt,« erwiderte der junge Mann. »Er hat seinen Platz nicht verlassen.«

»Diese Regungslosigkeit und Kaltblütigkeit erscheinen mir zu übertrieben, als daß sie natürlich sein könnten,« dachte Dr. Herbert bei sich.

Darauf wandte er sich an den Schreiber und sagte:

»Ich gehe für einige Augenblicke fort. Bitte, überwachen Sie ihn weiter. Falls sich Jagow irgendwie entfernen möchte, so halten Sie ihn unter einem Vorwand fest. Sollte er doch weggehen, so begleiten Sie ihn und lassen ihm noch einen anderen folgen, damit wir ihn nicht aus den Augen verlieren.«

»Sehr wohl, Herr Rechtsanwalt,« erwiderte der junge Mann.

Dr. Herbert fuhr direkt hinaus zum Untersuchungsrichter, teilte ihm den Vorfall mit und schloß mit folgenden Worten: »Ich hielt es für meine Pflicht, Herr Rat, Ihnen diese Mitteilung zu machen. Ich bitte aber, darin nicht etwa eine Beschuldigung meinerseits zu sehen. In Wirklichkeit hat Fräulein Meinert in Jagow nur den Besuch vom 22. März wiedererkannt. Das ist die Tatsache. Was das andere betrifft …«

Herr von Salbach unterbrach ihn:

»Verzeihen Sie, Herr Doktor. – Für Sie mag Jagow ein bloßer Besuch gewesen sein. Für mich ist er viel mehr. Und Sie werden das sofort erkennen. Die ziemlich genaue Beschreibung, die Fräulein Meinert seinerzeit über jenen Mann gemacht hat, und die Beschreibung, die Sie mir jetzt von Jagow geben, sind vollkommen übereinstimmend mit zwei anderen Signalements, welche ich inzwischen erhalten habe. Sie sehen also, daß Ihre Aussage eine große Wichtigkeit hat. Es handelt sich hier nicht nur um einen mehr oder weniger aufzuklärenden Besuch oder um einen Traum eines vielleicht etwas hysterischen Mädchens … Ich werde sofort meine Maßregeln treffen, daß uns der Schreiber nicht entwischt.«

Er klingelte und beauftragte einen Gerichtsdiener, nach dem Polizeipräsidium zu telephonieren, ob Wachtmeister Dühms anwesend wäre. Wenn ja, so ließe er ihn bitten, sich sofort zu ihm zu bemühen. Nachdem er diesen Auftrag erteilt hatte, wandte sich der Untersuchungsrichter wieder an Doktor Herbert:

»Inzwischen, bis Dühms hier ist, wollen wir uns etwas über Ihren Schreiber Jagow unterhalten. Soviel ich weiß, ist er vier Jahre bei Ihnen … Ist er ein fleißiger Angestellter?«

»Jawohl, das ist er. Er ist pünktlich und arbeitsam.«

»Haben Sie nie etwas Besonderes an ihm bemerkt?«

»Gott, gefallen hat er mir nie so recht. Seine Physiognomie, wenn man so sagen kann, war mir unangenehm. Aber das ist auch alles. Und das ist nicht viel.«

»Das ist immerhin etwas. Bergessen Sie nicht, daß der heutige Vorfall auch auf einem ähnlichen Eindruck, den Fräulein Meinert empfunden hatte, basiert. Aber strengen Sie sich, bitte, etwas an und erinnern Sie sich, ob in Ihrem Büro selbst nicht irgend etwas passiert ist, seitdem Jagow bei Ihnen angestellt ist.«

»Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Einige wichtige Aktenstücke, die er in Händen gehabt hat, und die eine zeitlang verschwunden waren, hatten sich wiedergefunden. Auch heute suchte ich ein äußerst wichtiges Aktenstück, ein Urteil über eine ziemlich hochgestellte Person, in das ich Einsicht nehmen wollte. Aber ebenso dürfte sich auch dieses Aktenstück wiederfinden, wie die anderen.«

»Das Verschwinden wichtiger Aktenstücke, wenn auch nur auf Momente, erscheint mir doch ziemlich ungewöhnlich und ungehörig, und ich will mir das ad notam nehmen. Gehen wir aber zu etwas anderem über. Hat Jagow gewußt, daß Hauptmann Meinert eine ansehnliche Geldsumme aus Ihren Händen empfangen hat?«

»Allerdings wußte er das, und er macht auch gar kein Hehl daraus; denn er erklärt, daß der Hauptmann oft mit ihm über seine Angelegenheit gesprochen hat in der Zeit, während er auf mich warten mußte.«

»Wir hatten uns doch damals darüber gewundert, daß der Hauptmann, anstatt das Geld sofort in einer Bank zu deponieren, diese große Summe mit sich nach Wilmersdorf genommen hat.«

»Jawohl, ich erinnere mich. Aber ich habe Ihnen auch mitgeteilt, daß zu jener Zeit, als er mich verließ, bereits sämtliche Banken geschlossen waren.«

»Und hatten Sie das nicht vorausgesehen? Hatten Sie sich nicht gedacht, daß es vorsichtiger wäre, Ihren Klienten nicht so lange bei sich zurückzubehalten oder ihn früher zu empfangen, damit er die Summe noch an demselben Tage deponieren könnte?«

»Allerdings habe ich daran gedacht,« erwiderte Doktor Herbert lebhaft. »Deshalb habe ich mich pünktlich mit ihm um drei Uhr verabredet, damit er wenigstens noch eine Stunde dafür übrig hatte.«

»Und er war wohl nicht pünktlich zu Ihnen gekommen, der Hauptmann?«

»Im Gegenteil, aber er konnte nicht gleich zu mir herein. Man hatte ihn nicht vorgelassen.«

»Aha! Da haben wir's ja,« erwiderte der Untersuchungsrichter. »Ich wußte ja, daß Sie mir so etwas ähnliches gesagt haben. Damals hatte ich dem keine solche Wichtigkeit beigelegt … aber heute … Jedenfalls war es Ihr Schreiber, der Hauptmann Meinert verhindert hatte, bei Ihnen einzutreten?«

»Allerdings war er es.«

»Und wie geschah das?«

»Ich erwartete den Hauptmann und hatte, nachdem ein Freund von mir weggegangen war, sonst niemand bei mir im Arbeitszimmer. Ich arbeitete inzwischen. Etwa nach einer Stunde begab ich mich, verwundert darüber, daß der Hauptmann noch nicht hier war, in das Wartezimmer und war außerordentlich erstaunt, daselbst den Hauptmann zu finden, der ganz gemütlich neben Jagow saß und mit ihm plauderte. Jagow hatte ihm gesagt, ich wäre beschäftigt, und könnte ihn nicht empfangen.«

»Und das war falsch?«

»Allerdings; das heißt insofern, als Jagow glaubte, mein Freund wäre noch bei mir.«

»Und infolge dieser Lüge oder dieses Irrtums,« fuhr der Richter weiter fort, ohne daß er eine gewisse Befriedigung verbergen konnte, »lief die Zeit ab, so daß es nicht mehr möglich war, die 530 000 Mark bei der Bank zu hinterlegen, und das Geld nach Wilmersdorf gebracht werden mußte. Auf diese Weise wußte man ganz genau, wo man es finden könnte. Diesmal, mein verehrter Herr Rechtsanwalt, glaube ich, daß wir unsern Mann haben.«

In dem Moment öffnete sich die Tür; Dühms trat ein.

»Was sagen Sie nun?« fragte der Untersuchungsrichter den Kriminalbeamten, nachdem er ihm alles eben Gesagte wiederholt hatte.

»Ich sage,« erwiderte Dühms,«daß der Zufall, auf den wir beide gehofft haben, uns endlich zu Hilfe gekommen ist. Die Verbrecher rechnen im allgemeinen viel zu wenig mit diesem Faktor … Sie treffen alle möglichen Vorsichtsmaßregeln mit einer seltenen Geschicklichkeit, und dann … ein Krach! … ist es der Zufall, der alles wieder über den Haufen wirft. Ganz zweifelsohne konnte dieser Mann nicht ahnen, daß sein Besuch am 22. März derart lebhaft die Phantasie des Fräulein Meinert beschäftigen und sie sich seine Züge und den Eindruck seiner Physiognomie derart einprägen würde … Nach dem Verbrechen hat er nichts in seinen Angewohnheiten geändert … Er kam wie gewöhnlich in das Büro, früher sogar, um weniger Menschen auf der Straße zu begegnen, und ging sogar etwas später weg, bei einbrechender Dunkelheit, um weniger von Passanten bemerkt zu werden … Er lebte also vollkommen still und verborgen in dem Büro eines Rechtsanwalts, in dem man ihn, das muß ich sagen, wohl kaum gesucht hätte. Das ist allerdings sehr schlau ausgedacht.«

»Daran habe ich auch gerade gedacht.« warf der Untersuchungsrichter lebhaft ein.

»Allerdings wundert mich eines.« fuhr Dühms weiter fort. »Wie kommt es, daß der Schreiber, der mir in Verstellungskunst und Selbstbeherrschung ein Meister zu sein scheint, in jenem Vorzimmer Ihres Schreibgemachs geblieben ist, durch welches jeder Mensch hindurchgehen muß? Allerdings mag er vielleicht glauben, nicht erkannt zu werden; das gebe ich zu. Trotzdem beging er damit eine gewaltige Unvorsichtigkeit.«

»Die hat er nicht begangen.« unterbrach ihn lebhaft der Rechtsanwalt, worauf er beiden Herren erklärte, daß Jagow seit drei Wochen ungefähr in einem kleinen Zimmer arbeitete, das hinter dem Schreibzimmer lag und das die Klienten niemals betraten.

»Bravo!« rief Dühms, sich die Hände reibend. »Dann also betrat er Ihr Zimmer gerade in dem Augenblick, als Fräulein Meinert sich darin befand?«

»Jawohl. Ich ließ ihn zum ersten Mal in mein Arbeitszimmer kommen. Er hatte bisher nichts darin zu tun gehabt. Er glaubte mich jedenfalls allein.«

»Sie sehen,« fiel der Kommissar ein. »der Zufall auch hier wieder!«

»Erlauben Sie, Herr Dühms,« unterbrach ihn der Untersuchungsrichter. »Ihre Bemerkungen sind ja sehr zutreffend. Aber wenn ich Sie hierher berief, so geschah es, um mit Ihnen zu beraten, welche Maßregeln wir ergreifen müssen. Während wir uns gemütlich besprechen, kann Jagow längst über alle Berge sein.«

»Wie Sie mich kennen, Herr Untersuchungsrichter,« erwiderte Dühms. »können Sie wohl kaum glauben, daß ich Zeit verlieren würde, hier mich zu unterhalten, wenn etwas dringendes vorläge. Ich kenne den Typus Jagow vollkommen genau. Er hat sich ein System der Verteidigung zurechtgebaut, von dem er keinen Millimeter breit abweichen wird. Er wird heute das Büro auch nicht eine Minute früher verlassen als gewöhnlich, und wenn Sie mir den Auftrag erteilen, ihn zu verhaften, so werde ich ihn im Büro des Herrn Doktor genau an derselben Stelle finden, wo ihn der Herr Doktor verlassen hat. Deshalb beeile ich mich auch gar nicht so sehr mit seiner Verhaftung.«

»Wollen Sie ihn in meinem Büro verhaften?« fragte Doktor Herbert, etwas unangenehm berührt.

»Na, wir können das ja umgehen, wenn es Ihnen unangenehm ist.«

»Nun ja, angenehm ist es mir nicht. Sie wissen, wir Rechtsanwälte vermeiden alles, was Geräusch macht oder Aufsehen erregt.«

»Nun, dann wollen wir ihn wo anders festnehmen. Uebrigens hat mir der Herr Untersuchungsrichter noch keinen Auftrag erteilt, den Verdächtigen zu verhaften.«

»Diesen Auftrag will ich Ihnen auch noch gar nicht erteilen« das können wir immer noch machen. Ich übergebe Ihnen hiermit nur eine sofortige Zeugenvorladung. Ich werde das Zimmer nicht eher verlassen, als bis ich Jagow verhört habe.«

»Schön. Ich werde sofort den nötigen Auftrag geben.«

Als der Wachtmeister sich eben zurückziehen wollte, rief ihm Herr von Salbach noch nach:

»Könnten Sie heute noch zwei wichtige Zeugen, den Kutscher und den Privatier aus Wilmersdorf, auffinden, der das Signalement Jagows gegeben hat?«

»Den Privatier aufzufinden, scheint mir nicht schwer. Aber den Kutscher – der wird unterwegs sein. Ihn wird man kaum vor der Nacht finden können. Aber ich werde sehen, was sich tun läßt.«

»Ja, bitte … Ach, noch ein Wort! … Unbedingt nötig ist es aber, sofort bei Jagow eine Haussuchung vorzunehmen. Wo wohnt er?« fragte Herr von Salbach, sich an den Rechtsanwalt wendend.

»Das kann ich Ihnen von meinem Büro aus sofort telephonieren.«

»Schön. Also bitte, benachrichtigen Sie sofort Ihre Abteilung, Herr Dühms, über die ganze Angelegenheit.«

Sobald Dühms sich entfernt hatte, wandte sich der Untersuchungsrichter an den Rechtsanwalt:

»Und Sie, Herr Doktor, begeben Sie sich, bitte, gleich nach Haus. Vorsichtshalber halten Sie Ihren Schreiber noch eine halbe Stunde bei sich zurück. Das weitere überlassen Sie dann uns.«

Nachdem Doktor Herbert nach Haus gekommen war, erfuhr er, daß nichts vorgefallen sei und daß Jagow immer noch an derselben Stelle saß und arbeitete.

Schlag sechs erhob sich Jagow, räumte sorgsam alle Papiere auf, trocknete die Feder ab, vertauschte seinen Schreibkittel mit seinem Jackett, das an einem Regalnagel hing, bürstete seinen Hut ab und verließ langsam das kleine Zimmer. Im Vorzimmer sagte er zu einem Schreiberjungen:

»Ich werde heute noch arbeiten. Stellen Sie mir die Lampe zurecht.«

Er durchschritt den Hof, der völlig leer war, und trat auf die Straße … Vor dem Hause stand ein Arbeiter, der seine Pfeife rauchte. Jagow bemerkte, wie derselbe ihm langsam folgte. Ohne sich im geringsten daran zu kehren, verfolgte er seinen Weg bis nach Schöneberg hinaus, bis zu dem Hause, in dem er wohnte. Er kletterte die vier steilen Treppen empor, öffnete mit dem Schlüssel die Tür, steckte Licht an und betrat sein kleines Wohnzimmer.

Kaum waren einige Minuten verstrichen, als es klingelte.

Er öffnete rasch und sah einen elegant gekleideten Herrn draußen stehen, der ihn fragte, ob er Herrn Jagow sprechen könnte.

»Das bin ich selbst,« erwiderte Jagow mit vollkommen ruhiger Stimme. »Sie wünschen?«

»Ich bin Polizeikommissar und habe den Auftrag, bei Ihnen eine Haussuchung zu veranstalten.«

»Eine Haussuchung? Bei mir?« fragte Jagow im Tone größter Verwunderung, die nicht gekünstelt schien. »Ich verstehe Sie nicht … Aber in diesem Falle habe ich nichts zu verstehen und bin vollkommen zu Ihrer Verfügung. Uebrigens wird diese Haussuchung nicht lange dauern. Ich habe nur ein Zimmer und sehr wenig Sachen.«

Jetzt erst bemerkte er, daß noch zwei andere Beamte den Kommissar begleitet hatten. Er grüßte dieselben, nahm eine Küchenlampe und ging den drei Herren in liebenswürdigster Weise voran, ihnen zu leuchten.

Sie traten in einen kleinen Verschlag, der ihm jedenfalls als Schlafraum zu dienen pflegte. Er enthielt nur einen ganz gewöhnlichen, kleinen Holztisch, auf dem ein Waschbecken und ein Blechkrug standen. An dem Fenster kein Vorhang, an den Wänden weder Spiegel noch Uhr.

Der Kommissar öffnete einen kleinen Schrank – er war vollkommen leer. Er untersuchte die Mauern – hinter ihnen war kein Raum, der etwa durch Tapeten verklebt worden wäre. Er bückte sich, öffnete die Ofentür, warf einen Blick in den Ofen hinein – er schien nichts Verdächtiges zu enthalten. Er klopfte mit dem Stiefelabsatz auf die Dielen – nirgends war ein Versteck, keine Diele saß lose.

Als er eben in das Wohnzimmer treten wollte, um seine Untersuchung weiter fortzusetzen, klingelte es.

Es war Dühms, der mit einem Lächeln auf den Lippen eintrat und in seiner Behäbigkeit eher für einen Mieter des Hauses als für einen Polizeibeamten gehalten werden konnte. Auch Jagow schien in ihm den Polizeibeamten nicht zu erkennen; er bot ihm einen Stuhl an, auf den sich Dühms – den Stock zwischen den Knien, den Hut darauf gelegt – behaglich niederließ, indem er seine Augen nach allen Ecken hin schweifen ließ und die Nachforschungen seines Kollegen aufmerksam verfolgte.

Das Zimmer, in dem er sich befand, war das Wohnzimmer Jagows; in bezug auf Luxus oder Behaglichkeit unterschied es sich kaum vom Schlafgemach. Nur ein paar Möbel mehr standen darin: ein alter Lehnstuhl, vier einfache Stühle, ein kleiner, alter Schreibtisch, alte verblichene Damastvorhänge. Das einzig wertvolle Stück war ein Löwenfell, das vor dem altersschwachen Sofa lag, sowie zwei Gewehre und ein Karabiner, die an der Wand hingen.

Der Polizeikommissar durchsuchte auch hier alles genau mit derselben Sorgfalt wie das vorige Zimmer, ohne jedoch etwas zu finden. Jagow, den die Sache zu langweilen begann, bat um die Erlaubnis, sich eine Pfeife anstecken zu dürfen, die ihm auch gewährt wurde. Dühms warf wiederholt verstohlene Blicke auf den Schreiber; jedesmal glitt ein befriedigtes Lächeln über sein Gesicht.

So hatte er sich den Mann vorgestellt; mit dem würde er einen schweren Kampf zu bestehen haben. Aber das liebte Dühms, der in sein Handwerk im wahrsten Sinne des Wortes verliebt war.

Nachdem der Kommissar alles durchsucht hatte, ging er auf Dühms zu und flüsterte diesem leise ins Ohr:

»Nichts. Absolut nichts zu finden.«

»Das konnte ich mir denken,« erwiderte Dühms. »Dieser offizielle Besuch konnte auch kein günstigeres Resultat zeitigen.«

»Na, da könnten wir uns ja zurückziehen.«

»Bitte, bitte, nicht so rasch. Daß dieser Mensch nicht einen jener großen Fehler, die in die Augen springen, gemacht hat, war vorauszusehen. Aber die Schlauesten liefern sich oft infolge einer Unvorsichtigkeit oder irgend eines kleinen Fehlers der Justiz in die Hände. Sie haben eben groß reingemacht; lassen Sie mich, bitte, den Staub wischen.«

Er erhob sich etwas schwerfällig, wie ein Mensch, der etwas zu lange gesessen hat, setzte den Hut auf den Kopf, der ihn in der Hand genierte, ging auf den Schrank zu und deutete auf denselben, indem er sich an den Kriminalkommissar wandte:

»Den Schrank haben Sie ja wohl durchsucht, glaube ich?«

»Jawohl, er enthält nur Kleider. Ich habe alle Taschen durchsucht und auch die Nähte abgefühlt.«

»Wenn Sie es mir gestatten, will ich doch noch einmal den Inhalt genauer durchsuchen,« erbat sich Dühms.

»Wie Sie wünschen,« erwiderte der Kommissar, sich an den Schreibtisch setzend, um seinen Rapport abzufassen.

Einer der Schutzleute übergab rasch Dühms die im Schranke befindlichen Kleider. Dühms betrachtete sie, nahm einen langen, braunen Ueberzieher heraus, durchsuchte die Taschen sorgfältig, befühlte die Nähte, brachte sein Gesicht ganz dicht heran, als ob er ihn beriechen wollte, und sagte dann laut:

»Da sind ja Oelflecken daran.«

»Oel?« wiederholte Jagow oberflächlich. »Das ist wohl unmöglich. Sie haben da einen alten Ueberzieher von mir in der Hand, und ich pflege öfters meine belegten Stullen hineinzustecken, wenn ich ins Büro gehe.«

»Sie nähren sich aber wirklich gut,« bemerkte Dühms. »Sie essen die Hühner samt ihren Federn auf. Sehen Sie, da ist eine ganz kleine Feder, die Sie vergessen haben, unter dieser Naht. Das ist komisch, nicht wahr? Man möchte darauf schwören, daß Sie damit irgend einen Gegenstand eingeölt haben. Der Federflaum ist struppig und ölstarrend, als ob man ihn in irgend ein Schlüsselloch eingeführt hätte.«

Darauf wandte er sich an den Polizeikommissar und bat ihn, den Ueberzieher mit Beschlag zu belegen.

Der Beamte hatte soeben seinen Rapport beendet, worauf er Jagow aufforderte, denselben durchzulesen und zu unterzeichnen.

»Mit Vergnügen,« antwortete der Schreiber und setzte sich an seinen Schreibtisch. Nachdem er unterzeichnet hatte, sagte Dühms zu ihm in der liebenswürdigsten Art und Weise:

»Jetzt, mein verehrter Herr, sind wir genötigt, Sie zu bitten, uns zum Untersuchungsrichter zu folgen, der Sie, wie ich glaube, um einige kleine Aufklärungen zu bitten hat.«

»Das heißt auf Deutsch: Sie wollen mich verhaften?« fragte der Schreiber.

»Ich war es nicht, der diesen häßlichen Ausdruck angewendet hat: aber weil Sie ihn anwenden, müssen wir eingestehen, daß wir laut eines in unseren Händen befindlichen Befehls handeln. Wenn Sie diesen Haftbefehl vielleicht etwas ansehen wollen …«

»O, das ist ganz überflüssig,« erwiderte Jagow, »ich folge Ihnen.« Er machte einen Schritt nach der Tür.

»Erlauben Sie,« rief ihm Dühms nach. »Ich vergaß eine kleine, unumgänglich notwendige Formalität.«

»Und welche?«

»Sie selbst zu durchsuchen.«

»O, bitte! Genieren Sie sich nicht!« erwiderte Jagow, der selbst seine Taschen umkehrte und sie den Polizeibeamten vorwies. Es wurde aber nichts weiter bei ihm gefunden als eine Uhr und etwas Kleingeld, welches ebenfalls mit Beschlag belegt wurde.

Eine unten wartende Droschke führte sie direkt nach Moabit hinaus. Es war schon ziemlich spät, als sie daselbst ankamen: trotzdem wartete Herr von Salbach noch immer in seinem Arbeitszimmer auf den Inkulpaten. Er wollte ihn nicht sofort einem eingehenden Verhör unterziehen, sondern bloß noch am heutigen Abend seine Identität feststellen und ihm einige kleinere Fragen vorlegen. Dühms, der dies wußte, hielt es für vorsichtiger, sich nicht zu entfernen.

Nachdem Herr von Salbach den Schreiber des Rechtsanwalts aufmerksam betrachtet hatte, fragte er ihn:

»Ihren Namen und Vornamen?«

»Jagow,« erwiderte der Gefragte.

»Und Ihren Vornamen?«

»Den kenne ich nicht; man hat mich immer nur Jagow genannt.«

»Sie haben doch Papiere, auf denen Ihr Vorname verzeichnet ist, Sie müssen doch einen Stand haben!«

»Ich besitze einen Stand, Herr Richter, aber ich habe nie irgend welche Papiere in Händen gehabt, aus denen mein Vorname hervorgeht.«

»Wo sind Sie geboren?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hören Sie, das ist schwer zu glauben.«

»Ich behaupte nicht das Gegenteil. Und doch ist es so. Ich habe nie meinen Geburtsort gekannt. Ich erinnere mich … oder vielmehr: ich erinnere mich, erinnert zu haben … daß ich einst als kleiner Junge in einer großen Stadt herumgeirrt bin. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, in welcher … Es kann Berlin gewesen sein.«

»Sind Sie denn nie in die Schule gegangen?«

»Ich glaube kaum. Wer sollte mich denn in die Schule schicken, da mein Vater und meine Mutter sich nicht um mich gekümmert haben?«

»Doch scheinen Sie eine gewisse Erziehung, ja eine gewisse Bildung zu besitzen. Auch der Posten, den Sie beim Rechtsanwalt Dr. Herbert bekleiden, ist ein Beweis dafür, und Sie drücken sich in gewählter Rede aus.«

»Das, was ich bin, bin ich durch mich selbst geworden, Herr Richter. Mit zehn oder elf Jahren, von welcher Epoche an erst meine Erinnerungen beginnen, hatte ich aus eigenem Antrieb lesen und schreiben gelernt … Später habe ich schwer arbeiten müssen.«

»Sie sagen, Ihre Erinnerungen beginnen mit dem zehnten Jahre. Was taten Sie damals in jenem Alter?«

»Ich wurde Schiffsjunge auf einem Handelsschiff.«

»Aus welchem Hafen sind Sie ausgelaufen?«

»O, das weiß ich nicht mehr. Ich habe seitdem so viele Häfen und so viele Städte gesehen.«

»Waren Sie lange auf Reisen?«

»O ja, Herr Richter, ich habe mehrere Male die Reise um die Welt gemacht.«

»Man wird also den Namen Jagow in den Registern unserer Handels- und Kriegshäfen verzeichnet finden. Bei der maritimen Eintragung?«

»Das ist möglich, obgleich ich niemals eine feste Stellung innegehabt habe. Ich bin bald als Matrose, bald als Heizer, bald als Passagier gereist, von einem fremden Hafen in den andern, auf Schiffen sämtlicher Nationalitäten.«

Der Untersuchungsrichter sah den Inkulpaten scharf an und fragte ihn dann:

»Mit einem Wort: Sie wünschen einen dichten Schleier über Ihre Jugend zu breiten, sowie auch über Ihre Jünglingsjahre und über Ihr sonstiges Leben? Ihre Antworten auf meine Fragen sind derart vage, – die Auskünfte, die Sie mir geben, derart ungewisse und undurchsichtige, daß man sie schwer kontrollieren kann.«

»Ich gebe Ihnen die einzigen Auskünfte, Herr Richter, die ich Ihnen geben kann,« erwiderte Jagow. »Eine ganze Menge von Seeleuten könnte Ihnen auch keine präzisere Auskunft geben.«

»Aber, Sie waren doch nicht immer zur See; es hat doch Zeiten gegeben, wo Sie sich an einem Ort längere Zeit aufgehalten haben?«

»Jawohl, Herr Richter, ich war sogar über zwanzig Jahre in Afrika.«

»In welchem Teil von Afrika? In Aegypten, in Algier?«

»Nein, Herr Richter, in Zentralafrika.«

»Natürlich! Ausgerechnet in Zentralafrika, wo man sich selbstredend nirgends informieren kann.«

»Mein Gott, Herr Richter,« erwiderte Jagow mit großer Einfachheit, »als ich dort Elefanten jagte und mit Elfenbein handelte, konnte ich nicht ahnen, daß die deutsche Justiz mir eines Tages die Belege dafür abfordern würde, daß ich mich in jenen Gegenden aufgehalten habe. Ich gebe mich als das, was ich bin, Herr Richter. Seit meiner Rückkehr aus Afrika hatte ich verschiedene Briefe erhalten: sie werden Ihnen bestätigen, daß ich mit jenen Ländern in Geschäftsbeziehungen stand, und werden Sie auch über die Länge meines dortigen Aufenthaltes aufklären.«

»Es ist gut, die Briefe sollen geprüft werden. Zu welcher Zeit haben Sie Afrika verlassen?«

»Vor drei oder vier Jahren.«

»Und in welchem Hafen sind Sie eingetroffen?«

»In Triest.«

»Wohin sind Sie von Triest aus gegangen?«

»Direkt nach Berlin.«

»Welches Sie seitdem nicht wieder verlassen haben?«

»Nein, Herr Richter; ich war reisemüde und fühlte mich alt, und da mich meine Reisen nicht reich gemacht hatten, war ich gezwungen, mir eine Stellung zu suchen; ich hatte eine ganz gute Handschrift, konnte orthographisch schreiben, und so gelang es mir endlich, bei Dr. Herbert einzutreten. Ich glaube kaum, daß er jemals über mich Klagen konnte, und ich bin nur hoch erstaunt über das, was mir eben widerfährt.«

»Und Sie erraten nicht die Veranlassung zu Ihrer Verhaftung?«

»Nein, Herr Richter – das heißt, wenn dieselbe nicht irgendwie mit jener Szene zusammenhängt, welche heute Fräulein Meinert bei Herrn Dr. Herbert hervorgerufen hat. Sie hat mich als denjenigen erkannt, welcher an dem Tage vor dem Morde ihres Vaters ihre Wohnung in Wilmersdorf besichtigt hat. Ich habe das absolut nicht zu verbergen und sehe immer noch nicht den Grund …«

»Aber ich sehe ihn vielleicht,« sagte Herr von Salbach, ihn unterbrechend. »Aber darüber wollen wir uns morgen weiter unterhalten. Man wird Ihnen Ihr Verhör vorlesen, und Sie werden es, wenn Sie es für richtig befinden, unterzeichnen.«

Indes Jagow die Verlesung des Protokolls anhörte, füllte der Untersuchungsrichter einen Haftbefehl aus. Eine Viertelstunde später wurde Jagow in das Untersuchungsgefängnis abgeführt, indes Herr von Salbach in Begleitung des Wachtmeisters Dühms den Justizpalast verließ.

»Wir haben es hier mit einem ganz außerordentlich geriebenen Kunden zu tun,« wandte sich der Untersuchungsrichter an Dühms, »und ich glaube kaum, daß wir diesen Menschen zu irgend einem Geständnis bewegen können; selbst wenn wir die überführendsten Beweise und Indizien gesammelt haben, wird er immer noch leugnen. Wir haben hier drei verschiedene Inkulpaten: der eine, Müller, besteht auf seiner Unschuld, bringt aber keine Beweise; seine Frau schreit, protestiert, macht Radau und beweist ebensowenig; Jagow aber wird sich geschickt und genial verteidigen, nach einem System, welches er seit langem zurechtgelegt hat.«

»Nu eben!« machte Dühms. »Sie hatten bis jetzt mit der Wut und der Verstocktheit zu tun; der hier aber – das personifizierte Raffinement – wird Ihnen wohl eine harte Nuß zu knacken geben.«

Den nächsten Tag füllten verschiedene Verhöre und Konfrontationen aus. Von neun Uhr morgens an war das Wartezimmer des Untersuchungsrichters mit verschiedenen Zeugen gefüllt.

Herr von Salbach telephonierte hinunter, daß man Frau Müller vorführen möge. Einige Minuten später trat sie ein, erschreckte und unsichere Blicke um sich werfend.

»Kennen Sie diesen Herrn?« fragte sie der Untersuchungsrichter, auf Jagow weisend.

»Jawohl, den kenne ick. Det is der Herr, der zu uns jekommen is, als ick mir allein mit dem jnädijen Fräulein befinden tat,« sagte Frau Müller.

Und ehe man sie daran hindern konnte, stürzte sie auf Jagow zu, packte ihn bei den Armen, sah ihm fest in die Augen und schrie ihm förmlich ins Gesicht:

»Ick rate Ihnen, daß Sie sagen, daß mein Müller nich Ihr Mitschuldiger jewesen is.«

»Aber mit Vergnügen, liebe Frau. Ihr Mann ist auch nicht mein Mitschuldiger – aus dem einfachen Grunde, weil ich keinen Mitschuldigen haben kann; denn ich bin nicht schuldig.«

»Doch, doch. Sie sind es!« rief sie, ihm noch näher tretend, ihr Gesicht dicht vor dem seinigen.

Der Untersuchungsrichter war näher getreten.

»Und was läßt Sie glauben, daß ich der Schuldige bin?« fragte Jagow mit einem Wohlwollen und einer Sanftmut, als ob er es mit einer Wahnsinnigen zu tun hätte.

»Det fühl ick,« erwiderte sie ohne Zögern. »Sie haben ooch so een' Eindruck auf mein jnädiget Fräulein jemacht, und wie der Mord jeschehen war, hab' ick jleich an Ihnen denken müssen. Und daß Sie eenen Mitschuldigen haben, det weeß ick. Denn der hat mir an de Ecke uffjelauert – am Abend vorher – und hat mir mein' Schlüssel jestohlen. Sie wissen janz jenau, daß mein Oller mit die janze Jeschichte nischt zu tun hat … Und wenn Sie eenen Verdacht uff mein' Müller lassen, da loofen Sie weniger Jefahr … Und det arme Luder wird freilich nischt sagen, weil er nischt nich weeß. O Jott, o Jott, det is furchtbar!«

»Die Frau hat das Unglück wahnsinnig gemacht,« rief Jagow mitleidig.

»Wahnsinnig! Wahnsinnig!« schrie sie auf. »Det möchten Sie woll! Aber ick will mein' Verstand behalten, um mein' Mann zu retten und Ihnen – nur Ihnen an den Jalgen zu bringen.«

Auf einen Wink Salbachs ergriff der Polizeibeamte die Frau und führte sie gewaltsam hinaus.

Dieser Zwischenfall hatte auf den Untersuchungsrichter einen gewaltigen Eindruck gemacht. Er ging einige Minuten stillschweigend auf und ab und gab dann den Auftrag, Müller vorzuführen.


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