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3. Kapitel.

Während um elf Uhr vormittags Toni Meinert ihrem Vater das letzte Geleit gab, erwachte eben Rosa Calmus, genannt von Gordon. Sie reckte sich einige Male nachlässig, klingelte ihrer Kammerfrau, verließ ihr üppiges Lager und ging, nachdem ihr ihre Jungfer einen Morgenmantel aus weißem Kaschmir umgeworfen hatte, in das Badezimmer, das ebenso luxuriös eingerichtet war wie die ganze Wohnung dieser Frau.

Nachdem sie ihr gewöhnliches Morgenbad genommen hatte, setzte sie sich in einen ihrer niedrigen Stühle, dicht an den Kamin heran, ihre rosigen Füße dem Kaminfeuer entgegenhaltend, indes ihre Kammerfrau die dichten, schweren, goldigen Haare ihrer Herrin kämmte, welche über die entblößten Schultern in üppigen Wellen herabfielen, da der Kaschmirmantel, die einzige Umhüllung der schönen Frau, herabgeglitten war.

Rosa von Gordon schien heute außerordentlich guter Laune zu sein. Nachdem sie sich eine Zigarette angesteckt hatte, öffnete sie einen auf der neben ihr befindlichen Kristallplatte liegenden Brief, um ihn dann – nach flüchtiger Lesung – gleichgültig ins Feuer zu werfen. Darauf begann sie sorgsam ihre Fingernägel zu bearbeiten, mit einer liebenden Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die jeder Haremsdame zur Ehre gereicht hätte.

Nicht ebenso gut aufgelegt schien die Kammerfrau, die in etwas abgerissenen, ungleichmäßigen Tempis die schönen Haare ihrer Herrin kämmte. Sie schien etwas sagen zu wollen, ohne es zu wagen, ihre Gebieterin zu stören. Endlich – ohne jedoch im Frisieren innezuhalten – entschloß sie sich, das gnädige Fräulein anzusprechen:

»Das gnädige Fräulein wird wohl nicht den Urlaub vergessen haben, um den ich das gnädige Fräulein gebeten habe?«

Rosa von Gordon nahm einen Handspiegel in die Hand, um in diesem ihre Jungfer sehen zu können, öffnete ihre stets etwas müden Augen und fragte langsam:

»Was für einen Urlaub? Ich erinnere mich nicht.«

»Ich habe das gnädige Fräulein gebeten, mir zu gestatten, auf einige Tage nach Hause – zu einer Hochzeit – fahren zu können. Uebermorgen ist die Hochzeit, und ich möchte gern heute reisen.«

»Und wer soll während Ihrer Abwesenheit Ihren Dienst verrichten? Haben Sie daran gedacht? … Nein, das geht nicht. Sie müssen eben Ihre Absicht aufgeben, liebes Kind.«

Sie sprach diese Worte mit großer Ruhe und Gleichmütigkeit, die das Mädchen zur Verzweiflung bringen konnten, ohne jedoch aufzuhören, ihre Füße am Kaminfeuer mit einer gewissen boshaften Andacht zu wärmen. Da Marie eben die Frisur beendigt hatte, sagte ihr Rosa von Gordon, ohne sich nur im geringsten um den Schmerz und die Trauer des Mädchens zu kümmern, in ihrer ruhigen, gleichgültigen Art:

»Ich glaube, es hat geklingelt. Sehen Sie doch nach, ob es etwas für mich ist.«

Die Kammerjungfer gehorchte nicht gerade in bester Laune dem Befehl ihrer Herrin, ohne jedoch weitere Bitten an dieselbe zu richten, da sie schon aus langer Erfahrung wußte, daß der Gordon jede Abänderung eines Entschlusses oder jedes weichere Gefühl vollkommen fremd waren. Nach einigen Minuten hatte sie Fräulein von Gordon ein kleines Paket überreicht.

»Das ist soeben für das gnädige Fräulein abgegeben worden.«

»Ah, jedenfalls meine Pralinees! Höchste Zeit, daß sie kommen; ich habe kein einziges mehr?«

Sie öffnete die Papierhülle und begann sogleich, einige Fondants in den Mund zu schieben. Gleichzeitig aber beobachtete sie auch ihre Kammerjungfer, die eben frisches Wasser in ein silbernes Waschbecken goß und in dasselbe etwas Eau de Lubin sprengte. Es schien, als wollte Rosa das Mädchen so bald wie möglich aus dem Zimmer haben.

Da diese jedoch keine Anstalten traf, das Zimmer zu verlassen, und immer wieder von neuem begann aufzuräumen, rief ihr Rosa zu: »Ach, Marie, holen Sie mir doch die heutigen Morgenblätter. Gestern war Wintergarten-Premiere. Ich möchte die Rezensionen lesen.«

Sobald sich Fräulein Gordon allein wußte, entnahm sie der Papierdüte den größten Teil ihres Inhalts und legte ihn in die Mulde, den ihr Schlafrock über dem Schoß und den Knien bildete, bis in der Düte nur noch etliche in kleine Papierhüllen eingewickelte Fondants blieben; sie nahm eines nach dem andern, die Papierhüllen entfernend und die auf jeder einzelnen Hülle verzeichneten Worte lesend.

Nachdem sie alle die mit Worten versehenen Papierhüllen herausgefunden hatte, legte sie die Fondants wieder in die Düte, und entnahm ihrem Schreibtisch ein kleines Notizbuch, aus dem sie einen Zettel hervorholte, worauf die Siegel eines chiffrierten Alphabets standen, um eine vereinbarte Geheimschrift entziffern zu können. Während sie in der einen Hand das geheimnisvolle Alphabet, in der andern die noch geheimnisvolleren Pralineehüllen hielt, entzifferte sie das auf denselben Geschriebene, das folgendermaßen lautete:

»Es hat den Anschein, daß du überwacht werden wirst. Sei auf deiner Hut. Versuche aber nicht, dich dieser Ueberwachung irgendwie zu entziehen. Im Gegenteil: gestalte dieselbe so leicht wie möglich. Man muß von dir in einigen Tagen sagen können: »Sie hat nichts zu verbergen.« Ich muß dich heute noch sprechen, du triffst mich abends elf Uhr am bewußten Ort. Sei aber so behutsam wie möglich. Verstehst du? Aller-, allergrößte Vorsicht! Verbrenne sofort die Zettel!«

Während sie dieses las, veränderte bei ihr sich auch nicht der geringste Gesichtszug. Sie war anscheinend gewohnt, solche schriftlichen Mitteilungen zu erhalten. Sie begnügte sich damit, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit den ihr gegebenen Auftrag zu befolgen: sie hielt die einzelnen Papierchen mit einer Zange über das Kaminfeuer und wartete so lange, bis sie sämtlich als flugreife Aschenreste in die Höhe geflattert waren.

Als sie dies Werk beendet hatte, erschien wieder die Kammerfrau mit den gewünschten Zeitungen. Fräulein von Gordon erhob sich, ging langsam auf ihren Marmortoilettentisch zu und warf, indes sie ihre Toilette beendigte, ganz nebensächlich die Worte hin:

Würde es Ihnen wirklich so viel Freude machen, Marie, einige Tage zu Hause bei den Ihren zuzubringen?«

»O ja, gnädiges Fräulein,« erwiderte die Jungfer strahlend.

»Ich habe mir inzwischen die Sache überlegt. Ich bin ja soweit ganz zufrieden mit Ihnen und sehe gar nicht ein, warum ich Ihnen diesen kleinen Urlaub eigentlich nicht bewilligen soll. Sie wollen eben auch einmal Ihre Freiheit haben.«

»Oh, wie das gnädige Fräulein so gut ist!« rief die Jungfer, vor Freude puterrot werdend.

»Dann werden Sie also heute noch abreisen, da Sie es ja doch so eilig haben,« begann Fräulein von Gordon von neuem. »Gehen Sie gleich hinab zur Portiersfrau und sagen Sie ihr, daß sie mir jemand verschaffen soll, der Sie für ein oder zwei Wochen vertritt. Sie weiß vielleicht zufällig irgendeine Kammerjungfer, die gerade keine Stellung hat.«

Marie ließ sich das nicht zweimal sagen und lief, so rasch sie konnte, hinab, um den Auftrag ihrer Herrin zu vollführen.

Gegen zwei Uhr nachmittags lag eben Fräulein von Gordon, eine Zigarette zwischen den Lippen, halb träumend auf der Ottomane, als ihr Marie meldete, daß die gewünschte Kammerjungfer da wäre. Rosa befahl ihr, das Mädchen gleich eintreten zu lassen; sie warf auf die Eintretende einen langen Blick, fixierte sie von oben bis unten und wußte sofort, wen sie vor sich hatte.

Am Tage vorher, ehe sie in den Dienst von Fräulein von Gordon trat, hatte sich Frieda Hoffmann, bekannt unter dem Namen die »rote Frieda«, noch im Polizeigewahrsam befunden. Sie war in eine Diebstahlsgeschichte verwickelt gewesen, ohne daß man ihr mit Bestimmtheit den Diebstahl oder die Hehlerschaft hatte nachweisen können. Trotz aller belastenden Momente und trotzdem jeder der Ueberzeugung war, daß sie schuldig sein mußte, mangelte es vollkommen an Ueberführungsmaterial, weshalb man gezwungen war, die Verhandlungen wieder von vorn anzufangen.

Dühms, der davon Kenntnis hatte, wollte aus dieser Sache soviel wie möglich Profit ziehen.

Er ließ sich die Untersuchungsgefangene vorführen und teilte ihr mit, anstatt ihr irgend welche Hoffnung zu machen, daß ihr Fall im Gegenteil außerordentlich schwer wäre und daß gegen sie ein überwältigendes Belastungsmaterial vorläge. Als er sie etwas verwirrt und unruhig werden sah, trotzdem sie sonst außerordentlich klug und gerissen war, sagte er ihr, er würde sich für sie verwenden, wenn sie dem Polizeipräsidium in gewisser Hinsicht einige Dienste leisten würde. Natürlich war die rote Frieda sofort bereit, den Vorschlag anzunehmen. Was hätte sie nicht getan, um aus der Untersuchungshaft herauszukommen, um mit dem Polizeipräsidium irgend welche guten Beziehungen anzuknüpfen, welche ihr in Zukunft nützlich sein konnten?

Dühms entwickelte ihr, welche Rolle sie bei Fräulein von Gordon zu spielen habe, setzte es auch durch, daß sie sofort auf freien Fuß gesetzt wurde, und gab ihr dann den Laufpaß. Frieda setzte sofort alle Hebel in Bewegung, um mit Rosa von Gordon in Verbindung zu gelangen, wozu ihr die letztere durch ihren Wunsch, ein neues Mädchen zu haben, selbst die Hand bot.

So treffen wir sie also beim Eintreten in den Salon von Fräulein von Gordon wieder.

»Sie wollen einstweilen bei mir Kammerjungfer sein?«

»Jawohl, gnädige Frau.«

»Ich bin Fräulein, ich bin nicht verheiratet.«

»Ach, Verzeihung, gnädiges Fräulein.«

»Sie wissen, daß es sich bloß um etwa vierzehn Tage handelt, während mein altes Mädchen verreist.«

»Allerdings würde ich es vorziehen, immer bei dem gnädigen Fräulein zu bleiben. Aber ich bin augenblicklich stellenlos, so daß ich gern bereit bin, einstweilen den Dienst bei dem gnädigen Fräulein zu versehen.«

»Und wie heißen Sie?«

»Luise Kraft,« erwiderte ohne zu zögern die rote Frieda, welche auch in dieser Hinsicht Informationen erhalten hatte.

»Und wie sind Ihre Lohnansprüche?«

»Ich habe immer sechzig Mark monatlich bekommen.«

»Wegen dieser paar Tage will ich mit Ihnen nicht handeln. Wenn ich Sie bei mir behalten würde – denn es ist möglich, daß ich mir zwei Kammerjungfern nehme – würden wir dann über den weiteren Lohn reden. Sie waren vermutlich schon in mehreren Häusern in Dienst?«

»Gewiß, gewiß … und wenn das gnädige Fräulein sich vielleicht erkundigen will …«

»Das ist überflüssig. Ich gebe nichts auf Erkundigungen. Dienstboten, welche sich um irgendeine Stelle bemühen, suchen sich von vornherein jene Personen aus, welche Günstiges über sie aussagen würden, oder von denen sie wissen, daß sie zu schüchtern sind, über irgend jemand Klage zu führen. Ihr werdet euch schön hüten, uns diejenigen zu nennen, welche sich über euch zu beklagen haben. Deshalb ziehe ich prinzipiell niemals Erkundigungen ein und verlasse mich nur auf mich selbst. Sie gefallen mir soweit ganz gut, und hoffentlich stehen Ihre Leistungen mit Ihrem Aeußeren im Einklang. Was das betrifft, ob Sie anständig sind, das werde ich ja selbst sehen … Da Sie jedoch so lange hierbleiben müssen, bis meine ständige Kammerjungfer zurückgekehrt ist, will ich Ihnen noch einiges mitteilen, was Sie wissen müssen … Sie haben bei mir sehr wenig freie Zeit, denn ich gehe nur sehr selten aus, höchstens abends einige Stunden, um ins Theater zu gehen oder bei einer intimen Freundin den Tee zu nehmen. Mein Leben ist außerordentlich regelmäßig, und Sie müßten sich eben verpflichten, genau ebenso regelmäßig zu leben.«

»Aber gewiß, gnädiges Fräulein, ich bin es seit jeher gewöhnt, ein außerordentlich ruhiges und regelmäßiges Leben zu führen.«

Und das war wirklich keine Lüge; denn seit sechs Monaten legte sie sich sowohl in Luckenwalde als auch in der Untersuchungshaft stets Punkt acht Uhr regelmäßig zu Bett.

»Außerdem muß ich Sie noch darauf aufmerksam machen, daß Sie nicht in dem Mädchenzimmer, mit den anderen Dienstboten, schlafen werden. Sie werden hier neben meinem Schlafzimmer schlafen, in einem eigens dazu hergerichteten, übrigens sehr gemütlichen Raume. Ich wünsche meine Kammerjungfer immer bei der Hand zu haben.«

»Das ist auch mir sehr angenehm, gnädiges Fräulein.«

»So sehen Sie mir auch aus. Sie schienen mir vom ersten Augenblick an eine ganz anständige Person zu sein. Und wann wollen Sie eintreten? Meine andere Jungfer wird wohl noch diesen Nachmittag abreisen.«

»Wenn gnädiges Fräulein mir nur zwei Stunden gestatten würden, meinen Koffer zu holen, dann kann ich ja sofort meinen Dienst antreten.«

»Schön. Hier haben Sie Ihr Handgeld.«

Nachdem Rosa von Gordon der Spionin zehn Mark eingehändigt hatte, begab sich diese unter dem Vorwand, ihren Koffer zu holen, sofort zu Dühms auf das Polizeipräsidium, genau so, wie es Fräulein von Gordon vermutet hatte.

Leider wurde Frieda nicht von Dühms selbst empfangen, sondern bloß von seinem Schreiber. Sie teilte ihm mit, daß sie durch einen glücklichen Zufall sofort mitten in das warme Nest hineingesetzt worden sei. Doch ihre neue Stellung, welche sie zwar in die Möglichkeit versetzte, das intime Leben ihrer neuen Herrin, ihre Gewohnheiten und ihre Geheimnisse kennen zu lernen, würde ihr sehr wenig Zeit lassen, sich außerhalb des Hauses zu bewegen und so den Geheimnissen ihres öffentlichen, außerhäuslichen Lebenswandels nach forschen zu können.

Es wäre deshalb vielleicht ganz gut, wenn die Kriminalpolizei ihr eine Hilfskraft zuteilen würde, welche sich in der Nähe, zum Beispiel bei dem Kaufmann an der Ecke, aufhalten würde und die sie sofort verständigen könnte, wenn ihre Herrin die Absicht äußern sollte, auszugehen. Diese Hilfsperson könnte dann leicht Fräulein von Gordon auf ihren Gängen verfolgen, so daß sie dann sowohl von einer inneren als auch von einer äußeren Polizei überwacht werden würde.

Der Schreiber versprach, ihren Vorschlag dem Kriminalkommissar mitzuteilen, und versicherte ihr, daß noch im Laufe des heutigen Tages eine in dieser Beziehung zuverlässige Person sich am bewußten Orte einfinden würde.

Als die neue Kammerjungfer ihren Dienst antrat, gegen fünf Uhr nachmittags, fand sie in dem Salon ihres gnädigen Fräuleins mehrere Herren vor. Sie empfing täglich von fünf bis sieben Uhr einige intime Freunde, welche ihr auf Leben und Tod den Hof machten, ohne daß jedoch auch nur einer sich irgendeiner besonderen Gunst ihrerseits erfreuen konnte.

Man fand unter ihnen Herren von jedem Alter, jedoch kaum unter dreißig Jahren; sie gehörten stets der guten Gesellschaft an; einige hohe Staatsbeamte, sogar hohe Militärs waren unter ihnen. Durch die seltene Schönheit Fräulein von Gordons, durch ihr durchaus vornehmes Benehmen, durch ihren blendenden Geist angezogen, hatten sie sich nach und nach in ihren Salon einführen lassen, allerdings jeder mehr oder weniger von der Hoffnung verleitet, heute oder morgen über seine Nebenbuhler zu triumphieren. Doch bisher hatte kein einziger diesen Triumph zu verzeichnen. Wenigstens war keinem derselben äußerlich etwas anzumerken. So hatten sie nach und nach ihre ursprünglichen Absichten aufgegeben, ohne jedoch von ihrer Gewohnheit lassen zu können. Tag für Tag, sogar zu derselben Stunde, in diesem so angenehmen Salon ihre Aufwartung zu machen.

Wahrscheinlich vermuteten sie, daß die schöne Rosa einen heimlichen Geliebten habe. Denn die Frage lag für jeden ziemlich nahe, wovon sie eigentlich all ihren Luxus bestreiten könnte. Doch die Berliner Lebewelt, die an so manche geheimnisvolle Existenz gewöhnt ist, zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber.

Gegen sieben Uhr abends, nachdem man sich über das neueste Buch, über die gestrige Premiere im Wintergarten und einige andere Neuigkeiten, unter anderem auch über das Verbrechen in Wilmersdorf eingehend unterhalten hatte, verließen die Besucher das vornehme Heim der schönen Frau am Lützowplatz.

Sobald Rosa allein war, klingelte sie ihrer neuen Kammerjungfer und ließ sich das Mittagbrot servieren.

Während Frieda den Tisch deckte und servierte, war Rosa absichtlich zu dem Mädchen liebenswürdig und mitteilsam, anstatt sich ihr gegenüber reserviert zu benehmen. Sie machte Bemerkungen über einzelne Personen, die eben ihren Salon verlassen hatten, erzählte ihr auch, daß der große, blonde Herr, der den Salon zuletzt verließ, über eine Rente von 40 000 Mark verfüge und einer der bekanntesten Herrenreiter der Residenz sei; daß der andere dicke ein bekanntes Reichstagsmitglied sei und einen außerordentlichen Einfluß in diplomatischen Kreisen habe. In dieser ganz unauffälligen Weise gab sie Frieda zu verstehen, daß sie im Notfalle einflußreiche Protektion und in jeder Hinsicht ergebene Freunde hätte.

»Wozu erzählt sie mir dies alles?« fragte sich die rote Frieda. Da sie jedoch keine Ahnung hatte, daß sie von ihrer Herrin durchschaut worden war, glaubte sie, daß dieselbe wirklich etwas redselig und mitteilsam sei und die Angewohnheit habe, in ihrer Kammerjungfer mehr eine Gesellschafterin als einen direkten Dienstboten zu sehen.

Nachdem Frieda den Tisch wieder abgeräumt hatte, fragte sie: »Das gnädige Fräulein wird wohl heute abend etwas weggehen?«

»Nein,« erwiderte Rosa. »Ich werde heute zu Hause bleiben. Machen Sie im Toilettenzimmer Licht.«

»Und wenn jemand kommen sollte, wird das gnädige Fräulein empfangen?«

»Oh, es kommt niemand zu mir. Ich empfange abends niemals.«

»Nanu,« sagte sich Frieda, indem sie Rosas Aufträge ausführte, »sollte Dühmschen auf einer falschen Fährte sein? Bin ich dazu da, eine Tugend zu beobachten? Und mein armer Kriminalschutzmann an der Ecke beim Kaufmann! Der arme Kerl wird sich die Beine in den Leib stehen! Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn davon verständigen könnte, daß sie zu Haus bleibt. Na, warten wir's ab. Vielleicht überlegt sie es sich noch anders.«

Frieda aß dann mit der Köchin gemeinschaftlich im Dienstbotenzimmer und versuchte, sie zum Reden zu bringen, was ihr auch unschwer gelang; doch konnte sie absolut nichts erfahren, was für einen intimen Üeberwachungsrapport von Wichtigkeit gewesen wäre.

Gegen neun Uhr ging sie noch einmal ins Toilettenzimmer, angeblich, um nach dem Feuer zu sehen; sie fand Rosa auf einer Ottomane ausgestreckt, in die Lektüre eines Romans verlieft.

»Machen Sie mein Bett,« befahl ihr Rosa Calmus. »Ich will mich früh niederlegen.«

Frieda gab für diesen Abend alle Hoffnung auf. Heute war nichts mehr zu wollen. Deshalb war sie entschlossen, dem Kriminalschutzmann davon Mitteilung zu machen. Nachdem sie auf Befehl ihrer Herrin das Bett gemacht und frisches Wasser in das Schlafzimmer gebracht hatte, schlich sie sich leise über die Hintertreppe hinab und eilte zum Kaufmann an der Ecke.

Daselbst erkannte sie ziemlich leicht den bewußten Beamten, der inzwischen, um nicht allzusehr aufzufallen, mit einem Verkäufer Freundschaft geschlossen hatte und sich mit ihm angelegentlichst über die hohe Politik unterhielt. Sie ging an ihm vorüber, versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß und flüsterte ihm, nachdem er sich ihr unauffällig genähert hatte, leise zu, daß er heute ruhig nach Hause gehen könnte, daß heute nichts mehr zu hoffen sei, er jedoch morgen um zwölf Uhr wieder hier in der Nähe auf und ab patrouillieren sollte.

Als sie zehn Minuten später wieder nach Hause kam, vernahm sie schon, ehe sie die Tür aufschloß, ein wahnsinniges Klingeln. Jedenfalls mußte die Gordon schon einige Minuten geklingelt haben. Sie lief rasch in das Toilettenzimmer und stammelte einige Worte der Entschuldigung, daß sie nicht gleich gekommen wäre, worauf ihr Fräulein Gordon in ihrer gewohnten Ruhe ganz gleichgültig sagte:

»Ich habe es mir anders überlegt, ich will ausgehen; mir fiel eben ein, daß ich bei einer Freundin eine Tasse Tee nehmen wollte. Helfen Sie mich ankleiden.«

Frieda war angeführt worden, und zwar derart, daß über die Schlauheit und Gerissenheit ihrer Herrin keine Zweifel mehr blieben. Die Gordon war ein echtes Weib; denn sie wußte aus eigenster Erfahrung, daß die Frauen alle Augenblicke anderen Launen unterworfen sind: man entschließt sich, den Abend zu Haus zuzubringen, man ist der Gesellschaft der Menschen müde: eine Laune befällt uns … und man geht aus.

Und der Detektiv war nicht mehr da! Frieda überlegte sich, ob sie nicht selbst den Polizeispitzel spielen und versuchen sollte, ihrer Herrin nachzuspüren. Aber auch das letztere sollte ihr nicht gelingen.

Fräulein von Gordon, welche ein ganz einfaches Kleid angelegt und sich in einen langen Regenmantel gehüllt hatte, begab sich nach der Küche und überzeugte sich, daß die Köchin zur Ruhe gegangen war. Darauf schloß sie die Hintertreppe ab und steckte den Schlüssel zu sich. Nachdem sie wieder nach vorn zurückgekommen war, immer von Frieda gefolgt, welche ihr mit einer Kerze leuchtete, sagte sie in gleich sanftem und ruhigem Tone, mit allen Anzeichen untrüglichster Naivetät:

»Ich schließe Sie ein, mein Kind. Aus Vorsicht. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Erst dieser Tage ist in Wilmersdorf ein schreckliches Verbrechen begangen worden. Morgen sollen Sie einen zweiten Schlüssel haben. Mein anderes Mädchen hat den alten mitgenommen. Heute aber habe ich nur den einen, den ich behalten muß, um wieder hereinzukommen.«

Rosa entfernte sich und ließ ihre neue Kammerjungfer ganz sprachlos zurück. Frieda hörte noch, wie die Ausgangstür von außen doppelt abgeschlossen wurde.

So hatte Frieda demnach nur ihr Gefängnis gewechselt. Gestern war sie in der Untersuchungshaft – heute saß sie in Einzelhaft bei Fräulein von Gordon.


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