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8. Kapitel.

Mehrere Wochen waren verstrichen, und noch immer hatte die Untersuchung absolut keine Fortschritte gemacht: Jagow beharrte bei seinem Leugnen.

Alle die etwas langwierigen Vorberatungen, welche oft aus der Untersuchungshaft eine wirkliche Strafhaft machen, wurden bei einem solchen Kapitalverbrechen wie diesem auf das möglichste reduziert, und deshalb wurden auch Jagow, Müller und seine Frau in kurzem vor das Schwurgericht gewiesen, damit sie in der Herbstsession abgeurteilt werden sollten.

Der Schwurgerichtssaal war bis auf die entfernteste Galerie dicht mit Menschen angefüllt, die sich namentlich aus der Lebewelt und Vertretern des Rechts zusammensetzten.

Auf der obersten Galerie konnte man auch die rote Frieda bemerken, welche äußerst gespannt war, den Ausgang des Prozesses zu erfahren, in den sie indirekt verwickelt worden war.

Auf dem Podium des Gerichtshofes selbst befand sich seit dem heutigen Morgen eine ganze Anzahl junger Juristen und Kriminalisten, welche den bekannten Rechtsanwälten vollkommen unbekannt waren, die sich jedoch zu Studienzwecken Zutritt verschafft hatten.

Einer der zuletzt Angekommenen, ein Mann von mittlerer Gestalt, mit blondem Backenbart, mit angenehmen und sympathischen Zügen, der jedoch stark kurzsichtig zu sein schien, da er eine blaue Brille trug, erregte allgemeines Aufsehen. Keiner kannte ihn.

Auch Frieda hatte es für richtig und chick gehalten, ein Opernglas mitzunehmen, mit welchem sie die jungen Herren, Juristen und Vertreter der Presse lorgnettierte. Namentlich der fremde Rechtsanwalt hatte ihr Interesse hochgradig in Anspruch genommen. Er hatte seinen Platz nicht verlassen. Die Beine übereinander geschlagen, seinen Kopf in die Hand gestützt, schien er mit Aufmerksamkeit alle Bemerkungen aufzufangen, die um ihn ausgesprochen wurden.

Frieda zerbrach sich den Kopf, wo sie ein solch' ähnliches Gesicht schon gesehen hätte.

Da … mit einem Male … fiel es ihr ein.

»Aber ja doch! Das ist ja dasselbe Gesicht! Derselbe bildschöne Mund. Dieselbe feingezeichnete Nase … das ist doch unbedingt der Graf v. Ostia. Nur ist der Mann der Rosa v. Gordon kohlschwarz und der dort drüben, der hat einen blonden Backenbart. Auch hat der Graf ganz famose Augen. Die sind mir damals in der Kirche schon aufgefallen … und …«

Ein Klingelzeichen unterbrach sie in ihren Betrachtungen.

Der Staatsanwalt ergriff das Wort. Nach ihm kamen die Verteidiger, welche mit mehr oder weniger Ueberzeugung ihre Klienten verteidigten, allerdings in dem Bewußtsein, daß sie hier ihr Pulver vergebens verschießen würden. Am wärmsten sprach der Rechtsanwalt Müllers, da er die feste Ueberzeugung hatte, daß der Mann unschuldig sei und in diesem Falle ein großer Justizirrtum vorliege.

Einen tiefen Eindruck machte es auf die Zuhörerschaft, als Müller plötzlich aufsprang und mit verzweifelter Stimme den Richtern zurief:

»Ich bin unschuldig! Ich habe es nicht getan! Das schwöre ich bei unserm Herrgott und bei Jesus!« worauf er weinend auf seiner Bank zusammenbrach.

Jagow gab, ohne sich zu erheben, ein Zeichen, daß er auf das Wort verzichte.

Gleich darauf zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück.

Nach einstündiger Beratung traten die Geschworenen wieder in den Saal, worauf da. Urteil verkündet wurde.

Sämtliche Schuldfragen betreffs Jagows wurden mit »Ja« beantwortet, worauf der Gerichtshof diesen zum Tode verurteilte und Josef Müller zu lebenslänglichem Zuchthaus! Frau Müller jedoch wurde freigesprochen.

Nach dem letzten Urteilsspruch erhob sich ein beifälliges Gemurmel im Zuschauerraum.

Der furchtbare Urteilsspruch schien auf Jagow durchaus keinen Eindruck zu machen. Er ließ einen langen und ruhigen Blick über die Menge schweifen, über die Bank der fremden Juristen, und einen Augenblick verweilte er etwas schmerzlich auf dem fremden Rechtsanwalt mit der blauen Brille.

Müller jedoch war vollkommen gebrochen. Mit einem dumpfen Aufstöhnen brach er zusammen. Laut aufschluchzend stürzte sich seine Frau auf ihn, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn leidenschaftlich. Man hörte, wie sie unter dem Schluchzen ununterbrochen aufschrie, als ob sie Gott zu Hilfe anrufen wollte.

Diese kleine Szene hatte viele Anwesende bis zu Tränen gerührt. Auch die Geschworenen sahen sich unwillkürlich an; in ihren stummen Blicken stand die Frage, ob sie sich nicht vielleicht doch getäuscht hatten.

Der Vorsitzende gab den Auftrag, die Frau zu entfernen, was jedoch nicht so leicht war. Man mußte sie mit Gewalt von ihrem Mann losreißen.

Die Verurteilten wurden abgeführt …

Nach seiner Verurteilung wurde Jagow sofort in jene Gefängnisabteilung gebracht, welche für die zum Tode Verurteilten bestimmt war.

Jagow hatte alsbald durch seinen Verteidiger Revision einlegen lassen und war der festen Ueberzeugung, daß man ihn auf Grund des bisherigen Beweis- und Belastungsmaterials nicht zum Tode hätte verurteilen dürfen.

An demselben Abend, als die Verurteilung ausgesprochen worden war, erhielt Toni einen Brief von ihrem Vetter Konrad Arnheim, ihrem noch einzig lebenden Verwandten, einem jungen Manne, von dem der verstorbene Vater ungemein viel gehalten hatte, heimlich hoffend, daß sich vielleicht das Herz seiner Tochter diesem prächtigen Menschen erschließen würde. In diesem Brief benachrichtigte er seine Cousine, daß er auf die Nachricht des Todes seines Onkels sofort von Jaluit aus, wo er sich als Kaufmann niedergelassen hatte, die Heimreise nach Europa angetreten habe.

Noch überraschter aber war sie, als sie am nächsten Morgen ein großes, eingeschriebenes Kuvert erhielt mit einliegend 100 000 Mark und einem Zettel, worauf ohne Unterschrift stand. »Anbei erlaube ich mir, Ihnen einen Teil der gestohlenen Summe wiederzuerstatten.«

Sie begab sich sofort mit der Sendung zum Untersuchungsrichter, der die Sache für so wichtig erachtete, daß er darüber mit dem Staatsanwalt konferierte.

Bald wußte ganz Berlin von dieser anonymen Zusendung, und sämtliche Blätter ergingen sich in den verschiedensten Glossen darüber. Alles stimmte darüber überein, daß der wirklich Schuldige anfing, Gewissensbisse zu verspüren und, ohne zu wagen, sich selbst auszuliefern, durch diese teilweise Rückerstattung versuchte, sein Verbrechen wenigstens einigermaßen zu sühnen.

Sofort schrieben jene Blätter, die von Anfang an die Partei des zum Tode Verurteilten ergriffen hatten. »Jedenfalls war Jagow, der von aller Außenwelt abgeschlossen ist und mit niemand in Berührung kommt, nicht imstande, diese Summe zurückzuerstatten. Wer also hat diese Summe geschickt? Es wäre dringend wünschenswert, im Interesse der Menschlichkeit und des Rechtes, erst diesen Punkt aufzuklären, ehe man einen Menschen auf das Blutgerüst schickt.«

Die Polizei bedurfte dieser Aufforderung nicht erst, sondern machte sich mit fieberhaftem Eifer daran, den anonymen Absender zu ermitteln.

Es blieb alles fruchtlos. Es gelang der Polizei nur, den zu ermitteln, der das Schreiben aufgegeben, d. h. zur Post gebracht hatte, doch führte diese Spur nicht zur Ermittlung des Auftraggebers.

Dieser Zwischenfall wirbelte jedoch in der Oeffentlichkeit und in der Presse derart Staub auf, daß der Gerichtspräsident selbst zugunsten des Verurteilten ein Begnadigungsgesuch an allerhöchster Stelle einbrachte, was schließlich zu dem Resultat führte, daß die Todesstrafe Jagows in lebenslängliches Zuchthaus verwandelt wurde.

Eine Woche später schlossen sich die Pforten der Sonnenburger Anstalt hinter Müller und Jagow.

* * *

Rosa und Beppo befanden sich bereits einige Wochen in Norderney, nachdem sie beinahe sämtliche Nordseebäder bereist hatten. Nicht ohne Absicht. Denn Beppo, der im Winter größere Gesellschaften und Bälle zu geben beabsichtigte, sagte sich, daß man nirgends so leicht chicke und vornehme Bekanntschaften schließt wie gerade in den Seebädern, in denen sich das ganze Leben der vornehmen Welt eigentlich nur am Strand, in den Hotels und im Kasino abspielt.

Außerdem war es auch der Wunsch Rosas gewesen. Und welchen Wunsch hätte er nicht der Frau erfüllt, die er glühender und leidenschaftlicher liebte als je, vielleicht gerade deshalb, weil sie ihm gegenüber kälter und zurückhaltender geworden war, ohne daß er es so recht merkte? Denn er liebte viel zu leidenschaftlich, als daß er je auf den Gedanken verfallen wäre, nicht in gleichem Maße wiedergeliebt zu werden.

Daß seine Frau von einer Schar von Anbetern umringt war, schien ihm weiter nicht auffällig. Es waren dies meist jüngere Herren, die weiter keinen Eindruck auf sie machten. Nur der eine, ein Herr von Althoff – wie er sich nannte – wurde von ihr etwas gnädiger behandelt, und zwar bloß deshalb, weil in ihm ein Gemisch von Eleganz und Brutalität herrschte, daß sie in einem gewissen Maße interessierte.

Das gräfliche Ehepaar war viel unterwegs, bald auf Landpartien, teils auf weiteren Dampferfahrten.

Es war Ende August, als sie eben von einer Partie zurückkehrten. Rosa hatte mit Herrn von Althoff im Break eines der Herren, die die Partie mitmachten, Platz genommen, da sie den Wunsch geäußert hatte, selbst zu kutschieren, indes Beppo mit den anderen Herren im offenen Landauer folgte, dem sich noch zwei Wagen anschlossen.

Da Rosa einen weiten Vorsprung hatte, entschloß sie sich, links abzubiegen und einen längeren Weg längs des Strandes einzuschlagen, während die übrige Gesellschaft direkt in die Stadt fuhr.

Der Weg war etwas hoch gelegen und senkte sich allmählich zum Strande hinab. Schon war das glänzende weiße Gestade in Sicht, als plötzlich das Pferd vor einem Meilenstein erschrak und zur Seite sprang. Rosa riß ungeduldig an den Zügeln, die sich verwickelten, was das Tier nur noch scheuer machte, so daß sie schließlich vollkommen die Herrschaft verlor und das Pferd mit dem Wagen durchging.

Herr von Althoff wurde grün und blaß und hielt sich krampfhaft am Wagen und an Rosa fest, die – zwar bleich – ernst und starr, beinahe finster vor sich hinblickte, die Zähne übereinanderbiß und in fatalistischer Ergebung ihrem Schicksal entgegensah.

Das Break wurde wie eine Nußschale bald nach rechts, bald nach links geschleudert, und oft fehlte nur eine Handbreit, daß der Wagen die steile Böschung, deren Fuß die See bespülte, hinabgestürzt wäre. So waren sie am Strand angekommen, wo das Publikum entsetzt auseinanderstob, obwohl der kleine Althoff, der mit seinen zwanzig Jahren noch nicht recht Lust hatte, zerschmettert zu werden, kläglich um Hilfe rief.

»Schweigen Sie doch. Sie Feigling!« zischte ihn Rosa an, ohne die Zähne auseinanderzutun, indes ein unsagbar verächtlicher Blick den kleinen, blonden Menschen an ihrer Seite streifte.

Da plötzlich bemerkte sie von weitem einen Herrn, der mitten auf der Straße stehen blieb, anscheinend mit der Absicht, sich dem Pferd in den Zügel zu werfen. Ein lichter Glanz huschte über Rosas Züge, und eine innere Stimme sagt ihr. »Jetzt ist die Gefahr vorüber. Der wird mich retten.«

Sie erkannte sofort, daß jener ihr bisher Unbekannte groß gebaut, jung und auffallend schön war. Die scheidende Sonne warf goldene Reflexe in sein blondes Haar und umgab ihn für sie mit einer goldenen Aureole. In seinem weißen Strandanzug regungslos dastehend, glich er einer Bildsäule.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Eben als der Wagen im Begriff war, von der steinernen Mole herabgeschleudert zu werden, sprang der Unbekannte dem Pferd in die Zügel, riß es zur Seite, wurde noch einige Schritte mit fortgeschleift, bis es ihm gelang, den über und über mit Schaum bedeckten Renner, der an allen Gliedern bebte, aufzuhalten.

Rosa und ihr Begleiter waren gerettet.

Nun strömte auch die ganze Menge herbei, vom Strande, aus den Hotels, aus den Kaffeehäusern – die Kurkapelle spielte einen Tusch – und alles besah sich den mutigen Menschen, der es gewagt hatte, ein so schweres Unheil abzuwenden.

Ohne sich jedoch um die Blicke der Menge zu kümmern, hielt er das Pferd immer noch am Zaum, streichelte dessen bebende Nüstern und redete ihm zu, wie um es zu beruhigen. Als er sah, daß Rosa keine Miene machte, abzusteigen, näherte er sich ihr und sagte mit weicher, einschmeichelnder Stimme:

»Ich glaube. Sie würden gut tun, gnädige Frau, den Wagen zu verlassen … Das Pferd ist noch sehr erhitzt und könnte von neuem den Einfall bekommen, durchzubrennen.«

Rosa antwortete nicht; doch sie erhob sich, setzte ihren Fuß auf den Tritt des Breaks, legte ihre Hand leicht auf die Schulter ihres Retters und stieg gelassen aus dem Wagen, als ob nichts passiert wäre – gleich einer Königin, die von ihrem Throne herniedersteigt. Doch während dieser Bewegungen ließ sie ihren Retter nicht aus den Augen und versuchte, ihren Blick in den seinen zu versenken.

Sobald sie dem Wagen entstiegen war, begann er von neuem:

»Ich wohne gleich drüben im Hotel. Würden Sie vielleicht die Güte haben, mir dahin zu folgen und sich im Konversationszimmer etwas zu erholen?«

Sie zögerte; doch der kleine Althoff, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, flehte derart um ein Glas Selters, um sich zu erholen, daß Rosa mitleidig lächelnd erwiderte:

»Wenn es also für Sie notwendig ist, gehen wir ins Hotel hinüber. Jedenfalls sind wir drüben am geeignetsten Ort, unserem Retter zu danken und ihn zu befragen, mit wem wir die Ehre haben.«

»Mein Name ist Konrad Arnheim,« sagte der junge Mann. »Verzeihen Sie, daß ich ihn nicht früher genannt habe. Was den Dank betrifft, bin ich nicht in der Lage, ihn entgegenzunehmen, da ich nur meine Pflicht getan habe.«

»Sie sind zu bescheiden, Herr Arnheim, oder zu stolz,« bemerkte Rosa, den ihr gebotenen Arm annehmend, wobei ihr ein unerklärlicher Schauer durch die Adern strömte, ein unbewußtes Wonnegefühl, unter ihrer Hand warmes Leben zu verspüren, während sie eben dem Tode in die Augen geblickt hatte.

Im Hotel angelangt, während der kleine Althoff seine Selters trank, fragte Rosa zu Arnheim gewendet:

»Sie sind noch nicht lange hier? Ich bin Ihnen noch nie begegnet.«

»Ich komme weit her, aus Jaluit im Bismarck-Archipel. Ich bin gestern in Hamburg eingetroffen und wollte nur einen kranken Freund besuchen, um sofort weiter nach Berlin zu fahren. Leider hat sich dessen Zustand verschlimmert, so daß ich genötigt bin, noch einige Tage hier zu bleiben.«

Darauf wandte er sich an den blassen Jüngling, der immer noch entgeistert dasaß, und erkundigte sich nach dessen Befinden.

Während er mit Althoff plauderte, hatte Rosa Zeit, den Fremden genau zu studieren. Bisher hatte sie nur für dunkle Haare geschwärmt; jetzt mußte sie sich eingestehen, daß man blonde Haare haben und dabei doch durchaus männlich aussehen konnte. Unwillkürlich zog sie Vergleiche zwischen ihrem Gatten und dem Fremden, die nicht zu Ungunsten des letzteren ausfielen.

Konrad bemerkte den forschenden Blick der schönen Frau und konnte nicht umhin, ein leises Lächeln zu verbergen.

Rosa erhob sich und wandte sich an Arnheim:

»Ich bin jetzt gezwungen, Sie zu verlassen. Man wird zu Hause besorgt sein um mein Verbleiben. Doch kündige ich Ihnen den raschesten Besuch meines Gatten an, der Ihnen für den großen Dienst, den Sie mir erwiesen, wird persönlich danken wollen. Was mich anbelangt, hoffe ich, Sie bald wiederzusehen und Ihnen meine Dankbarkeit auch beweisen zu können. Sie sind jederzeit im Salon des Grafen Ostia willkommen.«

Konrad verbeugte sich stumm und geleitete Rosa bis an die Hoteltüre, vor der bereits ein geschlossener Wagen wartete.

Eine Stunde später machte Beppo, von seiner Frau abgeschickt, seinen Besuch bei Arnheim, nachdem er von Rosa die ganze Szene des Unfalls erfahren hatte. In seiner bestrickend-liebenswürdigen Weise sprach er ihm seinen wärmsten Dank aus und bat ihn um die Ehre, morgen sein Gast zu sein, welcher Bitte Konrad gern Folge leistete.

Es waren nur einige Personen geladen, darunter auch der kleine Althoff. Als ob es sich um ein Diner in der hohen Saison handelte, erschien Rosa in tiefdekolletierter Robe, die ihre körperlichen Reize voll zur Geltung brachte. Irgendein geheimer Gedanke, ein unausgesprochener Wunsch, vielleicht die uneingestandene Freude, sich in der Nähe ihres Retters zu befinden, verliehen ihrem Blick etwas Schwärmerisches, ihrem Lächeln etwas Weicheres, ihrer ganzen Persönlichkeit mehr Hingabe und Weiblichkeit.

Sie hatte natürlich Herrn Arnheim an ihre Seite gesetzt und bildete mit ihm ein so vollendet schönes Paar, daß die andern von ihnen unwillkürlich verdunkelt wurden. Selbst Beppo war nicht imstande, sich mit ihnen zu messen; doch schien er sich dessen nicht bewußt zu sein und bot alles auf, seinem Gaste so liebenswürdig wie möglich zu begegnen. Rosa hatte ihm bisher so wenig Grund zur Eifersucht gegeben, daß ihn auch heute nicht die geringste Eifersucht auf den Fremden befiel, der ja dieser Tage doch wieder abreisen würde. Außerdem bemerkte er gar nicht, daß seine Frau jenem gegenüber liebenswürdiger und mitteilsamer war als gewöhnlich.

Nach dem zweiten Gang wurde die Konversation eine ziemlich allgemeine. Der kleine Althoff, der schon nach den ersten beiden Glas Wein anfing, ziemlich animiert zu werden, fragte Konrad, wie es sich auf jenen weltentlegenen Inseln lebte.

»Gibt es dort auch Zeitungen?« fragte er ziemlich laut.

»Gewiß. Das ist ja noch die einzige Zerstreuung, die wir dort haben. Wir haben weder Theater, noch Gesellschaften, noch Konzerte. Man legt sich in seine Hängematte unter den Palmen und liest seine Blätter, von denen oft zehn, zwölf Stück auf einmal kommen. Ich halte mir drei Zeitungen – darunter auch eine Gerichtszeitung …«

»Eine Gerichtszeitung?« lachte einer von den Gästen. »Die kenne ja ich nicht einmal und ich lese doch sehr viel.«

»Ich bin auch nur erst seit drei Monaten darauf abonniert,« erwiderte Konrad lächelnd. »Und das auch nur durch Zufall. Ich wollte nämlich einen Prozeß verfolgen, der mich interessiert hat.«

»Welchen Prozeß?« fragte Althoff.

»Den wegen eines Raubmordes in Wilmersdorf,« gab Konrad zur Antwort.

Beppo erbebte.

Rosa wendete sich daraufhin Konrad voll zu und lauschte, ihr Kinn in die Hand gestützt, mit Aufmerksamkeit.

»Nun sitzen ja beide Mörder fest – vereint in Freuden, vereint in Leiden,« witzelte der halbtrunkene junge Herr.

»Beide Mörder?« rief Konrad. »Ich meinerseits bezeichne nicht beide als Mörder.«

»Wie? Sie glauben nicht, daß beide an dem Mord beteiligt waren?«

»Ich behaupte sogar das strikte Gegenteil.«

»Und was gibt Ihnen diese Ueberzeugung?« fragte Beppo mit einer Stimme, die durch nichts seine innere Aufregung verriet.

»Das ziemlich gründliche Studium des Prozesses, den ich in allen seinen Phasen verfolgt habe, als wenn ich dabei gewesen wäre. Als Unbeteiligter sieht man oft viel klarer. Für mich ist Müller an der Tat gänzlich schuldlos. Und wenn er verurteilt wurde, geschah dies, weil er bereits vorbestraft war. Die Beweise aber hätten nie und nimmer genügt, wenn es sich um einen unbescholtenen Mann gehandelt hätte.«

»Ich habe ebenso wie Sie den Prozeß verfolgt,« mischte sich ein Herr der Gesellschaft ins Gespräch. »Und ich gebe Ihnen die Versicherung, daß die Beweise erdrückend waren.«

»Erdrückend! Erdrückend!« ereiferte sich Konrad. »Das eben hat mich stutzig gemacht wie auch den Verteidiger Müllers, daß der wahrhaft Schuldige alle diese Beweise einem Schuldlosen zugeschoben hat, um diesen zu verderben und sich selbst zu retten.«

»Doch der Verteidiger hat das nicht gedacht, was er gesagt hat,« fuhr der Herr weiter fort, auf seinem Standpunkt beharrend.

»Um so schlimmer für ihn,« erwiderte Konrad. »Aber ich denke so; und das genügt mir einstweilen.«

»Das wird aber dem Müller nicht genügen,« schrie der kleine Althoff. »denn der sitzt jetzt fest in Sonnenburg.«

»Man kann auch von dort herauskommen, wenn sich Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben, dafür interessieren,« sagte Konrad ruhig.

»Wie? Haben Sie vielleicht die Absicht, zugunsten Müllers zu intervenieren?« fragte der junge Herr entrüstet.

»Zu intervenieren – noch nicht. Aber jedenfalls zu versuchen, den wahrhaft Schuldigen zu ermitteln, wenigstens solange ich in Deutschland bin. Und wenn der Zufall, an den ich glaube, mir wohl will, dann gibt es einen zweiten Prozeß, eine zweite Verurteilung, die mit der ersten im Widerspruch steht und eine Revision zuläßt. Obwohl jetzt Südseeinsulaner, habe ich doch die Rechte in Deutschland studiert.«

»Wie? Sie wollen sich wegen eines total Unbekannten so viel Mühe machen?« unterbrach ihn Beppo plötzlich. »Wegen eines Menschen, den Sie nur aus den Zeitungsberichten kennen?«

»Nicht nur daraus, sondern auch aus Briefen, die ich aus Deutschland erhalten habe. Sie werden sich weniger wundern, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich ein naher Verwandter und Vetter des Fräulein Meinert bin, der Tochter des ermordeten Hauptmanns Meinert.«

»Ja, das ist etwas anderes,« ließen sich mehrere Stimmen vernehmen.

Nur drei Personen sagten nichts: der kleine Althoff, den die Situation außerordentlich zu interessieren schien: Beppo, der in seinem Gaste plötzlich einen äußerst gefährlichen Gegner erkannte, und Rosa, deren Wege sich abermals mit Toni Meinert kreuzten. Damals hatte sie ihr eine Erbschaft entrissen: heute stellte sich ihr Bild zwischen sie und Konrad, der auf ihre Sinne einen tiefen Eindruck gemacht hatte, zu dem sie sich wie durch magnetische Gewalt unwiderstehlich hingezogen fühlte.

Konrad, nun von allen Seiten mit Fragen bestürmt, verfocht das begonnene Thema mit allem Eifer.

»Sie sehen, daß ich also kein Recht habe, mich der ganzen Sache gegenüber gleichgültig zu verhalten. In Wirklichkeit hat der Mord, der an meinem Onkel begangen wurde, nur eine ungenügende, unvollständige Sühne erfahren. Der Hauptschuldige, der elende Jagow, ist begnadigt worden; er, der getötet hat, lebt … Und sein Mitschuldiger läuft frei herum, lacht die Polizei aus und verzehrt in irgendeinem weltentlegenen Winkel die gestohlene Summe, indes sich meine Cousine mit einem kleinen Happen begnügen muß, der ihr aus Berechnung vorgeworfen worden ist.«

Nachdem er an seinem Sektkelch genippt hatte, fuhr er fort:

»Wenn Toni Meinert sich auch als alleinstehendes Mädchen mit dem richterlichen Urteil begnügt hat, bin ich nicht willens, mich damit zufrieden zu geben. Ich habe nicht Lust, den Tod eines so lieben, nahen Verwandten ungestraft zu lassen.«

Sein sonst so ruhiger Blick belebte sich allmählich, und der besonnene, kühle Norddeutsche verwandelte sich mit einem Male in einen heißblütigen Südländer.

»Ich will hier gar nicht von einem persönlichen Racheakt sprechen,« fuhr er etwas gelassener fort. »Rein vom menschlichen Standpunkt, wenn ich der Ueberzeugung bin, daß ein Schuldloser im Zuchthaus sitzt, leidet und etwa gar dort zugrunde geht, ist es meine Pflicht, diesen Aermsten zu retten, zu beschützen, seine Leiden abzukürzen und zu beheben. – Und ich werde diese Pflicht erfüllen!«

Rosa betrachtete ihn noch immer stillschweigend. Eine solche Sprache, so grundehrliche, edle Prinzipien halte sie noch nie mit solcher Wärme verfechten gehört. Ihr Mann jedenfalls hatte niemals so gesprochen. Sie warf verstohlen einen Blick auf Beppo und verglich unwillkürlich dessen scheuen Blick mit dem klaren, zielbewußten Konrads, Beppos bleiche Gesichtsfarbe mit der lebhaften ihres Gastes, dessen freies, offenes Gebaren mit der geschmeidig glatten Art ihres Gatten in krassem Widerspruch stand.

Den nächsten Morgen reiste Konrad nach Berlin ab, um schleunigst die Tochter seines Onkels aufzusuchen; einige Tage später verließen auch Ostias Norderney, um ihre prachtvoll eingerichtete Berliner Wohnung zu beziehen.


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