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Zum Verständnis religiöser grönländischer Vorstellungen
»Ich weiß nichts; unablässig aber stellt das Leben mich Kräften gegenüber, die stärker sind als ich! Erfahrungen von Geschlechtern lehren uns, daß das Leben schwer ist, und daß stets das Unabwendbare unser Schicksal wird.
Darum glauben wir an das Böse.
Auf das Gute braucht man keine Rücksicht zu nehmen, das ist in sich selbst gut und bedarf keiner Anbetung.
Das Böse aber, das in der großen Dunkelheit auf uns lauert, bedroht uns durch Sturm und Unwetter, schleicht in feuchtem Nebel an uns heran und muß von unseren Wegen fern gehalten werden.
Menschen vermögen nur wenig, und wir wissen nicht einmal, ob das, was wir glauben, richtig ist.
Nur eines wissen wir mit Bestimmtheit: Was geschehen soll, geschieht.«
Das ist die wörtliche Antwort eines alten Grönländers, als ich ihn über das Leben und seine Rätsel ausfragte; diese düstere und fatalistische Lebensanschauung steht in merkwürdigem Gegensatz zu dem täglichen Leben der Eskimos. Denn der erste unmittelbare Eindruck, den man von dem Leben in den Wohnplätzen bekommt, ist wie ein Idyll jener kindlichen Unschuld, die der Kulturmensch verloren hat. Die gute Laune des Eskimos, sein schallendes Lachen und seine ganze unbekümmerte Sorglosigkeit wirken so überwältigend auf uns, daß wir geneigt sind, ihm Mangel an Ernst vorzuwerfen.
Aber trotz dieses leichten Sinnes, der täglichen Freude und der munteren Kameradschaft, sind die Eskimos dennoch, wie alle Naturvölker, außerordentlich mißtrauisch gegeneinander. Denn hinter dieser einnehmenden Freimütigkeit verbirgt sich ein Gefühl von Abhängigkeit, und zwar nicht allein den Naturmächten, sondern auch den Menschen gegenüber, mit denen sie zusammen leben, und von dieser Abhängigkeit werden ihre religiösen Vorstellungen in starkem Grade geprägt.
Die arktische Natur, die drückende Schwere der Finsternis, die Unheimlichkeit der Stürme und die Einsamkeit auf den unendlichen öden Strecken geben der eskimoischen Religion ihren Hintergrund – eine Religion, die nur kategorische und barsche Gebote und Verbote kennt und nichts von der Sanftheit und Milde weiß, die mit Anbetung verbunden ist.
Alle wilden Kräfte der Natur sprechen zum Menschen und machen ihn klein im Verhältnis zu der gewaltigen Sprache der Elemente, unsicher gegenüber der Mystik der Dunkelheit, und sie staunen über all das, was sie nicht verstehen.
Will man die religiösen Vorstellungen der Grönländer charakterisieren, muß man vor allem das schildern, was ihren Kampf gegen die unbekannten Mächte veranlaßt hat.
Die Gebote und Verbote ihrer Religion sind so kompliziert, daß man anfangs meint, einem Wirrwarr gegenüberzustehen, der nur von kranken Gehirnen geboren ist; hat man die Dinge aber erst einmal durchschaut und den roten Faden gefunden, der alles durchzieht, so erstaunt man über die sinnreiche und systematische Weise, mit der versucht ist, die Rätsel und Gefahren des Lebens einer Erklärung nahezubringen. Man bewundert, daß ein Naturvolk, anscheinend so materiell veranlagt, solches Beschwörungssystem organisieren kann. Die erfinderische Art, mit der man den Unberechenbarkeiten des Lebens begegnet, und die Phantasie, mit der man die Mittel wählt, um die Gefahren zu überwinden, wirken tatsächlich überraschend.
Grundlegend für die Religion der Eskimos ist, daß diese sich ganz und gar auf die Unfehlbarkeit ihrer Vorfahren verlassen und ihren Glauben auf überlieferten Mythen und Sagen aufbauen, die man für wahr hält und die die ganze Natur mit mächtigen und grausamen Wesen bevölkern.
Hier stehen wir vor dem Zentralen in der eskimoischen Religion, die, wie bereits kurz erwähnt, darauf aufgebaut ist, daß man nur auf das Böse Rücksicht zu nehmen braucht. Menschen würden zu Grunde gehen, wenn die Vorfahren nicht Anweisung gegeben hätten, wie man bis zu einem gewissen Grade sich gegen Naturmächte wehren kann. Dies kann auf folgende Weise geschehen:
Riesen in blauen Anzügen.
1. Agdlerneq, Buße, die man tun muß, wenn man unrein ist, z. B. wenn man einen Toten berührt hat.
2. Arnugssat, Amulette, die Unglück abwenden und Glück bringen können.
3. Serratit oder Zauberworte, die an Verstorbene gerichtet werden, die darauf helfend eingreifen.
Neben diesen drei Hauptmitteln soll der Vollständigkeit halber hier auch eine Art Opfer genannt werden, das bei allen Eskimostämmen dasselbe ist, wenn es im täglichen Leben auch keine große Rolle spielt. Das ist:
Ein Tupilak in Kindergestalt, von einem Zauberkundigen geschaffen, schleicht sich an sein Opfer heran.
Mingulertineq oder tunigdlaineq, ein Opfer, das darin besteht, daß man Toten Fleisch ins Grab legt; es brauchen nur ganz kleine Stücke zu sein, weil die Toten die Gabe besitzen, sie zu vergrößern. Auf diese Weise kann man auch Bergen oder Steinen opfern, um gutes Reisewetter oder Jagdglück zu bekommen. Die Opfer für die Toten richten sich an die Seele oder an die Lebenskraft, die den Körper überlebt hat.
Doch allein würden die Menschen sich durch Buße, Zauberworte und Opfer nicht helfen können, sie brauchen einen Mittler zwischen sich und dem Uebernatürlichen, und darum haben Einzelne besondere Fähigkeiten erhalten, wodurch sie sich unter Beobachtung gewisser Zeremonien zum Herrn über das Böse machen können.
Das sind die Geisterbeschwörer.
Nun sind es aber nicht nur die Geister der Natur, die die Menschen bedrohen, mehr noch ist es die Bosheit des Lebens, die die Menschen selbst ausüben. Am schlimmsten sind die Feinde, die aus Haß oder übler Nachrede geboren werden, Unverträglichkeit und Neid, besonders, wenn diese Feinde gleichzeitig das Uebernatürliche in ihren Dienst nehmen. Darum werden entscheidende Momente in der Religion der Eskimos von den Menschen selbst bestimmt, wie ich in Folgendem nachweisen werde.
Die eskimoische Auffassung von der Seele greift so tief in die Tätigkeit der Geisterbeschwörer ein, daß ich näher auf sie eingehen muß.
Die Ostgrönländer teilen, ebenso wie andere Eskimos, den Menschen in einen Namen, einen Körper und eine Seele.
Der Name ist die Namenseele eines Verstorbenen, die auf der Erde bleibt, wenn ein Mensch stirbt, und die in einem anderen Körper Wohnung nehmen muß. Dieser neue Körper erhält dann die Fähigkeiten, die dem früheren eigen waren. Darum ist die Wahl des Namen, den man einem Neugeborenen gibt, wichtig. Man überläßt sie meistens den Alten, die man für weise hält, oder den Geisterbeschwörern.
Der Name hat die Kraft und die Fähigkeit, sich zu erneuern, solange Menschen auf Erden leben.
Der Körper dagegen wird nur als ganz vorübergehender Aufenthalt der Namenseele und der eigentlichen Seele betrachtet. Ein Ostgrönländer hat mir dies auf folgende Weise erklärt:
»Ein Körper ist vergänglich und verwest wie alles andere Fleisch, darum kann die Seele nicht an ihn gebunden sein. Ein Mensch hat viele Seelen, die über seinem Körper verteilt sind; jedes Glied hat seine Seele, und jede Seele ist wie ein Mensch, ein winzig kleiner Mensch, nicht größer als ein Daumen. Diese Seelen vereinigen die Lebenskraft des ganzen Menschen, die aus dem Munde ausgestrahlt wird. Wenn ein Mensch stirbt, hört er darum auf zu atmen.
Wenn der eine Mensch dem anderen Böses zufügen will, versucht er, ihm eine seiner Seelen zu rauben; dann muß das Glied, das seiner Seele geraubt ist, erkranken. Es ist die wichtigste Aufgabe der Geisterbeschwörer, Menschen ihre geraubten Seelen zurückzugeben.
Die Seelen sind nicht alle gleich groß; es gibt drei große, eine in der Kehle und zwei im Darm. Diese Seelen haben ungefähr die Größe eines jungen Vogels. So haben unsere Vorfahren uns das Wesen der Seele erklärt. Wir Jetztlebenden wissen nichts mehr von diesen Dingen, die die Alten durchschauten.
Auch sagt man, daß Qardimaitut, die Toten, lange nach ihrem Tode zu ihrem Grabe und ihrem Körper zurückkehren können, um im Sommer, wenn die Erde warm ist, dort Wohnung zu nehmen. Davon aber weiß man nichts Genaues. Alles ist dunkel und rätselhaft, wie es in den Sagen erzählt wird.«
Im Anschluß hieran möchte ich zwei Uebergangsformen für ein Leben nach dem Tode erwähnen, das oft in den Sagen genannt wird. Das eine ist Arnagtoq, das andere Angerdlartugssiaq.
Arnagtoq bedeutet: »der Wiederkehrende«, wie es m der Sage von Navagiaq erwähnt wird, dessen Seele in vielen Tieren wiedergeboren wurde, bis sie schließlich in einem Menschen endete.
Man stellt sich gewisse Zustände vor, wobei die Seele anstatt sich gleich in das Land der Toten zu begeben, erst längere Zeit auf der Erde zubringt, unter anderen Lebensformen als der Mensch.
Unter Angerdlartugssiaq dagegen versteht man einen Menschen, bei dessen Geburt Zauberformeln gesprochen worden sind, durch deren Kraft er instand gesetzt ist, mehrere Leben zu leben, indem die Seele, nachdem sie eine abenteuerliche Weltumseglung vorgenommen hat, zu ihrem Wohnplatz in menschlicher Gestalt zurückkehrt.
Dieser Zustand wird in den Sagen von Alorugtaq und Tagta geschildert. Doch sind es nur Menschen, die auf dem Meere umkommen und deren Körper nicht begraben worden ist, die auf diese Weise wiedererstehen können.
Wenn ein Mensch stirbt, vereinigen sich alle kleinen Seelen zu einer Hauptseele. Sie allein macht die Reise zu den ewigen Jagdgefilden, wo sie sich von neuem zu einem Körper materialisiert, von derselben Gestalt wie die ehemalige irdische Hülle. Dies geschieht, damit die Toten sich untereinander wiedererkennen können.
Die Ueberlebenden müssen durch Buße die Todesreise zu erleichtern versuchen; wird diese Buße nicht getan, dann kann die Seele heimatlos werden und tritt als ein Geist auf, der alle, die ihm auf seinem Wege begegnen, zu Tode erschreckt.
Die Menschen gebrauchen ein Jahr, um sich vom Tode in das neue Leben hineinzuarbeiten; denn man muß sich der Säfte entledigen, die der Erde angehörten. Darum dauert die Trauerzeit und die Buße der Ueberlebenden ein Jahr.
Es gibt verschiedene Arten, wie man den Körper von den irdischen Säften befreit.
Einige sagen, daß man sich ein ganzes Jahr lang von der einen Seite eines ausgebreiteten Felles bis zur anderen durcharbeiten muß. Wenn man dieses Uebergangsdasein überwunden hat, dann ist der Mensch wie ein Geisterkörper. Seine Gestalt ist der eines richtigen Menschen gleich, berührt man ihn aber, so ist er ohne Materie.
Andere dagegen behaupten, daß die Uebergangszeit auf einem mächtigen »Weltabhang« verbracht wird, einer Stelle im großen Raum, wo der Mensch verblutet, indem er beständig auf einem schrägen Abhang hinabgleitet; wenn ein Jahr vergangen ist, ist er zu einem luftigen Wesen geworden, ohne Fleisch und Knochen, im übrigen aber von demselben Aussehen wie vor seinem Tode.
Die Ostgrönländer fürchten den Tod nicht; darum ziehen sie es bei einer langwierigen Krankheit oft vor, ihrem Leben selbst ein Ende zu machen. Ihre Angehörigen müssen sie dann in ein Leichenfell einnähen und von einer Klippe ins Meer stürzen, oder sie so auf den Strand legen, daß die Flut sie mit sich nimmt.
Menschen, die auf dem Meere umkommen, fahren in das »Land der Toten« unter das Meer hinab. Der Ostgrönländer liebt das Meer wie ein Wesen, das ihm die Nahrung und alle spannenden Erlebnisse schenkt; darum will er das Leben am liebsten in der Unterwelt fortsetzen, wo die Jagden, wie die Geisterbeschwörer behaupten, viel günstiger sind als im Erdenleben.
Menschen, die auf Erden sterben und in einem Steingrab begraben werden, kommen in den Himmel. Dieser Aufenthalt ist aber nicht so begehrt, weil es dort keine Seehunde und andere Seetiere, und darum auch keinen Speck gibt. Außerdem soll das Trinkwasser dort nicht frisch sein, und man muß sich hauptsächlich an Beeren und Raben satt essen.
Man sorgt stets dafür, daß man die Verstorbenen dorthin begleitet, wo ihre Vorfahren sind. Doch gibt es ein Mittel, mit dessen Hilfe man an beide Orte kommen kann. Man legt die Leiche vor den Flutgürtel und läßt sie dort drei Tage und Nächte liegen, dann erst wird sie ins Meer geworfen. Dann kann der Tote sowohl in den Himmel wie unter das Meer kommen.
Wenn aber ein Mensch im Meere ertrinkt, kann er, selbst wenn seine Leiche an Land gebracht wird, nicht in den Himmel kommen.
Geisterbeschwörer sind Priester und Deuter verborgener Dinge, Aerzte für Kranke und Trauernde, Mittler zwischen Menschen und Geistern in der Natur.
Durch eine heilige Kunst, die sie sich durch eine lange und schwierige Lehrzeit, die viele Jahre dauert, aneignen, werden ihre Augen für das geöffnet, das gewöhnliche Menschen nicht sehen können.
Sie werden von allen geachtet, von vielen gefürchtet, und sorgen dafür, das durch religiöse und diätetische Vorschriften die ererbten Sitten befolgt werden. Und alles gehorcht ihnen.
Im täglichen Leben teilen sie die Geschicke ihrer Mitmenschen, sind bald tüchtige, bald mittelmäßige Fänger, und sind wie alle anderen, den großen und kleinen Widrigkeiten des Lebens ausgesetzt. Niemals umgeben sie sich mit einem Kultus, bis ein Ereignis ihnen die Zaubertrommel in die Hand drückt und sie von der Erde in den Himmelsraum erhebt, wohin kein anderer ihnen zu folgen vermag. Dann besitzen sie die Macht, das Böse von dem Wege der Menschen fernzuhalten, und üben dadurch die höchste Form von Güte in den Augen ihrer Landsleute, oder sie werden zu Handlangern der Finsternis im Dienste einer schlechten Sache und tun dadurch ihren Mitmenschen Böses an.
Sie verwalten die Fangtiere, indem sie in Mißfangzeiten zur Mutter des Meeres hinabfahren; sie unternehmen Luftreisen zum strafenden Mondmann oder erwirken Wetterveränderung bei Asiaq, der Beherrscherin des Wetters, und sie besuchen das »Land der Toten« im Himmel und unter dem Meere, um dort zu erfahren, was die Menschen nach dem Erdenleben erwartet.
Wenn an einem Wohnplatz etwas geschieht, das die Hilfe der Geister wünschenswert macht, ruft ein Geisterbeschwörer seine Hilfsgeister herbei. Vorher werden verschiedene Vorbereitungen getroffen. Zuerst wird ein Fell im Hause vor das kleine Eingangsloch gehängt, durch das man vom Hausgang ins Haus kommt, darauf werden die Fenster geblendet, und zuletzt wird ein Fell, das ebenso wie die anderen neu und ungebraucht sein muß, vor dem Eingangsloch auf die Erde gelegt. Dort nimmt der Geisterbeschwörer Platz, der bis auf einen schmalen Ledergürtel nackt ist. Wenn er sich niedergesetzt hat, werden ihm die Hände mit einem starken Fellriemen auf dem Rücken verschnürt, und der Kopf mit dem stark vorgestreckten Hals wird an die Beine gebunden, so daß er außer Stande ist, sich zu bewegen. Darauf wird die Zaubertrommel mit dem Trommelschläger neben ihn gelegt und die Lampen im Hause werden gelöscht.
Man glaubt, daß schon die Trommel in der Hand eines Geisterbeschwörers im Besitz mystischer Kräfte ist und dazu beiträgt, die Geister herbeizurufen. Darum kann sie bei einer Beschwörung lebendig werden und frei im Hause herumschweben, ohne von dem Geisterbeschwörer berührt zu werden. Wenn ein großer Geisterbeschwörer eine Séance abhält, kann die Trommel gleich nach dem Verlöschen der Lampen ertönen. Wenn man bedenkt, daß der Geisterbeschwörer gefesselt ist und immerhin einige Zeit gebraucht, um seine Fesseln zu lösen, nehmen sogar Zweifler dies als ein Zeichen, daß die Trommel Kräfte besitzt, die an der Arbeit sind, oder daß der Geist die Trommel bedient.
In dem Augenblick, wo es dunkel geworden ist, wird der Geisterbeschwörer von einer unerklärlichen Angst befallen; ja, einige von ihnen haben erzählt, daß sie in einen solchen Angstzustand versetzt wurden, daß sie zu sterben meinten. Gleichzeitig beginnt die Trommel zu tönen und schwebt über den Köpfen der Anwesenden; manchmal scheint der Laut von hoch oben unter dem Dachbalken, manchmal vom Fußboden zu kommen.
Bei einer Geisterbeschwörung ist das Haus immer überfüllt. Alle Zuhörer singen Geisterlieder, um die Geister herbeizurufen. Währenddessen stöhnt der Geisterbeschwörer, als ob er mit gewaltigen Kräften ringe, bis man schließlich die ersten Hilfsgeister lärmend durch den Hausgang kommen hört; und im selben Augenblick verstummt der Gesang der Zuhörer.
Es erscheinen meistens mehrere Hilfsgeister zugleich, man kann sie rufen und schreien hören, bald aus weiter Ferne, bald im Hause, wo sie sich wie gewaltige Körper tummeln, während andere lautlos durch den Raum zu schweben scheinen, so daß man nur einen Hauch von ihnen merkt; einige sprechen in hohem Diskant wie Frauen, andere mit tiefem Männerbaß. Sowohl Geisterbeschwörer wie Geister drücken sich in einer besonderen Geistersprache aus, die nur Eingeweihte verstehen.
Jetzt gehört diese Art Geisterbeschwörung bei den Ostgrönländern einer entschwundenen Zeit an. Alle Versuche, mit der Natur und ihren Rätseln in Berührung zu bleiben, wurden mit der Einführung des Christentums verboten. Darum ist alles, was ich während meines Aufenthaltes bei den Ostgrönländern sammeln konnte, nur Tradition von Dingen, die einst waren. Nie wird die Zaubertrommel mehr den Takt zu den düsteren Liedern schlagen, die gemurmelt werden, wenn der bunte und gefürchtete Geisterzug sich nähert. Darum ist es von größter menschlicher und wissenschaftlicher Bedeutung, daß ein Mann wie Gustav Holm, der Verständnis für solche Studien hatte, den Stamm vor 35 Jahren besuchte, als er sich noch in völligem Naturzustande befand.
Wenn ein Geisterflug zu fernen Gegenden unter Begleitung der Hilfsgeister nötig ist, muß ein Hilfsgeist statt des Geisterbeschwörers zurückbleiben und darf das Haus nicht verlassen, bevor der Geisterflug beendet ist.
Bei einem solchen Geisterflug unternimmt der Geisterbeschwörer weite Reisen durch den Himmelsraum; viele meinen, daß seine Seele und sein Geist sich vom Körper loslösen, der dann zurückbleibt, während andere wiederum glauben, daß auch sein Körper diesen Flug mitmacht. Die Geisterflüge werden meistens in Krankheitsfällen und bei Seelenraub vorgenommen.
Es ist nicht leicht, das Verhältnis der Geisterbeschwörer zu ihren Mitmenschen und zur Wahrheit gerecht zu beurteilen; doch empfing ich den bestimmten Eindruck, daß die meisten Geisterbeschwörer für ehrenwerte Leute gehalten wurden, die selbst an ihre Beschwörungen glaubten und ihre Berufung stark empfanden.
Wenn sie auch weder in den Himmel noch unter das Meer gefahren sind, noch je alle die Hilfsgeister, die sie so lebendig schildern, gesehen haben, würde man doch eine große Ungerechtigkeit begehen, wollte man das Ganze als Betrügerei erklären.
Man muß vor allen Dingen den Zustand von Erregung und Ekstase in Betracht ziehen, die Furcht und das Entsetzen, das den Knaben ergreift, der als Geisterbeschwörerlehrling sich selbst überlassen ist, wenn er die Einsamkeit zwischen den Bergen aufsucht, um mit dem Uebernatürlichen in Verbindung zu kommen. Dadurch entwickelt sich eine Anlage zu Halluzinationen, die er nicht als eine nervöse Krankheit erkennt, sondern für eine heilige Gabe ansieht. Wenn er sein Gemüt durch Hunger und Einsamkeit, durch Angst und Beben erhitzt hat, kommen die Erscheinungen zu ihm.
Wenn er später als Geisterbeschwörer die Geister anruft, suggeriert er nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Zuhörern, daß eine Verbindung mit übernatürlichen Mächten besteht.
Viele, die die Geisterbeschwörer in ihrem Verhältnis zur Wahrheit geschildert haben, haben ihnen allzu leichtfertig den Namen von Taschenspielern und Komödianten gegeben; wenn auch manches, was bei den Geisterbeschwörungen vorgeht, durch Bauchredekunst und Taschenspielerei erklärt werden kann, muß man doch die Wirkung auf die Zuhörer in Verbindung mit der Mystik, welche die Handlung begleitet, beurteilen, und mit der Bedeutung, welche die Entscheidung einer wichtigen Sache auf leichtbewegliche und abergläubische Gemüter hat.
Was das Bauchreden anbetrifft, so hat der Geisterbeschwörer sicher selbst geglaubt, daß die Geister durch ihn sprachen, und hat er sich bewußt einzelner Kniffe bedient, so tat er es höchstwahrscheinlich nur, weil er sich dazu gezwungen sah, da er sich in seiner Kunst zu gering fühlte und nicht in dem Maße wie andere größere Geisterbeschwörer die Gunst der Geister besaß.
Diese Auffassung wird durch Berichte bestärkt, die ich durch alte Geisterbeschwörer erhielt, die mir ihre Lehrzeit und ihren Verkehr mit den Geistern zu schildern versuchten; sie glaubten selbst daran, und sogar Geisterbeschwörer, die getauft worden waren und denen ihre Priester und Lehrer erklärt hatten, daß ihre alten Kunststücke nur Lug und Trug wären, haben mir gegenüber behauptet, daß die übernatürliche Welt, in der sie früher lebten, nicht zu existieren aufgehört habe, daß nur sie durch ihren Uebertritt zum Christentum auf die Verbindung mit ihr verzichtet hätten.
Ein Erqilik, Inlandsbewohner, halb Mensch, halb Hund, der einen Wohnplatz bezeichnet, der vernichtet werden soll.
In dem primitiven Seelenleben der Naturmenschen spielen die Vorstellungen von Leben und Tod eine entscheidende Rolle. Betrachtet man aber die Verhältnisse genauer, so zeigt sich ein auffallender Unterschied zwischen der Lebensführung und der Lebensauffassung dieser Menschen. Sorglos und mutig spielen sie mit dem Leben in ihren gebrechlichen Kajaks und gehen dem Tode mit einer Furchtlosigkeit entgegen, die die Kulturmenschen nicht mehr kennen.
Ein Tupilak, der einen Mann im Kajak zu Tode erschreckt.
Sobald sie aber anfangen, über die Mystik des Todes nachzudenken, über den kurzen Schritt, der vom handgreiflichen Leben ins Unbekannte führt, legt der Ernst und die Unheimlichkeit des Todes einen Druck auf ihre Gemüter und schafft einen Gegensatz zwischen dem Leben selbst und den Lebensanschauungen. Darum verbindet der Eskimo den Eintritt ins Leben und das Aufhören desselben mit einer Unzahl wichtiger Regeln und Zeremonien, die genau innegehalten werden müssen, will man böse Einflüsse der Menschen wie der übernatürlichen Mächte fernhalten.
Eine Geburt geht in dem großen Wohnhause vor sich, wo alle Hausbewohner, oft hundert an der Zahl, sich bis zu dem Augenblick aufhalten, wo die Leibesfrucht zum Vorschein kommt.
Wenn eine Frau die Geburtswehen kommen fühlt, werden mehrere ältere Weiber herbeigerufen, die ihr beistehen sollen; die eigentliche Geburtshelferin setzt sich hinter der Frau auf die Pritsche und drückt und reibt den Leib der Wöchnerin, um ihr die Geburt zu erleichtern.
Sowohl die Frau, die niederkommt, als auch die Frauen, die ihr helfen, dürfen nicht wie sonst das Haar in einem Knoten, sondern müssen es offen tragen.
Aller Hausrat, besonders Felle, neue wie alte, müssen hinausgeschafft werden, selbst bei schlechtem Wetter. Verläuft die Geburt normal und lebt das Kind, können alle Sachen wieder hereingebracht werden. Kommt das Kind dagegen tot zur Welt oder stirbt es unmittelbar nach der Geburt, so müssen sie drei Tage lang unzugedeckt bei Wind und Wetter draußen bleiben.
Die Hebamme versucht die Wöchnerin auf redegewandte und eindringliche Weise zu unterhalten, damit sie die Schmerzen vergißt. Wenn die Geburt sich ungewöhnlich lange hinzieht, muß die Hebamme die Leibesfrucht rufen, indem sie kurze Flötentöne in den Schoß der Frau hineinruft. Zieht sich die Geburt in die Länge, muß sie ein Kind herbeirufen, einen Knaben oder ein Mädchen, das leicht zur Welt gekommen ist. Sie nimmt dann ein Stückchen Sehne, streicht damit über den Leib der gebärenden Frau und gibt es dem Kinde, das damit aus dem Hause läuft und die Sehne auf die Mauer der Eingangstür legt. Nach der Sehne nimmt sie kleine Stücken Fleisch, danach wieder Speckstücke, die sie alle schnell über den Leib der Wöchnerin reibt und draußen vor dem Hause auf dieselbe Stelle legen läßt.
Während dieses Vorganges spricht die Hebamme die ganze Zeit hindurch Zauberformeln, die nur sie kennt, und mittlerweile sollen die Sehnen auf mystische, für Menschen unerklärliche Weise helfen, das Kind aus dem Mutterleibe zu ziehen, während die Fleisch- und Speckstücke es nur im allgemeinen locken sollen. Dieses Mittel muß mit kurzen Pausen wiederholt werden; wenn eine Geburt sich lange hinzieht, sind bisweilen sämtliche Löcher und Vertiefungen in der Mauer mit Lockstücken gefüllt.
Helfen alle diese Verhaltungsmaßregeln nicht, so ruft die Hebamme den Mann der Frau herbei, der ununterbrochen zum Hause herein- und herauslaufen muß, um sein Kind zu veranlassen, hinterher zu laufen. Während der Vater aus- und einläuft, muß die Hebamme fortgesetzt dem Kinde flöten und gleichzeitig in den Schoß der Frau hineinrufen:
»Komm, eil' dich und folge deinem Vater. Laß deine Mutter nicht so lange leiden und das ganze Haus warten!«
Sobald der Kopf des Kindes sich zeigt, muß die Hebamme rufen:
»Es kommt, es kommt, es kommt!«
Und gleich müssen alle Hausbewohner aus dem Hause flüchten. Das geschieht oft unter solcher Panik, daß sie sich im Hausgang drängen und weder herein- noch herauskommen können.
Die Flucht muß für den Fall unternommen werden, daß das Kind totgeboren ist, weil die Hausbewohner sonst mit einem Toten unter einem Dach sein würden, und das muß auf alle Fälle von denen, die dem Toten nicht sehr nahe stehen, vermieden werden.
Geht die Geburt normal vor sich und lebt das Kind, dann kommen die Hausbewohner wieder herein; ist das Kind aber tot, muß die Leiche erst hinausgeschafft werden.
Drei Tage nach der Geburt des Kindes darf die Mutter nicht mit anderen aus einer Schüssel essen, sondern muß ihr eigenes Fleischgefäß haben. Auch darf sie nicht selbst aus dem Wasserbehälter schöpfen, sondern andere müssen es für sie tun und ihr das Gefäß an die Lippen halten.
Unmittelbar nach der Geburt bekommt das Kind einen Namen. Hat es eine Großmutter, so muß diese ihm den Namen geben, sonst ist es die Pflicht der Hebamme. Sie reinigt den Nagel ihres Goldfingers und gießt einige Tropfen Wasser unter den Nagel. Einen davon läßt sie auf den Mund des Neugeborenen fallen, faßt darauf den rechten Goldfinger des Kindes mit ihrer linken Hand und spricht den Namen.
Soll das Kind z. B. Kive heißen, erhält es den Namen auf folgende Weise:
»Qaut – Qaut – Qaut – Qaut!
Kivetaqaut.
Sie haben, sie haben, sie haben
einen Kive bekommen!«
Darauf werden Verstorbene, die dem Kinde am nächsten stehen, angerufen, ohne Unterschied zwischen Knaben- und Mädchennamen.
Eine schwangere Frau darf für das Kind, das sie zur Welt bringen soll, kein Zeug nähen, weil es tot zur Welt kommen kann, denn eine Frau muß vermeiden, Zeug für eine Leiche zu nähen; erst wenn die Geburt glücklich überstanden ist, näht man Seehundszeug für das Kind, das in der Zwischenzeit mit ganzen Fellen zugedeckt wird.
Ist das Kind ein Junge, so wird er gegen alle Gefahren des Lebens widerstandsfähig gemacht, indem Vater oder Großvater Zauberformeln über ihn sprechen.
Wenn Leute, die zauberkundig sind, ein Kind bekommen, auf das sie besonderen Wert legen, können sie dem Kinde ein »Ukutsuk«, eine abgeschnittene Seehundsnase, geben, die an der Spitze der Kapuze festgenäht wird; dadurch erhält der Knabe die Fähigkeit, Tupiláks oder Unglückstiere zu bekämpfen, muß dafür aber in seiner Jugend sehr enthaltsam sein und eine Diät befolgen, die beschwerlich ist.
Der Knabe, der bei seiner Geburt mit einem Ukutsuk-Amulett versehen wird, muß auch durch ein Tauffest gefeiert werden, außerdem sind in seiner Jugend bei besonderen Gelegenheiten festliche Mahlzeiten zu geben.
Wenn die ersten Zeremonien, die mit seiner Taufe und dem Amulett verbunden waren, vorgenommen sind, bringt der Vater einen ganzen Seehund aus seinem nächsten Winterdepot; dieser Seehund wird von der Hebamme zerlegt und gilt als der erste Fang des Jungen. Er wird darum so zerlegt, wie der Junge später seinen ersten Fang zerlegen soll.
Der Speck des Bauches wird in schmale Streifen geschnitten, darauf die Streifen in Würfel geteilt und alle Bewohner des Hauses, Erwachsene und Kinder, bekommen ein Stück. Der Vater teilt diese Speckstücke aus, indem er zu jedem einzelnen sagt: »Dies ist der erste Fang meines Sohnes, dies ist wirklich der erste Fang meines Sohnes.«
Wenn jeder etwas bekommen hat, sagt der Vater:
»Eßt den Seehund, eßt ihn ganz auf, doch dürfen keine Knochen genagt oder zermalmt werden!«
Man muß sich hüten, etwas von dem Skelett dieses Seehundes zu beschädigen, denn denselben Seehund soll der Junge sein ganzes Leben hindurch fangen. Das ist so zu verstehen:
Man hält die Tiere ebenso wie die Menschen für unsterblich, und der Seehund, den ein Mann zum ersten Male erlegt, bleibt immer bei ihm und läßt sich jedesmal, wenn er sterben soll, von demselben Fänger töten; wenn man aber rücksichtslos die Knochen eines Seehundes benagt, der von einem Neugeborenen gefangen ist, dann kann die Seele sich rächen, indem sie den Knaben von irgend einem Ungeheuer auffressen läßt.
Diese Zeremonie wiederholt sich jedesmal, wenn der Neugeborene neue Kleidung bekommt, bis er so groß ist, daß er zwischen den Fängern aufgenommen wird; auch später wird sie wiederholt, wenn der junge Fänger zum ersten Male eine Möwe, einen Eidervogel, einen Seehund, einen Narwal oder einen Bären erlegt hat.
Kinder, die weniger willkommen sind, erhalten nicht so viele Amulette und Beschützer in Gefahren und können ein viel freieres Leben führen. Wenn Eltern Kinder in frühem Alter verloren haben, versuchen sie häufig, die anderen gegen Krankheit und Tod zu schützen, indem sie sie zu Piarqusiat, das heißt, durch Kleidung lächerlich machen, aus dem Gedanken heraus, daß der Tod weniger Wert auf sie legt, wenn sie häßlich sind.
Ein Piarqusiat ist so gekleidet, daß die eine Seite nie wie die andere ist. Hat er zottige Kamiken an einem Bein, muß er Wasserkamiken ohne Behaarung an dem anderen tragen. Wenn die Haare an seinem einen Hosenbein gegen den Strich gehen, müssen sie am anderen mit dem Strich laufen. Sein Pelz muß dadurch komisch wirken, daß die Felle verschieden sind. Ganz gegen eskimoische Sitte schneidet man außerdem den Pelz vorn auf und versieht ihn mit einer großen Anzahl kleiner Knöpfe, so daß der Pelz zum Zuknöpfen ist. Einige befestigen auch einen Hundeschwanz hinten am Pelz, oder nähen Fetzen von Hundefell oder Bärenfell in den Pelz ein.
Wenn ein Mensch im Sterben liegt, muß dafür gesorgt werden, daß sein Eigentum aus dem Hause geschafft wird, bevor er stirbt.
Wenn der Tod eingetreten ist, wird die Leiche in ein Fell genäht und auf das Fell gelegt, worauf der Kranke gestorben ist; darauf wird sie zu dem Abhang geschleift, von wo sie ins Meer gestürzt, oder zu dem Steinhaufen, worunter sie begraben werden soll.
Ist der Verstorbene ein Mann, wird er in seine Jägertracht gekleidet und der Pelz an Hals und Handgelenken gut festgeschnürt. Ist es eine Frau, wird ihr die Pelzkapuze mit einem Tau um den Hals gebunden, weil der Pelz oben am Hals wegen des Amauts sehr offen ist. Man bindet die Kleidungsstücke so fest zu, damit die Verstorbenen nicht frieren.
Dem toten Mann gibt man seinen Kajak und alle Fanggeräte mit ins Meer. Der Kajak aber wird zerschlagen, bevor man ihn den Wellen übergibt. Wird der Mann begraben, zerschlägt man den Kajak nicht, sondern schneidet die Felle herunter, legt sie über den Toten und darauf wieder Steine. Ist der Verstorbene ein großer Fänger gewesen und hat man Felle genug, legt man andere Felle über den Leichnam, rollt die Kajakfelle zusammen und legt sie neben das Grab.
Die tote Frau bekommt all' ihre Nähgeräte, Fleischgefäße und Perlen mit, wenn sie großen Wert darauf gelegt hat. Ihre Lampe bekommt sie indessen nicht mit, weil Tran darauf ist, der sie auf ihrer Reise zum Lande der Toten beschweren würde.
Man muß sich hüten, die Toten zu berühren. Keiner außer den allernächsten darf beim Leichenbegängnis zugegen sein.
Unmittelbar nach dem Todesfall muß das Haus gereinigt werden, und alle Hausbewohner müssen sich am ganzen Körper waschen. Wer die Leiche berührt hat, muß alle seine Kleider fortwerfen und neue anziehen.
Im Vorhergehenden ist bereits gesagt, daß die schlimmsten Gefahren, die den Menschen drohen, von den Menschen selbst ausgehen. Ein Mann oder eine Frau können durch Zauberworte oder durch böse Gedanken allein Schaden tun. Man hält Neid für eine sehr gefährliche Eigenschaft, da das Verlangen, andere, die glücklicher sind, zu vernichten, dem Menschen verborgene Kräfte verleiht. Auch ein hitziger Mensch wird als gefährlich betrachtet. Von einem erregten Gemüt bis zur Bosheit ist es nicht mehr weit; Drohungen können lebendig werden, Flüche in Erfüllung gehen, und das machen sich Geister und Hexen zunutze.
Zauberei wird im geheimen betrieben, das macht die Gefahr und die Unsicherheit noch größer. Darum müssen alle Menschen mit Arnuat oder Amuletten geschützt sein, die sie gleich bei der Geburt bekommen; jedes Amulett hat seine besondere Bedeutung. Menschen, die ihren Landsleuten durch Zauberei schaden oder sie töten, werden Ilisitsut genannt.
Sind die verschiedenen Arten der Zauberei phantastisch und bizarr, so sind die Mittel, sich dagegen zu schützen, nicht weniger erfinderisch. Es gibt eine Unzahl von Amuletten, die in ihrer Kraftausstrahlung alle gleich rätselhaft, vielleicht aber gerade deshalb so begehrenswert sind.
Die gebräuchlichsten Fangamulette werden »Reiniger der Wurfwaffen« genannt; sie sind sehr verschiedenartig und werden meistens in den Kajaks angebracht. Man verwendet dazu getrocknete Flossen von einem Seehund, Gefieder von einer Schnepfe oder das Fell eines Seehundskopfes.
Amulette muß man von Kind auf haben, und man betrachtet es als ein Glück, so viele wie möglich zu besitzen, damit keine Gefahr einem hinterrücks nahen kann.
Frauen haben nicht so viele Amulette, denn ihr Leben ist weniger kostbar und darum auch weniger von den Mächten der Dunkelheit bedroht.
Der Anlaß zu den meisten von Ostgrönländern begangenen Mordtaten ist der Aberglaube, daß man die Seehunde erbt, die der Getötete erlegt haben würde, und in alten Sagen wird oft von Helden berichtet, die Menschen ohne Haß erschlugen, nur weil sie sich deren Fangtiere sichern wollten.
Ein Fänger nimmt seine Zuflucht zu Mord, wenn er beständig Unglück beim Fang hat und nicht mehr imstande ist, seine Familie zu ernähren. Der ganze Beutevorrat, den das Schicksal ihm bestimmt hat, ist aufgebraucht, und er hat nur noch den Ausweg, sich durch Mannesmord Seehunde zu verschaffen.
Mord, an einem Menschen begangen, fordert indessen immer Vergeltung, Tod muß mit Tod bezahlt werden, und auf diese Weise entsteht die sogenannte Blutrache. Darum ist diese nicht nur ein Racheakt, sondern eine religiöse Pflicht. Nicht allein, daß die Hinterbliebenen dadurch die Ehre der Familie retten, die Vergeltung gibt dem Ermordeten auch Genugtuung, ehrt sein Andenken und verschafft seinem Namen den notwendigen Frieden.
Wird der Tod nicht von den nächsten Verwandten des Ermordeten gerächt, kann er selbst Rache nehmen, und dann meistens auf viel schlimmere Weise.
All die Regeln, die man einhalten, und all die Rücksichten, die man auf einen möglichen Geist nehmen muß, sind übrigens Beweis dafür, wie schwierig es ist, einen Mord zu begehen.
Wenn ein Mann einen Mord begehen will, nimmt er das Schienbein von dem Vorderbein eines Hundes, befestigt es an einem Riemen und nimmt es mit auf alle Kajakfahrten. Lange muß er den Menschen, den er töten will, beobachten, ohne daß dieser eine Ahnung davon hat. Begegnet er ihm dann eines Tages auf dem Meere unter Verhältnissen, die seinem Vorhaben günstig sind, so harpuniert er ihn; ist es auf dem Lande, so benutzt er einen Pfeil. Der Ueberfall muß plötzlich geschehen, so daß der Ueberfallene sich erst über sein Schicksal klar wird, wenn er sich nicht mehr wehren kann. Sobald das Opfer tot ist, schneidet der Mörder ein Loch über der Nasenwurzel zwischen den Augen und zieht den Riemen hindurch, der an das Schienbein des Hundes festgebunden ist. Mit Hilfe dieses Riemens wird die Leiche an Land geschleift. Sobald sie an Land gezogen ist, muß der Kopf vom Rumpfe, der zweite Finger von der Hand und der zweite Zeh von den Füßen getrennt werden. Der Rumpf kann entweder zerlegt und auf dem Lande in kleinen Stücken über weite Strecken verstreut oder mit Hilfe eines Steines ins Meer versenkt werden. Dieser Stein muß von einem Grabe genommen und mit Flechten bewachsen sein.
Darauf schneidet der Mörder die Augen aus dem Kopf, legt sie mit dem Kopf und den Goldfingern in die Fangblase des Ermordeten und trägt sie über Land in die Richtung des Inlandeises. Die Augen werden in einen Bergsee versenkt, der so tief sein muß, daß er im Sommer nie austrocknet, außerdem muß ein flacher Stein darüber gelegt werden, der die Augen verbirgt. Die Fangblase mit dem Kopf und den Fingern kann ebenfalls in einen Bergsee versenkt oder auf einem Berge an einem Stein aufgehängt werden.
Diese Vorsichtsmaßregeln werden getroffen, damit der Ermordete seinen Körper nicht sammeln und sich an dem Mörder rächen kann. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln aber kann der Mörder nie sicher sein, daß der Tote sich nicht doch rächt, und muß sich darum noch mit Hilfe von Amuletten und Amulettriemen, den sogenannten Qigssutit, schützen.
Alle Ostgrönländer sind mit einem Amulett versehen, das aus einem Stück altem Speckschlamm aus einer Lampe besteht, das in einen Fellbeutel eingenäht und an Amulettriemen auf der Brust getragen wird. Dies ist ein allgemein gebräuchlicher Beschützer gegen Gefahren, indem dieser Schlamm, der sich bei einer Lampe absetzt, durch Feuer gestählt, besondere Kraft besitzt.
Ein Mensch aber, der einen Mord begangen hat, kann sich nicht mit einem gewöhnlichen Amulett begnügen, sondern muß die Kraft desselben noch erhöhen, indem er ein Stück Reisig aus dem Nest eines Raben, oder die Laus von einem Hai in den Schlamm legt; neben dem gewöhnlichen Beutel wird außerdem noch ein sehr kleiner Beutel getragen, in dem sich die Nägel vom Goldfinger des Getöteten befinden.
Raben sind kluge und geschickte Vögel, die das Reisig, woraus sie ihr Nest bauen, auf so geschickte Weise anbringen, daß es schwer zu finden ist. Sollte der Rächer indessen doch auf die rechte Spur kommen, wird er die Laus entdecken, die sich als ein schreckeinflößendes Ungeheuer zeigt und den Rächer abschreckt.
Ueberwindet er auch die Laus des Hais, setzt der Mörder seine letzte Hoffnung auf die Nägel des Ermordeten. Denn wenn die Seele sich dem Mörder nähert und bei ihm die Nägel seiner eigenen »Namen-Finger« entdeckt, wird sie glauben, daß es der Mensch ist, der nach ihr benannt wurde, und der ihr darum heilig ist. Dann vergißt die Seele alle Rachegedanken und nimmt in dem Körper des Mörders Wohnung.
Der beste Schutz gegen Vergeltung aber ist ein Sohn, der dem Mörder nach der Tat geboren wird. Dieser Sohn wird sein Igdlerssigssa genannt: sein Helfer gegen die Rächer. Er muß außer den gewohnten Amuletten stets ein Messer mit einem blanken Kupferblatt bei sich tragen. Dieses Blatt wird den Toten weit fortscheuchen. Außerdem muß er an dem linken Oberarm ein Armband tragen, das aus der Vorderflosse eines Seehundes gemacht ist; die Krallen der Vorderflosse werden den Rächer schrecken. Am rechten muß er ein Armband mit Perlen tragen, das bewirken soll, daß alle Krankheiten, die seinen rechten Arm, mit dem er die Harpune wirft, befallen, schnell durch die Löcher wieder abziehen. Der rechte Kamik, der im Gegensatz zum linken unbehaart sein muß, soll ihn schneller und behender machen als seinen Vater.
Außerdem muß er das Haar auf der rechten Seite kurz geschnitten tragen, während es auf der linken lang ist. Dadurch wird er nicht allein die verfolgende Seele schrecken, sondern auch gegen Krankheiten, die diese ihr anhexen will, immun gemacht.
Ein Tupilak oder Unglückstier kann von Männern oder Frauen geschaffen werden, die zauberkundig sind, und mit Hilfe des Wesens, das sie geschaffen haben, können sie Krankheit und Tod über denjenigen bringen, der ihren Haß erweckt hat.
Einen Tupilak kann man auf verschiedene Weise schaffen. Entweder aus einer Kinderleiche, in die man Leben zaubert und mit verschiedenen gefährlichen Eigenschaften ausrüstet, oder indem man auf folgende Weise ein ganz neues Wesen schafft:
Man sammelt die Knochen verschiedener Tiere und legt sie unter Moos, neben einen Elv. Die Knochen müssen von verschiedenen Tieren stammen, damit der Tupilak phantastisch und schreckeinflößend wird.
Wenn man die Knochen zu einem Skelett zusammenbindet, darf man sie nur mit dem Daumen und dem kleinen Finger berühren, sonst verliert der Tupilak seine Kraft. Als Fleisch und Muskeln verwendet man Torf und bekleidet schließlich das Tier mit einer alten abgenutzten Pritschenunterlage. Wenn das ganze Tier beisammen ist, spricht man Zauberworte, um es lebendig zu machen. Kaum hat es Leben bekommen, ruft es seinen Schöpfer, indem es kläglich Vater und Mutter sagt, je nachdem es von einem Mann oder einer Frau geschaffen wurde. Dann muß der Tupilak täglich, lange Zeit hindurch, an dem Geschlechtsteil seines Erzeugers saugen, damit er wächst und groß wird. Wenn er die Größe erreicht hat, die man ihm zu geben wünscht, setzt man ihn in einem Elv aus und mit diesem fließt er ins Meer. Dort taucht er unter und bleibt eine Zeitlang fort; wenn er den Kopf wieder aus dem Wasser steckt, ruft er seinem Erzeuger zu: »Was soll ich tun?« Dann muß der Betreffende den Namen seines Feindes nennen, und der Tupilak schwimmt darauf zu ihm hin. Oft wird das Opfer allein durch den schrecklichen Anblick des Tupilaks getötet.
Ein Tupilak hat immer ein Gesicht wie ein Mensch, kann aber die Gestalt eines Seehundes, eines Bären, eines Hundes oder einer Frau haben. Soll ein Mann getötet werden, tritt der Tupilak meistens als Seehund auf und läßt sich harpunieren. Wenn er die Harpune im Leibe hat, zieht er den Mann mit Hilfe der Harpunenleine unter Wasser, so daß er ertrinkt.
Ein Zauberkundiger, der Leben in einen Tupilak zaubert, der aus den Knochen aller möglichen Tiere gefertigt ist.
Zeichnung von Gêrteratq von Qerrovtusoq.
Ein Tupilak kann ebensogut durch Erde und Klippen wie durch Wasser schwimmen.
Er bekommt dasselbe zu essen, wie der Mensch, den er umbringen soll. Geschieht es, daß der Mann, den er umbringen soll, an Zauberkunst größer ist als sein Urheber, dann ist er machtlos, kann keinen Schaden anrichten, kehrt zu seinem Schöpfer zurück und frißt ihn auf. Darum ist es stets mit Gefahr verbunden, einen Tupilak zu machen. Sobald er seine Aufgabe erfüllt hat, hört er auf zu existieren.
Außer dem Tupilak gibt es noch ein anderes Wesen, das durch Zauberei geschaffen werden kann, der sogenannte Angiaq, ein für Menschen unsichtbares Schreckgespenst, das aus einer Leibesfrucht entsteht, die im Geheimen geboren wird. Dieser hat es nicht auf Menschenleben abgesehen, sondern hat nur die Aufgabe, Fangtiere von einem Fänger fortzuscheuchen. Er folgt meistens einem Kajak und gibt einen Laut von sich, wie ein Spatzenjunges, sobald ein Seehund auftaucht. Dann flüchten alle Seehunde, bevor der Fänger Zeit findet, sie zu harpunieren.
Tupilak und Angiaq treten oft in Sagen auf, aber auch im täglichen Leben gibt man ihnen Schuld an den meisten Unglücksfällen.
»Serratit« heißt Worte von Alten oder Worte, die von Vorfahren vererbt sind; sie dürfen nur selten und in äußerster Not angewandt werden.
Zauberworte werden von alten Männern und Frauen verschenkt oder verkauft und sollen, wenn man sie richtig verwendet, alle Schwierigkeiten überwinden und das Unmögliche möglich machen.
Eine »Serratgabe« kann nur zeitig am Morgen, vor Sonnenaufgang vergeben werden, und wird Artarsserpa genannt.
Ein junger Mann, der einem alten Fänger beim Herbeischaffen von gefrorenem Fleisch behilflich zu sein pflegte, erzählte mir einst, daß der Alte ihm aus Dank eine Serratgabe geschenkt habe. Eines Tages hatte er zu ihm gesagt:
»Morgen vor Sonnenaufgang sollst du mich auf den Gipfel eines hohen Berges begleiten; dort will ich dir etwas sagen.«
Am nächsten Morgen bei Tagesgrauen folgte der junge Mann ihm auf einen hohen Berg, und erst als sie das Meer nicht mehr sehen konnten, lehrte der Alte ihm eine Zauberformel, die ihm später oft das Leben gerettet hatte.
Ein Serrat wird gesprochen, indem man seinen Finger tief in den Hals steckt, bis man aufstößt. Dadurch bekommt man die Gewißheit, daß die Worte aus der Tiefe dringen. Die Kapuze muß man beim Hersagen über den Kopf ziehen, auch wenn man im Hause ist.
Wenn man jemand einen Serrat gelehrt hat, besitzt man ihn nicht mehr, er kann dann nur von dem benutzt werden, der ihn geschenkt bekommen hat.
Derartige Zauberworte werden benutzt:
Als Schutz gegen Gefahren und Widrigkeiten. Gegen Zauberei, Schreckgespenster, Spuk. Um Fänger zu retten, die auf dem Meere in Gefahr sind. Um Kranke zu heilen und die Wogen des Meeres und Stürme zu besänftigen. Um Tupilaks zu vertreiben und unschädlich zu machen, und in vielen anderen Fällen, wo Menschen Gefahren machtlos gegenüberstehen.
Zauberworte werden in der Regel sehr deutlich hergesagt und jedes Wort zweimal wiederholt. Zu einigen gehört auch eine Melodie; die Melodien werden ungefähr wie gewöhnliche Trommellieder gesungen. Die Zauberworte sind sehr schwer zu übersetzen, indem sie keinen eigentlichen Sinn enthalten. Ihre Wirkung und Kraft liegen in einer bestimmten Reihenfolge der Worte und Sätze, und auch darin, daß mehrere der Worte von Vorfahren stammen und in täglicher Rede nicht mehr gebraucht werden.
Hier ein Zauberlied, mit dem man Tupilaks verjagt:
Ia – ia,
er verfolgt mich, er verfolgt mich,
ein großer schwarzer Hund verfolgt mich.
Kriech in den Zügel meiner Hunde und geh deines Wegs,
kriech in den Zügel meiner Hunde und geh deines Wegs!
Ia – ia,
du sollst zu einem Fänger gehen,
ia – ia.
Was habe ich zwischen den Beinen?
Was habe ich zwischen den Beinen?
ia – ia.
Du gehst doch sonst deines Wegs,
du gehst doch sonst deines Wegs,
So geh deines Wegs!
Ia – ia!
Ein Serrat wie dieser ist sehr umständlich. Erst muß man ihn auf dem Dache des Hauses hersagen, dann beim Hauseingang vor dem Hause und schließlich beim Eingangsloch im Hausgang. Auf dem Dache des Hauses muß man beim Hersagen in der Richtung der Sonnenbahn gehen; wenn man fertig ist, muß man mit einem Messer durch die Luft schlagen. Das wird an allen Orten wiederholt, erst dann ist das Haus von bösen Geistern gereinigt.
Für alle schwierigen und drohenden Lebenslagen gibt es Serratit. Besonders die Geisterbeschwörer sind auf ihren Reisen geschützt, wenn sie Serratit in ihren Dienst nehmen, ja sogar ihre Hilfsgeister haben besondere Zauberworte, die sie zugunsten ihrer Herren benutzen.
Woher diese Formeln ursprünglich stammen, weiß man nicht genau; einige glauben, daß die Vorfahren sie von den Tieren gelernt haben, als diese noch sprechen konnten.
Das einzige, das man mit Bestimmtheit weiß, ist, daß ein Mensch Ruhe und Frieden findet, wenn die Zauberworte gesprochen sind, und darum bezweifelt man nicht, daß sie der Menschen beste Beschützer sind.