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Kuriose Geschichten


Von dem Mädchen,
das den Junggesellen durch ihre Schönheit tötete.

Es war einmal ein Junggeselle, der nie auf den Fang ging, sondern nur von der Beute anderer lebte. Wohl hatte er einst einen Kajak besessen, doch war er nur ein einziges Mal auf dem Meere gewesen. Darum wußte er gar nicht, wo sein Kajak lag.

Einst kam das Gerücht zum Wohnplatz, daß in östlicher Richtung ein Mädchen lebte, das so schön sei, daß jeder, der sie ansehe, sterben müsse.

»Die muß ich sehen,« sagte der Junggeselle und begann nach seinem Kajak zu suchen.

»Wo ist mein Kajak?« rief er, »wo, wo?« So eifrig hatte man ihn noch nie gesehen.

Er durchsuchte den ganzen Wohnplatz und fand ihn schließlich in einer Ecke, ganz von Kräutern überwachsen.

»He, ihr kleinen Mädchen alle,« rief er, »holt Speck und eßt die Kräuter Für den Ostgrönländer sind Bergkräuter mit Speck eine Delikatesse., die auf meinem Kajak wachsen.«

Die kleinen Mädchen kamen mit großen Stücken Speck angelaufen, denn es waren so viele Kräuter, daß eine Menge Speck dazu gehörte. Da waren Sauerampfer und Löffelkraut und Läusekraut und mancherlei eßbare Dinge. Als der Kajak schließlich ans Tageslicht kam, hatten all' die kleinen Mädchen sich den Magen verdorben.

»Jetzt mag es genug sein,« sagte der Junggeselle, trug seinen Kajak zum Wasser, ruderte in östlicher Richtung davon und kam zu dem Wohnplatz, wo das schöne Mädchen lebte.

»Da kommt ein alter Junggeselle!« riefen die Leute, als sie ihn kommen sahen. Der Junggeselle stieg aus seinem Kajak und ging ins Haus. Kaum aber hatte er einen Blick auf das schöne Mädchen geworfen, als er in Ohnmacht fiel.

»Der Junggeselle ist in Ohnmacht gefallen!« Und die Leute eilten herbei und zogen ihn an den Haaren, damit er wieder zu sich käme. Als er das Bewußtsein wieder erlangt hatte, setzte er sich auf die äußerste Kante der Pritsche und wagte das Mädchen nicht mehr anzusehen. Immer, wenn er es versuchte, fiel er wieder in Ohnmacht; nach und nach aber gewöhnte er sich daran, mit ihr in einem Hause zu sein, und schließlich saß er nicht mehr auf der äußersten Kante der Pritsche, sondern mitten drauf und wagte hin und wieder einen Seitenblick auf ihre Schönheit.

Es wurde Abend, und als man sich zur Ruhe begeben wollte, löste das Mädchen ihr langes Haar, und als es ihr auf die Schultern fiel, lächelte sie durch die schwarzen Haarsträhne dem Junggesellen zu.

Es war das erste Mal, daß ein Mädchen ihm zulächelte, und als er nun dieses Lächeln sah, fiel er in Ohnmacht und wäre fast nie wieder zu sich gekommen. Als er erwachte, war es dunkel im Hause, die Leute hatten sich zur Ruhe begeben, und er sah, daß das Mädchen ein Lager für zwei bereitete. Kaum hatte er es gesehen, als er von neuem in Ohnmacht fiel.

Zur Besinnung gekommen, bestieg er ihr Lager und schmiegte sich fest an sie an. Sein Eifer und seine Verwirrung aber waren so groß, daß er ganz verging und in dem Schoß des Mädchens verschwand.

Als man am nächsten Morgen im Hause erwachte, wunderte man sich, daß der Junggeselle schon so zeitig! aufgebrochen sei; als man aber seinen Kajak sah, schloß man, daß er noch da sein müsse und begann nach ihm zu suchen.

»Der Junggeselle ist verschwunden!« riefen die Leute, aber er war nirgends zu finden.

Spät am Vormittag erwachte die Schöne und ging hinaus, um ihr Wasser zu lassen, und die Hausgenossen wunderten sich, daß ihr Unterleib so geschwollen war. Sie blieb eine Weile draußen, und als sie wieder hereinkam, hatte sie ihre gewöhnliche Figur.

Als man aber hinters Haus ging, fand man das Skelett des Junggesellen an der Stelle, wo das Mädchen das Wasser gelassen hatte. Er war ganz aufgelöst, man sah nur einen Haufen Knochen und dazwischen seinen Kopf. So überwältigend war seine Liebe gewesen.

 

Von der Frau,
die so schön war, daß das Meer immer spiegelblank vor ihrem Wohnplatz lag.

Es lebte einst ein Fänger, der hatte eine Frau, die so schön war, daß der Wind in ihrer Nähe zu wehen vergaß; darum lag das Meer immer spiegelblank vor ihrem Zelt. Wenn ihr Mann vom Kajakfang nach Hause kam und eine ganz schwache Kräuselung auf dem Meere sah, nur einen bläulichen Schimmer, dann wußte er, daß seine Frau im Zelt war; wenn sie sich aber draußen aufhielt, und wehte es noch so sehr, dann war trotzdem das Meer vor seiner Wohnstätte spiegelblank.

Einst war ihr Mann wie gewöhnlich draußen. Er ruderte weit umher und kam erst gegen Abend nach Hause. Da sah er, daß aufgeregte Wogen bis ans Zelt schlugen, und gleich wußte er, daß seine Frau nicht da sei. Er legte an, ging ins Zelt, fand aber nicht seine Frau, sondern nur einige Kleidungsstücke von ihr vor; er ahnte nicht, wo sie geblieben war. Da brach er das Zelt ab, setzte das Boot ins Wasser und ruderte an der Küste entlang. Als er eine Weile gerudert war, kam er zu einem Zelt, aus dem ein Mann heraustrat, ein ungewöhnlich großer Mann, der seine langen Haare zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden hatte. Diesem Mann rief er zu, ob tags zuvor ein Boot vorbeigekommen sei.

Und der große Mann antwortete:

»Gestern ist ein Boot, von Süden kommend, vorbeigerudert.«

Rief der Mann wieder zurück:

»Kann ich hier jemanden zum Rudern bekommen?«

Der große Mann antwortete, daß er einen elternlosen Knaben bekommen könne, und forderte ihn auf, erst hereinzutreten und ein leckeres Gericht aus Sauerampfer und verdorbener Leber zu kosten. Der Fänger kam herein, kostete schnell von der Speise und ruderte darauf mit dem Elternlosen weiter.

Wieder fuhr er längs des Ufers und kam abermals zu einem Zelt. Dort kam ein Mann heraus, der dem anderen genau glich, er hatte auch so langes Haar, das im Nacken zu einem Knoten gebunden war. Diesen fragte er wieder, ob er tags zuvor ein Boot gesehen habe, und der große Mann antwortete wie der vorige, daß am vergangenen Tage ein Boot vorbeigekommen sei. Der Fänger fragte, ob er nicht einen Ruderer bekommen könne, und wieder bekam er einen elternlosen Knaben. Der große Mann lud ihn ebenfalls zu Sauerampfer und verdorbener, süßlicher Leber ein, er ließ sich aber so wenig Zeit, daß er nur einen Mundvoll aß und dann weiterruderte.

Sie ruderten und ruderten längs der Küste, bis sie in die Nähe eines Zeltplatzes kamen, wo das Wasser ganz still in der Bucht um den Wohnplatz lag, obgleich hin und wieder eine Kräuselung über das Meer ging. Da wußte er, daß seine Frau sich dort aufhielt; die leichte Kräuselung aber bedeutete, daß sie nicht mehr so schön war wie früher, weil sie Kummer bedrückte. Sie landeten, und als sie die Leute, die sie am Ufer empfingen, ausfragten, erfuhren sie, daß ein Mann, der in dem größten Zelt wohnte, die Frau geraubt und sie zu sich genommen habe. Als der Fänger dies vernommen hatte, schlug er sein Zelt daneben auf und war auf diese Weise Wohnplatzgenosse seiner Frau, ohne ihr nahekommen zu können, denn ihr Zelt wurde von vielen Männern bewacht, die dem Häuptling dienten, weil sie ihn fürchteten. So wohnte der Fänger lange neben seiner Frau; weil er aber nichts unternehmen konnte, beschloß er schließlich wieder heimzureisen. Er ließ sein Boot ins Wasser, belud es mit dem Zelt und seinen übrigen Habseligkeiten und schickte die Ruderer an Bord.

.

Wenn wir nachts schlecht träumen, liegt es daran, daß ein altes Zauberweib hereinkommt und auf uns zeigt. Dann stürzt unsere Seele in einen großen Schlund und wir haben böse Träume.

 

Darauf begab er sich zu dem Zelt, wo seine Frau sich aufhielt und sagte zu den Männern, die Wache hielten, er wolle seiner Frau nur zum Abschied die Hand drücken. Erst schlugen sie es ab, schließlich aber erlaubten sie es ihm doch. Auf diese Weise gelangte er ins Zelt, und indem er sich mit der einen Hand an der Zeltstange festhielt, streckte er die andere nach seiner Frau aus. Kaum aber hatte er ihre Hand berührt, als die Wächter sagten:

»Genug, du hast ihre Hand berührt, du hast ihr die Hand gedrückt.«

Er aber hielt die Hand seiner Frau fest, zog sie mit aller Gewalt an sich und warf sich darauf mit solcher Heftigkeit aus dem Zelt, daß er alle Männer, die draußen auf Wache standen, umriß; dann lief er mit seiner Frau zum Boot. In dem Augenblick, wo sie das Boot besteigen wollten, sauste ein Pfeil an ihnen vorbei; zum Glück hatte der Mann, der den Pfeil abgeschossen, keinen zweiten bei sich, so sicher war er seiner Sache gewesen. Als er sich aber wandte, um einen neuen aus dem Zelt zu holen, ergriff der Fänger seinen Bogen und schoß ihn nieder. Darauf begab er sich zum Zelt und tötete seinen Hund. Die beiden Leichen aber trug er in sein Boot, stieß vom Lande und zog von dannen.

Als sie eine kleine Weile gerudert waren, tauchte ein großer Seehund neben ihnen auf; auch diesen erschoß er mit einem Pfeil und zog ihn ins Boot. So ruderten sie heimwärts, und als sie eines Tages an einem Zeltplatz vorbeikamen, riefen die Bewohner ihm zu:

»Was hast du mit dem Mann gemacht, der Anteil an deiner Frau hatte?«

Er rief zum Lande hinüber, indem er den Seehund, dem noch der Pfeil im Körper saß, hochhielt:

»Nur diesen hab' ich getötet!«

Da gaben sich die Frager am Lande zufrieden.

Sie ruderten weiter, und als sie wieder zu einem Zeltplatz kamen, riefen die Bewohner wieder:

»Was hast du mit dem Mann gemacht, der Anteil an deiner Frau hatte?«

Und der Mann hob den Hund, dem noch der Pfeil im Leibe saß, und sagte:

»Nur diesen hab' ich getötet!«

Damit gaben die Frager am Land sich zufrieden, und sie ruderten weiter und kamen zu ihrem Wohnplatz; unterwegs aber hatte der Fänger den Frauenräuber in kleine Stücke zerschnitten und ins Meer geworfen, damit er sich nicht an ihm rächen sollte.

Von da an lebte er glücklich mit seiner schönen Frau, die nie wieder geraubt wurde; und das Meer lag immer blank und still vor ihrem Wohnplatz, da sie so schön war, daß der Wind es nicht wagte, in ihrer Nähe zu wehen.

 

Von den beiden Schwestern,
die so schnell laufen konnten, daß das Haar ihnen wie Flammen um den Kopf stand.

Es waren einmal zwei kleine Schwestern, die gingen so gern zusammen über Land, um sich im Laufen zu üben. Wenn man sie laufen sah, umflatterten ihre Haare sie wie Flammen.

Als sie einst über Land gingen, kamen sie zu einer Stelle, wo eine Menge Nujaussat wuchs, und sie pflückten davon. Nujaussat ist eine Sandblume mit vielen haarfeinen Wurzeln; diese Wurzeln wuschen die Mädchen im See und spielten dann mit ihr, daß es Haar sei, und sie flochten es oder banden es zu einem Knoten.

Wie sie noch in dies Spiel vertieft waren, sahen sie einen Hund auf sich zukommen, und als sie ihn näher betrachteten, siehe, da hatte er einen Haarknoten wie eine Frau. Da liefen sie aus allen Kräften davon und schlüpften schließlich in ein Haus. Der Hund aber, der sie verfolgt hatte, legte sich quer vor den Gang und versperrte ihnen den Ausweg.

Nun wußten die beiden Mädchen nicht mehr aus noch ein, und die jüngste sagte: »Ach, wüßte ich doch ein Zauberlied, um den Hund einzuschläfern.«

»Ich weiß eins,« sagte die ältere, und sie sang es, bis der Hund in tiefen Schlaf versank. Darauf sprang sie über ihn weg und kam in den Hausgang, ohne daß er etwas merkte. Die kleinere Schwester folgte ihr, trat aber unglücklicherweise dem Hund aufs Ohr. Sie erschrak sehr, denn sie fürchtete, daß der Hund erwachen würde; der aber lachte nur im Schlaf.

So kamen sie glücklich aus dem Hause und liefen, was ihre Beine sie tragen wollten, zu ihrem Wohnplatz, während ihr Haar sie wie Flammen umstand.

Sie hatten ihren Wohnplatz fast erreicht, als sie sich umdrehten und zu ihrem Schrecken sahen, daß der Hund hinter ihnen herkam. Ein Frauenboot war gerade im Begriff, von Land zu stoßen, und sie riefen: »Nehmt uns mit, nehmt uns mit!« Und obgleich das Boot schon abgestoßen war, waren sie so leichtfüßig, daß erst die Aelteste und dann die Jüngste mitten ins Boot sprang.

Der Hund aber lief ratlos am Ufer hin und her und wagte nicht hinter den Mädchen herzuspringen; darauf begab er sich zum Zeltplatz, und jedesmal, wenn er ein weibliches Bekleidungsstück fand, ein Paar alte Hosen oder einen alten Pelz, zog er es an und sah urkomisch aus.

Das Boot aber ruderte zu einer Insel und nahm dort Land.

Auf dieser Insel spielten die beiden Mädchen wieder ihr Lieblingsspiel, indem sie Nujaussat pflückten und Flechten oder Haarknoten daraus banden. Als sie einmal an einem See spielten, hörten sie, wie sich etwas unter gewaltigem Getöse näherte, und als sie sich umblickten, sahen sie, daß ein gewaltiger Wurm auf sie zugekrochen kam; jedesmal, wenn er einen Teil seines Oberkörpers hob und wieder streckte, entstand das Getöse, das ihnen so rätselhaft erschienen war.

Sofort sprangen sie auf und liefen zum Wohnplatz, indem sie schrien: »Wir werden von einem großen Wurm verfolgt! Macht das Boot bereit, wir müssen fliehen!«

Das Boot aber lag schon bereit, und sie sprangen mit einem Satz hinein. Als es von Land stieß, reckte sich der Wurm über das Wasser und schleuderte seinen Oberkörper mit solcher Wucht über das Boot, daß es kenterte und alle Menschen ertranken.

Und so endet die Geschichte von den beiden kleinen Mädchen, die so schnell laufen konnten, daß ihr Haar sie wie Flammen umstand.

 

Von den Wildgänsen,
die den Blinden sehend machten.

Es war einmal eine alte Frau, die lebte allein mit ihren Enkelkindern, einem Knaben und einem Mädchen; der Junge war schon so groß, daß er auf den Fang ging. Als er eines Tages draußen gewesen war, kam er mit einem jungen Seehund nach Hause, dessen Fell ganz weiß war. Es war zu der Zeit, als Frauen weiße Seehundsfellhosen so gern trugen. Kaum sah die Alte den Seehund, als sie rief:

»Wie schön! Davon will ich Hosen haben!«

Der Knabe aber sagte:

»Ich möchte mir lieber Riemen daraus machen.« Und die Großmutter antwortete, ohne ihm zu widersprechen: »So mache dir meinetwegen Riemen daraus.«

Darauf bereitete sie das Fell und entfernte den Speck und die Haare; als sie aber fast fertig war, flüsterte sie über das Fell hin:

»Platze in dem Augenblick, wo er dich strecken will, und springe ihm in die Augen, so daß er erblindet!«

Und so geschah es. Als der Enkel die Riemen spannen wollte, sprang ihm das Fell in die Augen und er erblindete. Nun konnte er nicht mehr auf die Jagd gehen, sondern mußte zu Hause bleiben. Eines Tages, als der Frühling nahte, sah die Großmutter einen großen Bären angetrottet kommen. Schnell lief sie zu ihrem Enkel hinein und sagte:

»Ein großer Bär kommt angetrottet; wir wollen den Bogen für dich einstellen, so daß du den Pfeil nur abzuschießen brauchst.«

So geschah es, und der Blinde traf den Bären ins Herz.

»Ach, du hast fehlgeschossen!« schrie die böse Großmutter.

Der Blinde aber sagte: »Ich, hörte den Bären doch brummen, als ob er ins Herz getroffen sei.«

Enttäuscht kehrte er ins Haus zurück, von seiner kleinen Schwester geführt. Die Schwester ging hinaus, kam aber gleich darauf wieder zurück.

»Was willst du?« fragte der Bruder.

»Ich soll Großmutters Messer holen.«

»Was will sie mit dem Messer?«

»Weiß ich's?« sagte die Schwester, denn die böse Großmutter hatte ihr streng verboten, von dem toten Bären zu sprechen. Die Großmutter zerlegte den Bären und verwahrte das Fleisch wohl. Den Blinden aber ließ sie hungern, weil sie den ganzen Bären für sich haben wollte; nur dem kleinen Mädchen gab sie etwas. Die Schwester jedoch verbarg von ihrem Anteil unter ihrem Zeug und gab ihrem Bruder davon, ohne daß die Großmutter es merkte.

Schließlich bekam der Blinde es satt, immer im Hause zu hocken, und er bat seine Schwester eines Tages, ihn auf den Gipfel eines Berges hinter dem Hause zu geleiten. Als sie den Gipfel erreicht hatten, sagte er:

»Drei Tage will ich hier bleiben, dann sollst du mich holen und zurückgeleiten.«

So saß denn der Blinde auf dem Berge und lauschte auf alles, was um ihn herum vorging. Bisweilen flogen ganze Vogelschwärme über seinen Kopf hin, und er konnte das Rauschen ihrer Flügel hören.

Eines Tages kamen sechs Wildgänse vorüber, und als sie ihn sahen, ließen sie sich bei ihm nieder und sagten:

»Ei, dort sitzt ein Mensch! Warum er wohl so traurig aussieht?«

Da erzählte der Knabe von seinem Unglück. Als die Wildgänse das hörten, sagten sie:

»Du irrst, nicht der Riemen ist schuld, sondern deine böse Großmutter, die ihn verhext hat. Wir wollen versuchen, dir zu helfen; bleibe ruhig sitzen und laß alles, was wir tun, über dich ergehen.«

Darauf hüpfte die Jüngste der Gänse vor ihn hin und ließ einen großen Klecks Vogeldünger in seine Augen fallen und trocknete sie ihm darauf sorgsam mit ihren Flügeln wieder aus. Dann kam die nächste und ließ noch mehr in seine Augen fallen, so daß die Masse sein Gesicht förmlich wärmte, während sie ihm über die Backen rann. Auch sie trocknete ihm dann sorgsam die Augen mit ihren Flügeln wieder aus. So taten sie der Reihe nach. Er merkte bald, wie seine Umgebung heller wurde, noch aber konnte er nichts sehen. Da kam die älteste und größte, ein alter Gänserich, holte tief Atem und ließ dann einen so gewaltigen Klecks in seine Augen fallen, daß der Blinde fast das Gleichgewicht verloren hätte. Als aber der alte Gänserich auf ihn zuhüpfte und seine Augen austrocknete, konnte er plötzlich sehen, so weit und scharf, wie ehedem.

So gaben die Wildgänse ihm sein Augenlicht zurück und flogen darauf weiter über die Berge.

Als die drei Tage um waren, kam seine kleine Schwester, um ihn zu holen. Er tat, als ob er noch immer blind sei und schloß die Augen. Sie geleitete ihn und wunderte sich, daß er so schnellfüßig geworden war und gar nicht fehltrat, wenn sie über eine Schlucht mußten. Als sie zum Hause kamen, öffnete er die Augen ein klein wenig und sah über dem Hausgang einen herrlichen Bärenrücken liegen und an dem Trockengestell ein schönes Bärenfell hängen. Im Hause öffnete er die Augen wieder ein ganz klein wenig, und entdeckte gleich unter der Pritsche, auf der Schüssel seiner Großmutter, einen herrlichen Bärenschinken. Seine Großmutter betrachtete ihn prüfend und sagte:

»Na, du Armer, wie geht es deinen Augen?«

»Es ist immer dasselbe,« antwortete er.

Nachdem er eine Weile schweigend dagesessen hatte, begann er:

»Heute nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Mir träumte, ich sähe einen Bärenrücken über dem Hausgang und ein Bärenfell, das zum Trocknen ausgespannt war, und unter Großmutters Pritsche einen großen Bärenschinken!«

»Wahrscheinlich ist ein Bär schuld, daß du dein Augenlicht verloren hast,« sagte die Großmutter, »ein Zauberbär, der jetzt in deinen Träumen wiederkehrt.«

Bei diesen Worten schlug der Blinde die Augen auf, beugte den Kopf herab und zeigte auf den großen Bärenschinken unter der Pritsche und sagte:

»Von diesem Schinken hat mir geträumt, liebe Großmutter.«

»Nicht möglich!« sagte sie und lachte einschmeichelnd. »Denk dir, diesen Schinken habe ich für dich aufbewahrt, damit du etwas Gutes haben solltest, wenn du vom Berg herabkämest.«

»Nein,« sagte der junge Mann, »diesen Schinken will ich nicht anrühren, werde mir schon selbst etwas zu essen verschaffen.«

Und damit ging er aus dem Hause. Im selben Augenblick aber kam ein großer Zug Weißfische am Wohnplatz vorbei. Der Knabe griff nach seiner Harpune und harpunierte einen Fisch, worauf er ihn an seiner Fangleine an Land zog. Da kam die Großmutter mit ihrem Messer aus dem Hause gestürzt und rief:

»Ich werde den herrlichen Weißfisch zerlegen!«

»Der ist nicht für dich,« sagte der Junge, »der ist für meine kleine Schwester und mich; wenn du auch einen Weißfisch haben willst, werde ich einen für dich harpunieren, doch mußt du ihn selbst an der Fangleine halten.«

Dazu war sie bereit. Als aber der Enkel mit der Leine kam und sie ihr um den Leib band, wurde sie doch ein wenig ängstlich:

»Der Weißfisch darf aber nicht zu groß sein,« sagte sie.

Sie gingen nun zusammen zu einer kleinen Landzunge. Als ein kleiner Weißfisch ganz in ihrer Nähe auftauchte, rief die Großmutter:

»Der soll es sein!«

Als der Enkel aber schon die Harpune gehoben hatte, tauchte gleich daneben ein gewaltiger Weißfisch auf, und auf den warf er seine Harpune. Die böse Großmutter griff nach der Fangleine, suchte sich eine kleine Felsspalte, stemmte die Beine dagegen und hielt den Weißwal mit ihrer ganzen Kraft. Jedesmal, wenn er auftauchte und anzog, erbebte sie am ganzen Körper. Der Enkel gab ihr aber einen kleinen Stoß, so daß sie den Boden unter den Füßen verlor und ins Wasser flog. An der Stelle, wo sie verschwunden war, sah man nur ein wenig Schaum. Kurz darauf kam der Weißfisch an die Oberfläche, um zu atmen, und da sah man auch den Haarschopf der Alten, der durch das Wasser schnitt, und kurz darauf tauchte sie selbst auf und schrie aus vollem Halse:

»Uluga, uluga, uluga! Mein Schlachtmesser! Gebt mir mein Schlachtmesser!«

Darauf verschwand der Weißfisch wieder und mit ihm das Weib; jedesmal aber, wenn er auftauchte, sah man, daß sie sich näher an ihn herangezogen hätte, und schließlich saß sie rittlings auf ihm, bereit, ihn zu schlachten, immerzu nach ihrem Messer schreiend. Der Weißwal aber schwamm weiter und weiter ins Meer hinaus, und die böse Großmutter, die jetzt ihre Strafe bekam, wurde mit hinausgezogen, und man hat nie wieder etwas von ihr gesehen.

 

Bär »Messerschwanz« und »Sägerücken«

Es war einmal ein Fänger, der hatte zwei Pflegekinder, einen Bruder und eine kleine Schwester. Im Herbst, wenn die Beeren reif wurden, pflegten die Kinder auszuziehen, um die Beeren für den Wintervorrat zu pflücken.

Eines Tages, als sie wie gewöhnlich den ganzen Tag Beeren gesammelt hatten und sich auf dem Heimwege befanden, sahen sie einen Riesen, der nur ein Auge und ein Bein hatte und hinter ihnen her lief. Sie flüchteten und verbargen sich in einer Felsenkluft, der Bruder zu oberst und die Schwester zu unterst. Der Riese aber entdeckte sie und schleuderte den Bruder zur Seite, packte die Schwester und sagte:

»Die will ich zur Frau haben.«

Worauf er die kleine Schwester entführte. Der Bruder aber ging weinend nach Hause und erzählte seinen Pflegeeltern, was sich zugetragen hatte. Die Pflegeeltern trauerten sehr, da sie aber nichts machen konnten, mußten sie sich schließlich damit abfinden. Nur der Bruder konnte seine Schwester nicht vergessen, und während er heranwuchs, übte er sich in mancherlei Fertigkeiten, suchte Berggeister auf, um Geisterbeschwörer zu werden, und bildete seine Kräfte auf alle mögliche Art aus. Als er herangewachsen war, fragte er seine Pflegemutter:

»Welche Tiere gebraucht man als Gespann?«

Man kannte an diesem Wohnplatze keine Hundegespanne.

Darauf antwortete die Pflegemutter:

»Ich habe sagen hören, daß man Hasen vor den Schlitten spannt.«

Nun ging der Pflegesohn über Land, um Hasen zu fangen. Nachdem er so viele gefangen hatte, wie er nötig zu haben meinte, kehrte er nach Hause zurück. Dort baute er sich einen Schlitten und spannte die Hasen davor. Er fuhr weit über Land, als er aber auf dem Heimweg war, wurden die Hasen so müde, daß er fast nicht nach Hause kommen konnte. Darum tötete er sie alle nach seiner Rückkehr und fragte seine Pflegemutter von neuem:

»Welche Tiere gebraucht man als Gespann?«

Und die Pflegemutter antwortete: »Ich habe erzählen hören, daß man Füchse vor den Schlitten spannt.«

Da zog der Pflegesohn aus und fing Füchse. Als er genug zu haben meinte, ging er nach Hause. Dort machte er Zügel für alle und begab sich mit ihnen auf den Weg. Er fuhr weit; als er aber umkehrte, ging es nicht anders als das erstemal, sein Gespann war so ermattet, daß es fast nicht nach Hause kam. Darum schlug er sie tot und sagte zu seiner Pflegemutter:

»Weißt du, welche Tiere man als Gespann braucht?«

Die Pflegemutter antwortete: »Ich habe sagen hören, daß man Bären vor Schlitten spannt.«

Zeitig am nächsten Morgen zog er aus, um einen Bären zu fangen. Er ging über Land, erspähte einen großen Bären, fing ihn, band sein rechtes Vorderbein hoch, damit er ihm nicht davonlaufen konnte, und nahm ihn mit nach Hause. Dort fuhr er ihn ein, und als er gelernt hatte, einen Schlitten zu ziehen, machte er eine Probefahrt mit seinem neuen Zugtier. Er fuhr weit über Land und kam zurück, ohne daß der Bär ermüdete. So versuchte er es mehrfach, und als er zufrieden war, fragte er seine Pflegemutter wieder:

»Weißt du, welche Tiere man als Gespann benutzt?«

Die Pflegemutter antwortete: »Ich habe sagen hören, daß man Tiere mit Eisenschwänzen vor den Schlitten spannt. Es sind große Tiere, die sich zwischen Steingeröll aufhalten.«

Darauf machte er sich einen Zaum für das Tier und ging ins Land hinein; als er lange gegangen warf kam er zu einer Stelle, die aus lauter Steingeröll bestand, und dort fand er nach einigem Suchen ein großes Tier, das einen Eisenschwanz hinter sich her zog. Es fraß von dem Steingeröll. Er ging auf das Tier zu, das aber schwang die ganze Zeit seinen Schwanz, der wie ein Messer geformt war, hin und her, um ihn zu stechen. Schließlich aber glückte es ihm doch, das Tier zu fangen. Er band das eine Bein hoch, befestigte den Schwanz und zog es mit nach Hause. Anfangs wollte es immer mit dem Bären kämpfen, schließlich aber gewöhnten sie sich aneinander, und als sie gute Freunde geworden waren, fuhr er eines Tages mit ihnen zusammen aus. Er fuhr weit über Land und kam nach Hause, ohne daß sein Gespann müde geworden war. Jetzt war er zufrieden. Da er aber gern noch ein Tier haben wollte, fragte er eines Tages seine Pflegemutter:

»Weißt du, welche Tiere man als Gespann benutzt?«

Und die Pflegemutter antwortete: »Ich habe sagen hören, daß es große Tiere gibt, die eine Säge auf dem Rücken haben.«

»Wo aber findet man ein solches Tier?«

Die Pflegemutter antwortete: »Ich habe sagen hören, daß sie sich in tiefen Gletscherspalten aufhalten.«

Am nächsten Tage machte er sich auf den Weg, um ein solches Tier zu fangen. Er kam zu den Spalten des Inlandeises und begann zu suchen; und siehe da: In einer tiefen Spalte erblickte er ein Tier, das eine scharfe Säge auf dem Rücken hatte. Obgleich das Ungeheuer ihn schneiden wollte, fing er es doch, band das eine Vorderbein hoch und zog es mit sich nach Hause. Anfangs vertrugen sich Bär Messerschwanz und Sägetier schlecht, als sie sich aber aneinander gewöhnt hatten, fuhr er mit ihnen aus. Er fuhr weit über Land und kam zurück, ohne daß sie im geringsten ermüdet waren. Jetzt endlich war er mit seinem Gespann zufrieden.

Gleich nach seiner Heimkehr begann er Geister zu beschwören. Er wollte die Fußspuren seiner Schwester sehen, und als alles Verborgene sich ihm mit Hilfe der Geister offenbart hatte, entdeckte er die Spuren und folgte ihnen mit seinem Gespann.

Mit starker Geschwindigkeit fuhr er übers Eis und erblickte bald eine Insel. Dort entdeckte er große Fußspuren und sah gleich, daß es die Spuren des einbeinigen Riesen waren. Diesen Spuren folgte er. Nachdem er lange mit Windeseile gefahren war, kam er zu einem Hause, band seine Zugtiere an den Eisfuß desselben und ging hinein. Dort saß seine Schwester, er erkannte sie gleich. Ihr Mann war auf den Fang gegangen. Nachdem sie eine Weile schweigend beisammen gesessen hatten, sagte er zu ihr:

»Soll ich deinen Mann erschlagen?«

Die Schwester antwortete: »Mein Mann liebt mich und sorgt gut für mich, darum sollst du ihn nicht erschlagen.«

Der Bruder antwortete: »Ich sterbe vor Sehnsucht nach dir und deshalb muß ich ihn töten.«

Als die Schwester das hörte, sagte sie: »So töte ihn denn.«

Endlich kehrte der Mann vom Fang nach Hause. Schon von weitem sah er die fremdartigen Zugtiere und den Schlitten und lief eiligst auf sein Haus zu. Gleich als er hereinkam, fiel sein Auge auf den fremden Gast Er starrte ihn mit einem bösen Blick an. Seine Frau sagte:

»Das ist mein Bruder, mit dem ich zusammen war, als du mich raubtest.«

Als der Riese das hörte, wurde er gleich freundlich gegen den Gast, sie plauderten zusammen, und schließlich lud der junge Mann den Riesen ein, ihn zu besuchen.

»Besuchen will ich dich nicht, denn ich fürchte mich vor deinem Gespann.«

»Vor meinem Gespann brauchst du dich nicht zu fürchten. Du mußt nur die ganze Zeit voranlaufen, damit es dich nicht erreichen kann.«

So beruhigt, versprach der Riese, ihn zu besuchen. Zeitig am nächsten Morgen brachen sie auf.

Und der Riese lief vor dem Schlitten, und das Gespann setzte hinter ihm her. Wenn die Tiere ihm auf den Fersen waren, sprang er mit gewaltigen Sätzen voran, und die Tiere blieben zurück. So kamen sie mit riesiger Geschwindigkeit zu Hause an. Als die anderen ins Haus gingen, mußte der Riese draußen bleiben, weil er zu groß war. Der Schwager aber sagte zu ihm:

»Ich will ein Fell im Hausgang breiten, damit du dich dort strecken kannst.«

So geschah es. Der Schwager aber ging zu seinem Gespann und sagte zum Bären: »Du sollst dich auf ihn werfen und in sein Hinterteil beißen.«

Zum Sägetier aber sagte er: »Du sollst mit aller Macht auf seinen Leib lossägen.«

Und zum Messerschwanz sagte er: »Du sollst ihn am ganzen Körper stechen.«

Kaum hatte er das gesagt, als alle Tiere sich auf den Riesen stürzten. Als aber der Bär ihn zu beißen begann, sagte er:

»Ich glaube, eine Laus beißt mich.«

Und als er ihn immer mehr peinigte, kroch er hinaus. Hier aber fiel das Sägetier über ihn her und sägte ihn an, bis seine Gedärme herausfielen; der Messerschwanz aber sprang um ihn herum und stach ihn am ganzen Körper, bis er tot im Schnee umfiel.

Auf diese Weise bekam der Mann seine geraubte Schwester zurück, und sie sollen noch heutigentags zusammen wohnen.

 

Von einem alten Junggesellen,
der jung und hübsch wurde, weil er einem Unterirdischen das Leben rettete.

Es war einmal ein alter Junggeselle, der an einem großen Wohnplatz lebte. Er war so faul, daß er immer schlief; wenn seine Wohnplatzgenossen morgens auf Fang auszogen, lag er und schlief; und wenn sie nachmittags zurückkamen, schlief er noch immer. Seine Kleidung war verschmutzt, sein Körper und sein Kopf voller Läuse, und sein Kajak, der immer auf Land lag, war von Unkraut und Gras überwachsen.

Eines Tages aber geschah es, daß der alte Junggeselle seinen Kajak zum Meere trug und hinausruderte. Nachdem er ein Stück gerudert war, stieß er auf einen Kajak, der kielaufwärts lag; er drehte ihn um und sah, daß es ein Ingnerssuaq, ein Unterirdischer ohne Nase war, der Schiffbruch gelitten hatte. Der Junggeselle zog den Kajak an Land und machte Wiederbelebungsversuche. Als der Unterirdische zu sich gekommen war, wandte er sich an den Junggesellen und sagte:

»Du hast mein Leben gerettet, wie soll ich es dir lohnen?«

Der Junggeselle überlegte, was er sich wünschen könnte, als ihm aber nichts einfiel, sagte der Unterirdische:

»Ich werde für dich wählen. Ich will dich zu einem hübschen jungen Mann machen, alle Läuse sollen von deinem Kopf verschwinden, dein Haar soll wieder wachsen und du sollst ein tüchtiger Fänger werden.«

Der Junggeselle ruderte nach Hause und legte sich gleich schlafen. Als er am nächsten Morgen erwachte, sah er zu seinem Staunen, daß es noch ganz zeitig war, und als er sich betrachtete, war er ein junger und hübscher Mann, mit langem Haar, die Läuse hatten Kopf und Körper verlassen und seine zerlumpten Kleider, die sonst von Schmutz starrten, waren rein und heil geworden. Er ruderte hinaus und kam nach kurzer Zeit mit reicher Beute zurück. So ging es Tag ein, Tag aus. Zum großen Erstaunen seiner Wohnplatzgenossen war er in einen ganz anderen Menschen verwandelt, der morgens früh auszog und abends mit Beute nach Hause kam.

Da begannen auch die jungen Mädchen ihre Blicke auf ihn zu werfen, und es dauerte nicht lange, da nahm der alte Junggeselle sich das hübscheste Mädchen zur Frau, und sie lebten froh und glücklich miteinander. Aber nicht lange darauf begann die Frau ihren Mann auszufragen, was ihn so verwandelt habe. Da der Unterirdische ihm aber Schweigen auferlegt hatte, so wich er ihr immer aus. Die Frau aber fuhr fort, ihn zu quälen, besonders des Nachts, und schließlich wurde sie so einschmeichelnd, daß er ihr nicht widerstehen konnte und erzählte, wie er einem Unterirdischen das Leben gerettet habe und daß die Verwandlung der Lohn gewesen sei.

Kaum aber hatte er seiner Frau die Geschichte erzählt, als er furchtbar gähnen mußte, und bald darauf fiel er in tiefen Schlaf. Als er aber am nächsten Morgen erwachte, war er wieder der alte Junggeselle mit Läusen schmutzstrotzenden Kleidern, und sein Kajak lag wieder am Lande und war von Gras und Unkraut überwachsen.

Die Frau aber, die an dieser Verwandlung schuld war, wollte nicht mehr mit dem alten schmutzigen Junggesellen, der immer schlief, zusammen leben, verließ ihn und nahm sich einen anderen Mann.

 

Von dem dicken Imarasugssuaq, der seine Frauen fraß.

Imarasugssuaq war ein dicker und breitschultriger Fänger. Er wohnte allein an seinem Wohnplatz, der fern von dem anderer Menschen lag. Jedesmal, wenn man hörte, daß Imarasugssuaq sich eine Frau genommen hatte, dauerte es nicht lange, bevor man erfuhr, daß er wieder Witwer geworden sei. Und dabei wählte er immer die schönsten und kräftigsten Frauen.

An einem Wohnplatz lebte ein junges Mädchen, das Misána hieß; sie war sehr hübsch und tüchtig und wußte es selbst. Als sie hörte, daß Imarasugssuaq wieder Witwer geworden war, erwartete sie daher, daß er kommen und um sie anhalten würde. Und so geschah es. Imarasugssuaq kam und begehrte sie zur Frau, und sie folgte ihm. Aber sie ging nicht allein, sondern nahm ihren kleinen Bruder mit. Als sie eine Zeitlang zusammen gelebt hatten, begann der Mann den kleinen Bruder zu mästen; er gab ihm viel zu essen, aber nichts zu trinken, und wenn er auf den Fang ging, verschloß er den Wasserbehälter. Misána war es unerklärlich, warum ihr Mann so gegen ihren kleinen Bruder handelte.

Als einige Zeit vergangen war, kam Imarasugssuaq bei seiner Rückkehr vom Fang immer mit solcher Heftigkeit durch den Hausgang in die Stube gesprungen, daß seine Frau und sein kleiner Schwager furchtbar erschraken. Und seine Heftigkeit schien mit jedem Tage zuzunehmen. Als er eines Tages wieder so hereingesprungen kam, erstach er unversehens den kleinen Jungen mit seinem Messer. Darauf zerlegte er ihn und befahl seiner Frau, einen großen Topf aufs Feuer zu setzen. Sie weinte heimlich vor Kummer und Schmerz, hütete sich aber, den Mann etwas merken zu lassen. Als das Fleisch gekocht war, verlangte Imarasugssuaq, daß sie mitessen solle. Sie wehrte sich lange, weil sie sich aber vor ihm fürchtete, gab sie sich den Anschein, als ob sie äße und ließ die Bissen unter ihre Jacke fallen. Imarasugssuaq aber aß mit großem Appetit, bis nichts mehr übrig war.

Als wieder einige Zeit vergangen war, begann er seine Frau auf dieselbe Weise zu mästen; jedesmal, wenn er auf den Fang ging, verschloß er den Wasserbehälter, und als die Zeit kam, wo er sich nicht mehr beherrschen konnte und mit immer größerer Wildheit ins Haus gesprungen kam, war sie sich klar darüber, daß auch ihre Stunde bald geschlagen habe. Darum grub sie ein Loch in der Nähe der Wand, und als es so groß war, daß sie sich darin verstecken konnte, nahm sie ihre Kleider, stopfte sie mit Torf aus und setzte sie auf die Pritsche, wo sie zu sitzen pflegte. Zu den Kleidern aber sagte sie: »Wenn er euch mit seinem Messer durchsticht, so schreit: »Au, au, au!«

Darauf kroch sie in das Loch, das sie gegraben hatte. Es dauerte nicht lange, da hörte sie den Mann nach Hause kommen, noch wilder als sonst; er kam mit einem Satz in die Stube und jagte das Messer durch die Puppe, die sie gemacht hatte. Sie hörte die Puppe au, au, au schreien, und kurz darauf hörte sie ihren Mann sagen: »Was ist denn das? Ich glaubte, es sei ein Mensch, der so schrie, und dabei ist es nichts als Torf und Kleider!« Dann hörte sie, wie der Mann aus dem Haus ging, um sie zu suchen. Da kam sie aus ihrem Versteck hervorgeschlichen und rannte davon, was ihre Beine sie tragen wollten. Als sie ein Stück gelaufen war, merkte sie, daß er hinter ihr her kam, und als er sich immer mehr näherte und sie nicht mehr aus noch' ein wußte, fiel ihr plötzlich ein, daß sie ein Amulett aus Holz bei sich hatte. Und im selben Augenblick wurde sie in ein Stück Holz verwandelt. Als der Mann sie eingeholt hatte und nur ein Stück Holz vor sich sah, sagte er zu sich selbst:

»Ich glaubte, es sei ein Mensch, und dabei ist es nur ein Stück Holz!«

Darauf nahm er sein Messer und begann in das Holz hineinzustechen, und bei jedem Stich fühlte Misána einen Schmerz im Körper. Als der Mann aber einsah, daß er ihr auf diese Weise nichts anhaben konnte, sagte er:

»Zu Hause habe ich eine Axt, die will ich holen und sie damit klein hacken.« Kaum hatte der Mann sich entfernt, als die Frau wieder Mensch wurde und aus allen Kräften zu laufen begann.

Als der Mann aber zu der Stelle kam, wo das Stück Holz gelegen hatte, und es nicht mehr fand, folgte er ihren Spuren und kam ihr immer näher. Misána aber lief zum Strande, und als sie ihn erreicht hatte, dachte sie bei sich:

»Ich habe ja eine Muschel als Amulett.«

Und im selben Augenblick wurde sie zu einer Muschel verwandelt und fiel ins Wasser.

»Ha, ha, ich glaubte, daß ich einen Menschen verfolgte!« rief der dicke Imarasugssuaq und sprang ins Wasser, um die Muschel zu suchen, aber er fand sie nicht. Schließlich gab er es auf und ging nach Hause. Da kam Misána aus ihrem Versteck hervor und lief, was sie konnte, um den Platz zu erreichen, auf dem ihr älterer Bruder wohnte.

Sie folgte der Küste und versteckte sich in einer Falle, die ihr Bruder gemacht hatte. Als er tags darauf kam und den Stein beiseite schob, erstaunte er sehr, als er seine Schwester dort sitzen sah.

»Was in aller Welt machst du hier? Was hat das zu bedeuten?« rief er.

»Mein Mann hat unseren kleinen Bruder gekocht und gegessen, und als er auch mich fressen wollte, bin ich geflohen und habe mich hier versteckt.«

Sie berichtete alles von Imarasugssuaq, und da begriff man, daß er seine Frauen immer gefressen hatte und darum so oft Witwer geworden war.

Misána ging nun mit ihrem Bruder und blieb bei ihm.

Eines Tages aber tauchte ein Schlitten auf, und als er näherkam, saß der dicke Imarasugssuaq darin. Er hielt seine Hunde an, ging ins Haus, setzte sich auf die Pritsche und fing an zu weinen:

»Hu, hu, meine Frau ist tot, ich habe meine Frau verloren, meine Frau ist tot, hu, hu, hu!«

So weinte er lange und machte einen sehr kläglichen Eindruck.

Misána aber hörte, hinter dem Wandfell versteckt, was gesprochen wurde.

»Hu, hu, meine geliebte Misána ist tot!«

Aber niemand antwortete und niemand bedauerte ihn. Da nahm Misánas Bruder die Zaubertrommel, trat vor und sang:

»Und es war der große Imarasugssuaq, der sich an seinen Frauen mästete, der sich an seinen Frauen mästete.«

»Wer hat das gesagt, wer hat das gesagt?« platzte Imarasugssuaq heraus, und er stand auf und blickte sich erschrocken um.

»Ich habe es gesagt!« sagte Misána, indem sie hinter dem Wandfell hervorkam. Kaum hatte der Mann sie erblickt, als er aus dem Hause rannte, an den Strand, wo das Boot des Wohnplatzes auf seinem Holzgestell lag; dort hatte er seinen Pelz untergebracht. Als er ihn nun in aller Eile anziehen wollte, kam Misána ihm nach, mit einem Messer bewaffnet, und als er seinen Kopf in den Pelz steckte, machte sie einen gewaltigen Schnitt in seinen dicken Leib, so daß alle Eingeweide herausfielen.

So rächte Misána ihren kleinen Bruder und all' die Frauen, die er gefressen hatte.


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