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Es war einmal ein Fänger, der hatte Land bei Igdlutalik, westlich von Nôrssit bei Kap Dan. Seine Frau war ihm gestorben, und er wohnte dort nur mit seinem kleinen Sohn.
Etwas östlich von diesem Platz wohnten die fünf Brüder bei Kangârssuk.
Eines Tages ruderte der Fänger mit seinem Kajak aufs Meer hinaus und kehrte nicht zurück. Der kleine Junge wartete und wartete, aber er kam nie wieder.
Die fünf Brüder bei Kangârssuk hatten ihn ermordet.
Eine Zeitlang lebte der kleine Elternlose ganz allein in dem Hause bei Igdlutalik, dann aber erbarmte ein Ehepaar aus Nunakitsoq sich seiner und nahm ihn zu sich. Dort war von nun an seine Heimat, und sowohl der Mann wie die Frau waren gut gegen ihn.
Nachdem er eine Zeitlang bei ihnen gewesen war, begann seine Pflegemutter Zauberformeln über ihn zu sprechen, die ihn zu einem großen Rächer machen sollten.
Der Knabe wuchs schnell heran und empfand niemals, daß er elternlos war, denn seine Pflegeeltern erzogen ihn, als ob er ihr eigener Sohn sei.
Als er so groß geworden war, daß er zum Fischen ausziehen konnte, angelte er Kaulköpfe für seine Pflegeeltern, weil es ihre Lieblingsspeise war.
So lebten sie friedlich, als eines Tages der Pflegevater von einer Kajakfahrt nicht zurückkehrte.
Darüber trauerten der Knabe und seine Pflegemutter sehr; nachdem sie sich aber ihrem Kummer eine Zeitlang tatenlos hingegeben hatten, sprach die Pflegemutter zu dem Knaben:
»Du bist nun zum zweitenmal elternlos geworden, und wir wissen, daß die Menschen, die deinen Vater getötet, nun auch deinen Pflegevater umgebracht haben. Du kannst jetzt nicht mehr wie andere Kinder unter sorglosem Spiel aufwachsen, du darfst jetzt nur noch an ernste Dinge denken und mußt deinen Körper mit schweren Leibesübungen stählen, damit du ein großer Rächer werden kannst. Dann erst wird dir in den Mannesjahren und im Alter der Friede des Gemüts zurückkehren.«
Mit diesem Gespräch endete die Kindheit des Knaben, denn alles Spiel war jetzt aus, er beschäftigte sich nur mit Dingen, die seinen Körper stählten, und darum dauerte es nicht lange, bis er für einen Knaben seines Alters ungewöhnliche Kräfte und Fertigkeiten hatte. Er bekam einen Kajak, übte sich im Rudern, und als er allein auf das Meer hinausrudern konnte, ging er auf den Fang und kam mit einem kleinen Seehund zurück. Es war sein erster Fang, und als er damit an Land kam, hob seine Pflegemutter ihn auf ihren Rücken und trug ihn zum Hause. Das tat sie von nun an stets, wenn er mit irgendeinem Fangtier, das er zum erstenmal erlegt hatte, nach Hause kam.
So wuchs der Knabe zu einem starken Mann heran, der nur daran dachte, wie er sich an den fünf Brüdern rächen konnte.
Eines Tages, als er über den Fjord ruderte, um Seehunde zu fangen, sah er ein großes Walroß, das auf dem Eisrande lag. Etwas weiter hin auf dem Eise aber entdeckte er einen großen Bären, der im Begriff war, sich an das Walroß heranzuschleichen, um es zu töten. Der Elternlose versteckte sich hinter einem Eisblock, um den Ausfall des Kampfes abzuwarten. Der Bär, dem es geglückt war, sich an das Walroß heranzuschleichen, ohne es zu wecken, nahm einen großen Eisblock und warf ihn dem Walroß an den Kopf, so daß dieses das Bewußtsein verlor. Darauf bearbeitete er es mit seinen Tatzen, bis es tot war. Kaum war der Kampf beendet, als der Elternlose auf den Bären zuruderte, der ins Meer entfloh; er aber ruderte hinter ihm her und harpunierte ihn, so daß er auf diese Weise sowohl ein Walroß wie einen Bären als Beute heimbringen konnte. Als seine Pflegemutter ihn mit dem mächtigen Fang kommen sah, wurde sie sehr froh, und als er an Land gestiegen war, trug sie ihn auf ihrem Rücken nach Hause. Das aber tat sie, damit die Zauberworte, die sie über ihn gesprochen, als er noch ein Kind war, ihre Kraft bewahren sollten.
Tags darauf kamen zwei Kajaks aus dem Angmagssalikfjord, wo zu jener Zeit viele Menschen zum Fischfang lagen, zu Besuch. Sie wurden mit Bären- und Walroßfleisch bewirtet und schwatzten und ließen es sich schmecken. Als sie aufbrachen, wurden sie aufgefordert, alle, die im Fjord zum Fang lagen, zum Schmaus einzuladen, und zum Abschied bekamen sie noch große Fleisch- und Speckstücke als Wegzehrung.
Tags darauf kamen alle Geladenen, nur fünf Mann fehlten, und das waren die fünf Brüder, die seinen Vater und seinen Pflegevater ermordet hatten.
Der Tag verging unter großer Festlichkeit, mit frohem Eßgelage, und als die Gäste fortzogen, bekamen sie noch Fleischgaben mit auf den Weg; der Elternlose aber ließ den fünf Brüdern sagen, auch sie möchten kommen und ihren Anteil in Empfang nehmen.
Tags darauf kamen die Brüder und wurden ebenso wie die anderen bewirtet; nur bekamen sie, als sie aufbrachen, so große Fleisch- und Speckstücke, daß ihre Kajaks fast unter Wasser lagen. Der Elternlose bestieg ebenfalls seinen Kajak, um sie zu begleiten und trat ganz harmlos auf; er hatte aber zwei Harpune, zwei Vogelpfeile und zwei Lanzen an Bord, während man sonst nur eine Waffe von jeder Sorte mitzunehmen pflegt.
Als sie in die Nähe des Wohnplatzes der Brüder kamen, ruderte er etwas zur Seite, so daß er seine Feinde zur Linken hatte, damit er mit der rechten Hand werfen konnte. Er ließ die anderen ein Stück voraus rudern, ergriff seine Harpune und warf sie demjenigen der Brüder, der ihm am nächsten war, in den Rücken. Dieser vermochte nur noch einen einzigen Schlag mit dem Ruder zu machen, dann kenterte er und war tot. Bevor der zweite noch Zeit gefunden hatte, sich umzudrehen, hatte auch er eine Harpune im Rücken, und fast im selben Augenblick flogen dem zweiten und dritten Vogelpfeile in den Leib. Das alles spielte sich so schnell ab, daß sie sich nicht einmal umwenden konnten, weil ihre Kajaks so schwer geladen waren. Nur der fünfte Bruder fand gerade noch Zeit, seinen Kajak zu wenden; als er aber seine Harpune werfen wollte, hatte der Elternlose schon seine Lanzen ergriffen und auf ihn geworfen. So kenterte auch der fünfte der Brüder, und auf diese Weise tötete der Elternlose auf einmal alle seine Feinde. Darauf ruderte er auf die Kajaks zu und versenkte sowohl Mann wie Kajak auf den Grund des Meeres, worauf er zu seinem Wohnplatz zurückkehrte.
Tags darauf kamen zwei Kajaks von dem Wohnplatz der Brüder zu Besuch; sie kamen, um zu fragen, ob man nichts von den fünf Brüdern gesehen habe. Der Elternlose antwortete, daß sie Tags zuvor davongerudert seien und seitdem hätte man nichts von ihnen gesehen.
Er forderte die beiden Fremden auf, ins Haus zu gehen; als er ihnen aber den Rücken kehrte, merkte er, daß sie Heimlichkeiten miteinander hatten, und da wußte er, daß sie gekommen seien, um die fünf Brüder zu rächen. Darum eilte der Elternlose vor den anderen ins Haus.
Er nahm beim Fenster neben dem Hausgang Aufstellung, und kaum zeigte der erste der beiden Männer sich im Hausgang, als er ihm einen Schlag in den Nacken versetzte, daß er auf der Stelle tot war. Darauf nahm er ihn und schleuderte ihn auf die Pritsche. Kaum zeigte sich der andere, als auch ihm dasselbe Schicksal widerfuhr. Auf diese Weise tötete der Elternlose abermals zwei Feinde und versenkte auch ihre Leichen ins Meer.
Weit draußen im Meer lebt ein gewaltiger Zauberbär, der Bär des Meeres genannt. Hin und wieder schwimmt er an Land, das Wasser in den Fjords aber ist seicht, und darum watet er zwischen den Felsen, wie durch eine Wasserpfütze. Wenn er atmet, entstehen solche Wirbel, daß ihm Eisblöcke und ganze Bootsbesatzungen in die Nase fliegen.
Jetzt hatte der Elternlose Ruhe vor seinen Feinden, und darauf begab er sich mit seiner Pflegemutter auf die Reise, um weiter im Norden auf Bären zu jagen. Sie ruderten in einem Boot längs der Küste, kamen bei Paotûterajnit, südlich von Kialineq vorbei, ruderten noch weiter gen Norden, bei Qernererssuit vorbei, und als sie nirgends bewohnte Plätze antrafen, nahmen sie schließlich südlich von Kangerdlugssuaq Land. Hier gab es so viele Bären, daß sie schon in der ersten Nacht drei dicht an ihrem Hause erlegten, und vom Herbst bis zum Winter fingen sie so viele, daß sie die Bärenschädel auf eine Zeltstange reihen konnten, wie Perlen auf eine Schnur.
Als der Winter kam und alles mit Eis bedeckte, fuhr er noch weiter nach Norden, um zu jagen, und bei einer solchen Fahrt erreichte er Kangerdlugssuaq. Indem er hier der Küste folgte, kam er zu einem Wohnplatz, wo ein Haus lag, das so groß war, daß es vier Fenster hatte; sonst pflegen die größten Häuser nur drei Fenster zu haben.
Er wurde von den Bewohnern freundlich empfangen, band seine Hunde und wollte, der Einladung folgend, ins Haus gehen; vorher aber wollte er noch seinen Pelz, wie es an der Ostküste Sitte ist, ausziehen und ins Boot legen, das wie alle Boote dort oben im Winter auf Pfähle gelegt war, mit dem Kiel nach oben. Als er aber seinen Pelz unter die Ruderbänke legen wollte, entdeckte er, daß das Boot ganz angefüllt war mit Bärenfellen und Narwalzähnen, so ungeheuer groß war der Fang dort beim Wohnplatz. Wie sich nun kein Platz fand, wo er seinen Pelz hinlegen konnte, so daß er vor den Hunden sicher war, kam ein alter Mann auf ihn zu und forderte ihn auf, ihn in seinen Kajak zu legen, worauf er sich ins Haus begab.
Es zeigte sich, daß der alte Mann der Vater sämtlicher jungen Leute war, und er wurde in dessen Hause aufs beste bewirtet.
Als er gegessen hatte, bemerkte er, daß der freundliche Hauswirt ihn prüfend ansah und schon lange angesehen hatte, ohne daß er begreifen konnte, warum. Plötzlich aber sagte der Alte:
»Sag mal, bist du nicht der Sohn des Großfängers von Igdlutalik?«
»Ja,« antwortete der Elternlose.
Da nickte der alte Wirt ihm freundlich zu und sagte, an seine Söhne gewandt:
»Sein Vater war mein Vetter, wir haben also Besuch von einem Verwandten bekommen.«
Als die jungen Leute das hörten, wurden sie noch freundlicher gegen ihn und rückten auf der Pritsche näher an ihn heran.
Da sagte der Alte zu dem Elternlosen:
»Du bist so breitschultrig und hast gewaltige Muskeln, sicher bist du sehr stark.«
»Nein,« sagte der Elternlose, »das meiste ist Fett, meine Muskeln sind nicht sehr stark.«
Als der Alte das hörte, forderte er die Jungen auf, sich mit ihm zu messen, damit sie den Abend mit munterem Spiel und Leibesübungen vertreiben konnten.
Dabei zeigte es sich nun bald, daß der Elternlose die anderen der Reihe nach leicht überwältigen konnte. Der Alte aber hatte die Kraftprobe nur veranstaltet, um zu sehen, über welche Kräfte sein Vettersohn verfügte; denn er wußte, daß der Elternlose viele Feinde hatte, und seine Söhne hätten, wären sie stärker gewesen, den Elternlosen unterrichten und später, wenn es not tat, ihm seinen Feinden gegenüber helfen sollen.
Der alte Hauswirt betrachtete den Elternlosen voller Wohlwollen und sagte:
»Du hast nun gezeigt, über welche Kräfte du verfügst, und wir wundern uns nicht mehr, daß du sieben Feinde auf einmal töten konntest, denn auch davon haben wir gehört.«
Der Elternlose aber sagte bescheiden:
»Nicht meine Kräfte haben es vermocht, sondern die Zauberlieder, die meine Pflegemutter mir von Kind auf vorgesungen hat.«
Nun wollte der Elternlose heimwärts, und gleich erklärten all' die jungen Leute, daß sie ihn begleiten wollten. Unter munterem Scherz brach man auf, spannte die Schlitten vor und mit großem Gefolge zog er davon. Als der Aufzug sich dem Wohnplatz des Elternlosen näherte, entstand große Angst und Verwirrung, denn man wußte nicht, ob es Freunde oder Feinde seien. Kaum aber waren die Schlitten angekommen, als die Angst sich in Freude verkehrte; die Pflegemutter des Elternlosen, die die jungen Leute gekannt hatte, als sie noch klein waren, bewirtete sie aufs beste und herzlichste.
Als das Gelage beendet war, kehrten die vielen Schlitten zu ihrem Wohnplatz bei Kangerdlugssuaq zurück; nur einer blieb da, und als der Elternlose ihn erstaunt fragte, warum er sich seinen Brüdern nicht angeschlossen habe, antwortete er, er habe Angst, daß er ihn durch eines seiner Zauberworte, mit denen er seine Feinde umzubringen pflegte, töten würde.
Da lachte der Elternlose laut auf und sagte, daß er das nur aus Bescheidenheit gesagt habe, in Wirklichkeit habe er seine Feinde mit der Kraft seines Armes umgebracht.
»Und außerdem,« fügte der Elternlose hinzu, »seid ihr meine Verwandten und meine Freunde und braucht nie etwas zu befürchten.«
Sie verbrachten einen fröhlichen Winter, indem die Einwohner der beiden Wohnplätze sich gegenseitig häufig besuchten und sich die langen Nächte des Winters mit Festgelagen und mancherlei Spiel vertrieben. Als es aber Sommer wurde, brach der Elternlose auf, um sich wieder bei seinem Wohnplatz in der Nähe von Kap Dan niederzulassen; seine zahlreichen Verwandten aber zogen noch weiter nach Norden an der Küste entlang, und somit schieden sie.
Der Elternlose aber lebte froh und zufrieden bis ans Ende seiner Tage, und so stark war er, daß keiner jemals den Tod der sieben Feinde zu rächen wagte. Von seinen Verwandten aber, die weiter nordwärts gezogen waren, hat man nie wieder etwas gehört.
Von dem »großen Geisterbeschwörer von Sermiligâq« wird erzählt, er sei ein so mächtiger Zauberer gewesen, daß ihm alle Arten Hilfsgeister zur Verfügung standen. Er gebot über Raubvögel, Menschenfresser, Gnomen, Zwerge und Riesen und allerlei Tiere, sie alle kamen augenblicklich auf seinen Ruf. Wo immer jemand krank wurde, schickte man nach ihm, und er erhielt so viele Gaben, daß er breite Haarbänder von Perlen trug.
In alten Tagen hielt man Perlen für etwas so Kostbares, daß man ein Boot mit einem einzigen kleinen Perlenkranz von den sogenannten Singortuarqat, »den Errötenden«, die innen weiß waren, bezahlen konnte.
Der große Geisterbeschwörer liebte Sermiligâq, einen großen Fjord nördlich von Angmagssalik. Hier gab's im Herbst immer reichlich Bären und Seehunde und man konnte lange im Kajak rudern, ohne von den Dünungen behelligt zu werden. Darum hatte er seinen ständigen Wohnplatz bei Sermiligâq. Und mit der Zeit wuchs seine Macht, und er bekam jedes Jahr einen neuen Hilfsgeist.
Als er eines Tages in seinem Kajak auf dem Fjord war, fühlte er sich plötzlich mit unwiderstehlicher Macht nach dem Lande zu gezogen. Es nützte ihm nichts, daß er mit den Rudern gegenhielt, er wurde schließlich in einen südlichen Arm des Sermiligâq-Fjords gezogen. Dort mündete ein großer Bach, reißend und schäumend, und an seinem Ufer standen drei große Inlandbewohner. Kaum war er ans Ufer gekommen, als sie sich über ihn stürzten und ihm nicht einmal Zeit ließen, aus seinem Kajak zu steigen. Der eine faßte das Vorderende des Kajaks, der andere die Mitte und der dritte den Achtersteven, und so liefen sie mit ihm landeinwärts, über die Berge, durch Schluchten, weiter und weiter hinein.
Der große Geisterbeschwörer wehrte sich nicht, denn er wußte, daß es vergeblich sein würde. Schluchzend saß er in seinem Kajak und ließ sich entführen und entfernte sich mehr und mehr von Fjord und Küste. Erst als er sich ein wenig von seinem Schreck erholt hatte, begann er seine Hilfsgeister herbeizurufen, jedesmal aber, wenn er den Namen eines nannte, sagten die Riesen mit boshaftem Lachen:
»So einer steht auch uns zur Verfügung, den fürchten wir nicht! Ruf ihn nur herbei, der kann uns nichts tun.«
Da versuchte er seinen starken Hilfsgeist Tornarssuk, den Seelenräuber, den Gebieter über viele Geister herbeizurufen, im selben Augenblick aber wuchsen Tornarssukgeister rings herum aus der Erde auf, wie Seehunde, die aus dem Meere auftauchen.
Da bekam der Geisterbeschwörer Angst, und verzweifelt schrie er, so laut er konnte: »Laßt mich los, ich habe Frau und Kinder!«
»Du hast keine Frau; die, die du deine Frau nennst, hatte einen Mann vor dir!« antworteten die Riesen.
»Meine Kinder!« schrie der Geisterbeschwörer.
»Du hast auch keine Kinder! Ihre Mutter ist tot, darum brauchst du dich nicht um sie zu kümmern,« antworteten die Riesen und liefen weiter und weiter über Land, immer weiter fort von Meer und Küste. Da erinnerte der Geisterbeschwörer sich eines Hilfsgeistes, den er noch nicht herbeigerufen hatte, eines Qartimaitoq, einer Leiche, die er einst aus einem Grabe bekommen hatte. Diesen rief er jetzt an, und kaum zeigte er sich, als die Riesen unsicher wurden. Er stellte sich vor ihnen auf und versperrte ihnen den Weg. Schließlich aber gewöhnten sie sich an ihn und liefen weiter und weiter über Land, entfernten sich immer mehr von Fjord und Küste.
Da kam der Geisterbeschwörer auf den glücklichen Gedanken, daß er ein Amulett in seinem Kajak habe, ein Band von seiner verstorbenen Großmutter, mit dem sie ihr Haar aufzubinden pflegte. Kaum hatte er dies gedacht, als das Amulett sich bereits im Kajak zu rühren begann, und das Band kam heraus und begann den Riesen ins Gesicht zu peitschen. Nach und nach aber gewöhnten sie sich auch daran und liefen weiter und weiter landeinwärts mit ihm, sich immer mehr von Fjord und Küste entfernend. Der Geisterbeschwörer war verzweifelt, in seiner großen Angst aber fiel ihm ein, daß er seinen Falken noch nicht herbeigerufen hatte, den Riesenfalken mit dem scharfen Schnabel und den furchtbaren Krallen. So rief er ihn denn jetzt herbei, und gleich tauchte er am Himmel auf, so groß wie eine Wolke; auf ausgebreiteten Schwingen und mit gestrecktem Hals kam er daher und warf sich dem ersten Riesen an die Brust, indem er mit seinem Schnabel nach ihm hackte. Der Riese wäre fast gestürzt, aber so groß und stark war er, daß er sich wieder aufrichtete, den Angriff aushielt und weiterlief. Da warf der Falke sich auf den letzten Riesen, und dieser bekam einen solchen Schreck, daß er auf allen Vieren flüchtete.
Darauf warf der Falke sich auf den mittleren Riesen, grub seine Krallen in dessen Brust und zerfleischte sie. Der Riese hielt eine Weile stand, lief dann aber auch davon, und als er den Kajak fallen ließ, brach er gerade beim Mannloch mitten durch. Noch aber hielt der erste Riese aus und schleppte den Kajak beständig hinter sich her, weiter und weiter landeinwärts, sich mehr und mehr von Fjord und Küste entfernend. Da richtete der Riesenfalke noch einen Angriff auf ihn. Mit seinen mächtigen Schwingen sauste er durch die Luft und grub seinen Schnabel so tief in die Brust des Riesen, daß er stehen bleiben mußte; damit war auch sein Widerstand gebrochen und er mußte fliehen wie die anderen.
Ein Mann im Kajak, der ohne es zu ahnen, von dem Zaubertier Maleruarteq verfolgt wird, das alle Fangtiere verscheucht.
So überwand der große Geisterbeschwörer von Sermiligâq die drei Riesen, die ihn weit, weit über Land, fern von Fjord und, Küste verschleppt hatten; und nun saß er hier mitten im Lande in seinem Kajak, dessen Spanten gebrochen waren, so daß die Heimreise unmöglich erschien.
Wie er zur Küste zurückgelangte, darüber weiß man nichts. Nachdem es ihm aber geglückt war, sich von den drei Riesen zu befreien, war ihm dies natürlich ein Leichtes.
Bald nach seiner Heimkehr bekam er einen neuen Hilfsgeist, der, so viel von ihm hielt, daß er ihn nie wieder verließ.
Ein Tupilak in Hundegestalt mit Menschenkopf, von zwei Kajakfahrern harpuniert, die ihn mit ihrer Fangblase hinter sich her ziehen. Einen Tupilak harpunieren bedeutet Tod, und man sieht, wie der eine Mann bereits drauf und dran ist zu kentern.
In jenem Herbst versammelten sich viele Menschen im Angmagssalik-Fjord; sowohl von Nord wie von Süd kamen Boote, und alle wollten Angmagssatten fangen und Sängerkämpfe feiern. Ja, oft wurde sogar der Fang der Feste wegen versäumt.
Hier nun trafen zwei Freunde zusammen, die beschlossen, daß sie den großen Geisterbeschwörer von Sermiligâq töten wollten. Sie mißgönnten ihm seinen Ruhm und sein Glück und daß er bei allen beliebt war, denn er war nicht nur ein großer, sondern auch ein guter Mensch.
Dies alles weckte den Neid und die Bosheit der beiden Freunde. Sie gaben als Grund ihrer Rachsucht an, daß die Frau des einen gestorben sei, weil der Geisterbeschwörer ihre Seele geraubt habe. Sie warteten nur auf eine Gelegenheit, ihre böse Tat auszuführen.
Als sie eines Tages zum Fang draußen waren, sahen sie ungefähr bei der Mündung des Fjords einen Kajak. Sie ruderten schleunigst darauf zu und sahen, daß just der Mann darin saß, den sie zu treffen wünschten. Sie ruderten an seine Seite und ohne ein Wort zu sagen, harpunierte der eine den großen Geisterbeschwörer von hinten, indem er ihm die Harpune etwas unterhalb des Schulterblattes durch die Brust bohrte.
Der große Geisterbeschwörer aber war so stark, daß er trotz des gewaltsamen Stoßes nicht kenterte, sondern ganz still in seinem Kajak liegen blieb. Der Mann, der ihn harpuniert hatte, legte sich quer davor und sagte herausfordernd:
Der Geisterbeschwörer sieht ihn nur an, brennt seine Augen tief in die des Mörders, stumm, ohne sich zu rühren.
Der andere aber schreit wieder:
»Rache! Rache! Rache!«
Da greift der große Geisterbeschwörer nach seiner Flügelharpune, hebt sie ganz langsam und wirft sie unversehens. Im Wurf aber bleibt der eine Flügel der Harpune in der Fangleine hängen, und dadurch bekommt sie eine verkehrte Richtung, so daß sie, anstatt die Brust des Mannes zu durchbohren, durch seine beiden Arme geht und diese auseinander nagelt. Die Wunde aber ist nicht lebensgefährlich.
Jetzt kommt der Freund in seinem Kajak herangerudert und nimmt mit erhobener Harpune vor dem großen Geisterbeschwörer Aufstellung; dieser aber sieht ihn nur an und sagt:
»Willst du mich wirklich harpunieren? Hast du vergessen, daß du immer nach mir schicktest, wenn deine Kinder krank waren, auf daß ich ihr Leben rettete, ohne Bezahlung dafür zu nehmen?«
Der andere aber stellt sich taub und wirft dennoch seine Harpune. Da hebt der Geisterbeschwörer die Hände vor seine Brust, um den Wurf abzuwehren, die Harpune aber kommt mit solcher Kraft, daß sie beide Hände gegen die Brust nagelt und sie durchbohrt. So stark aber war der Geisterbeschwörer, daß er trotzdem nicht kenterte, obgleich er jetzt von hinten und von vorn durchbohrt war. Er heftet nur seine Augen auf das Gesicht seines Mörders und stimmt mit lauter Stimme ein Zauberlied an, das mit den Worten beginnt: »Höj, hö–öj, höj,« und damit gleitet er der längelang in seinen Kajak hinein, obgleich dieser sehr klein und schmal war.
Jetzt stürzte sich der unverwundete seiner beiden Feinde auf ihn, aber es glückte ihm nur, ihm seinen Skalp abzuschneiden, denn im nächsten Augenblick kenterte der Geisterbeschwörer und sank in derselben Sekunde unter. Das war sein letztes Kunststück, denn kein Kajak kann im selben Augenblick, in dem er kentert, untersinken. Er tat es, damit seine Feinde seine Leiche nicht schänden und mißhandeln sollten.
Darauf nahm der eine der Freunde seinen verwundeten Kameraden ins Schlepptau, um ihn an Land zu bugsieren. Als sie aber die Stelle verließen, wo der Geisterbeschwörer untergesunken war, sahen sie zwei Kajakruder aus dem Wasser ragen, obgleich kein Kajak weit und breit zu sehen war. Es war der alte Hilfsgeist Ajarqissâq, der einen Augenblick zu spät kam, um seinen Herrn zu retten.
Aus Angst vor dem Hilfsgeist flohen die beiden Freunde dem Ufer zu, und kaum waren sie dem Zeltlager so nahe gekommen, daß man sie hören konnte, da rief der unverletzte der beiden Freunde:
»Aus Versehen habe ich meinen Kameraden harpuniert.«
Kaum aber war dieser Ruf erschollen, als eine Frauenstimme antwortete – es war die Schwester des großen Geisterbeschwörers –:
»Nein, nicht aus Versehen! Ich weiß, daß die beiden meinen Bruder ermordet haben!«
So erfuhren alle, daß der große Geisterbeschwörer von Sermiligâq ermordet war, bevor die beiden Mörder noch das Land erreicht hatten.
Die beiden Mörder aber wurden von ihrer Strafe ereilt; bevor der Sommer um war, starben sie beide, und im Laufe kurzer Zeit starben alle ihre Verwandten; nur eine Frau blieb am Leben, mit Namen Uvineressuaq, weil sie so viele Amulette hatte, daß kein Zauber ihr etwas anhaben konnte.
Wenn aber später der alte Hilfsgeist Ajarqissâq, der den Geisterbeschwörer so sehr geliebt hatte, sich bei Beschwörungen zeigte und sagte: »Mir ist's, als röche es hier nach Feinden, Feinden des großen Geisterbeschwörers von Sermiligâq!« Dann stopfte Uvineressuaq sich Tran in die Ohren, damit der Hilfsgeist keine Macht über sie bekommen sollte.
Auf diese Weise wurde der große Geisterbeschwörer selbst nach seinem Tode noch gefürchtet.
Diese Geschichte beruht auf Wahrheit, und es ist noch gar nicht lange her, daß sie sich zugetragen hat, denn ein Enkelkind von Uninererssuaq ist das junge Mädchen, das Katrine heißt und jetzt in Angmagssalik wohnt.
Angakasiat soll bei Sermilik Land gehabt und mit seinem Schwager, dem Mann seiner älteren Schwester, zusammen in einem Hause gewohnt haben. Der Wohnplatz am Sermilikfjord hieß Igdlutalik, und dort wohnten sie in Wohlstand, denn der Schwager war ein großer und tüchtiger Fänger.
Eines Winters, als der Schwager zum Seehundsfang auf dem Eise war, lauerten zwei Brüder ihm auf und töteten ihn. Das geschah nicht weit vom Lande, und seine Frau konnte es vom Hause aus sehen. Da ging sie zu der Leiche, indem sie ihren kleinen Sohn mitnahm und den toten Vater von ihm küssen ließ; dann gingen sie beide weinend zum Hause zurück.
Der Winter und der Frühling vergingen und es wurde Sommer. Da entschloß sich der Oheim des Knaben zu flüchten, weil er fürchtete, daß die Feinde des Vaters auch den Jungen töten würden. Darum floh er mit ihm und der Mutter nach Itivdlerssuaq, einem hohen Berg zwischen Sermilik und Tasiussaq.
Dort ließen sie sich nieder. Wenn der Oheim zur Jagd ging, trug er seinen Kajak immer auf dem Rücken über Land nach Tasiussaq, weil er nicht im Sermilikfjord zu rudern wagte. Wenn er abends mit seinem Fang nach Hause kam, spielte er wilde Spiele mit dem kleinen Jungen, prügelte sich mit ihm, kitzelte ihn und pflegte ihn auf alle mögliche Weise zu reizen. Die Mutter hatte Mitleid mit ihrem Jungen und fragte den Oheim, warum er den Kleinen so roh behandele. Der Oheim aber antwortete, daß er ihn zu einem großen, starken Mann entwickeln wolle, weil die Zeit kommen würde, wo er alle seine Kräfte nötig habe.
Bald begann er seinen Neffen auch mit auf den Fang zu nehmen. Der Junge war noch zu klein, um selbst einen Kajak zu rudern, und mußte darum an Land warten, wenn der Oheim draußen war. Kam er dann mit Fang zurück, gab er seinem Neffen ein Stück Fleisch zu tragen, erst ganz kleine Stücke, dann aber größere und größere, die dem Kleinen so viel Beschwer machten, daß er oft vor Verzweiflung und Ueberanstrengung weinte. Bald aber kam die Zeit, wo sein Oheim ihm die größten Stücke Fleisch zum Tragen geben konnte, ohne daß er vor Anstrengung weinen mußte. Die Kraft des Jungen nahm so zu, daß der Oheim ihm ganze Seehunde aufbürdete. Anfangs weinte er wieder vor Ueberanstrengung, bald aber kam die Zeit, wo er auch mit Leichtigkeit ganze Seehunde trug, und schließlich wurde der Knabe so stark, daß er mit einem Seehund auf dem Rücken so schnell gehen konnte, daß sein Oheim ihm kaum zu folgen vermochte; und lange dauerte es nicht, da war der Junge schon längst zu Hause, wenn der Oheim ganz ermattet eintraf.
Wenn sie nicht auf dem Fang waren, setzten sie zu Hause ihre Kraftproben fort, und bald war der Knabe so stark, daß der Oheim ihm nicht mehr gewachsen war. Darum meinte er, daß die Zeit gekommen sei, wo er den Mord, der an seinem Vater begangen ward, rächen konnte. Der Oheim wußte, daß bei einem Zusammentreffen mit ihren Feinden Sängerkämpfe und Freudenlieder zur Zaubertrommel die Einleitung sein würden; darum begann er sich in solchen Gesängen zu üben, wenn er allein zu Hause war. Während er sang und tanzte, konnte es geschehen, daß er plötzlich durch den Erdboden verschwand und unsichtbar wurde. Dann pflegte er unter der Pritsche wieder zum Vorschein zu kommen und hatte eine Schüssel mit Seehunds-Mameq – Fett, das zu Gelee gekocht wird – auf dem Kopf; damit tanzte er dann auf die drolligste Weise weiter.
Als er schließlich der Meinung war, daß sie in jeder Beziehung auf das Zusammentreffen mit ihren Feinden vorbereitet wären, brach er mit seiner Schwester und deren kleinem Sohn auf und ruderte nach Sermilik. Dort hörten die beiden Mörder zu ihrem großen Erstaunen, daß Angakasiat, den sie schon längst tot geglaubt, gekommen sei. Als sie ihn fragten, wo er denn so lange gewesen sei, antwortete er, daß er sich auf dem Lande versteckt gehalten habe, aus Furcht, daß sie ihn töten würden.
Gegen Abend teilte Angakasiat mit, daß er Freudenlieder singen wolle, und viele Menschen strömten herbei, um ihm zuzuhören. Als das Sängerfest seinen Anfang genommen hatte, kam sein kleiner Neffe mit den beiden Männern herein, die seinen Vater getötet hatten, und sie nahmen auf der Pritsche Platz, so daß der Knabe zwischen seinen beiden Feinden zu sitzen kam. Jetzt tanzte der Alte, und zum Erstaunen aller Zuschauer verschwand er hin und wieder durch den Fußboden, war ganz unsichtbar und tauchte dann unter der Pritsche wieder auf, mit einer Schüssel Mameq auf dem Kopfe. So oft er sich so zeigte, fingen die Zuschauer an zu lachen; währenddessen aber hatte der Neffe seinen einen Feind ganz unbemerkt so fest um den Leib gefaßt, daß er sein Inneres sprengte und ihn so tötete. Jetzt sah keiner mehr dem tanzenden Onkel zu, sondern alles floh Hals über Kopf aus dem Hause. Der Alte lief hinter ihnen her, und als sie einen Hügel erreicht hatten, forderte er die Fliehenden auf, sich umzublicken. Da sahen sie, daß der Knabe den Toten an einem Bein in die Höhe hielt, und als alle es sehen konnten, faßte er mit der anderen Hand das andere Bein und riß die Leiche in zwei Teile. So rächte er sich an dem Mörder seines Vaters, und seitdem lebte er glücklich mit Frieden im Gemüt und wurde ein großer und gewaltiger Fänger.