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Alle Eskimostämme besitzen eine große Anzahl Mythen und Sagen, die durch mündliche Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht gehen. Es ist die Geschichte des Volkes, die, in die Form von Erzählungen gekleidet, von allen Ereignissen berichtet, großen und kleinen, guten und schlimmen, von Zeiten des Ueberflusses und von Zeiten der Not.
Diese Sagen haben einen doppelten Boden, indem sie teils die Quelle aller religiösen Vorstellungen sind, teils dazu dienen, die Nächte zu verkürzen, wenn die große Dunkelheit das Land verhüllt und der strenge Winter die Familien zu unfreiwilligem Stubenleben versammelt.
Man glaubt unbedingt an die Wahrheit dieser Mythen und Sagen; wenn etwas gegen die gesunde Vernunft streitet, so liegt es nur daran, daß jüngere Generationen nicht zu fassen vermögen, was bei den Vorfahren unantastbare Wahrheiten waren.
Wie bekannt, sind die Eskimos vorzügliche Beobachter, und darum ist es begreiflich, daß die alten Sagenerzähler, die im Besitz großer Beredtsamkeit sind, sich zu farbenreichen Schilderungen hinreißen lassen.
Beweis, daß die Sagen vielfach zum Zeitvertreib da sind, ist, daß die meisten mit den Schlußworten enden: Jetzt ist die Geschichte aus und der Winter wieder etwas kürzer!
Es ist schwierig, die Sagen dem Inhalt nach einzuteilen, da viele Themen häufig in ein und derselben Erzählung behandelt werden. Dennoch habe ich eine Gruppierung versucht, wie in der nachfolgenden Sammlung angegeben.
Die Eskimos unterscheiden zwischen Oqalugtuat und Oqaluatât.
Oqalugtuat sind die alten Mythen, die aus einer lernen Vorzeit stammen, als die Eskimos ihre Urheime in Gegenden hatten, die westlich von der Hudsonbucht lagen, vielleicht ganz drüben bei der Beringstraße. Darum kommen sie bei allen Eskimos vor und sind von Alaska über Baffinsland und Westgrönland, ganz bis nach Angmagssalik an der Ostküste bekannt.
Oqaluatât sind Sagen, die von Menschen handeln, die zu einer Zeit lebten, deren man sich noch erinnern kann. Sie sind stets lokal und deshalb leicht an ihren Entstehungsort zurückzuführen; doch haben auch diese die phantastische Ausschmückung der eskimoischen Sagen bekommen und unterscheiden sich kaum von den alten Mythen.
Gemeinsam für die Mythen und Sagen ist, daß der Erzähler immer die Auffassung hat, daß sie in seinem eigenen Lande vor sich gehen. Die langen Reisen, die während der Völkerwanderung in den Gegenden um die Hudsonbucht und bis zu Grönlands Küsten vorgenommen wurden, sind in Vergessenheit geraten, und darum finden wir dieselben Mythen an vielen Orten wieder, während ihr eigentlicher Herd in Wirklichkeit irgendwo fern im Westen ist, dort, wo die nordamerikanischen Stämme jetzt leben.
In groben Zügen kann man alle Mythen und Sagen nach vier Inhaltsrichtungen einteilen: Die epischen, die religiösen, die humoristischen und die einschläfernden.
Die epischen Sagen handeln meistens von dem grönländischen Sagenhelden, der als Ausgestoßener beginnt – einem armen Elternlosen –, der sich aus Not und Elend emporkämpfen muß und als ein »Allerweltskerl« endet, einem gewaltigen Kämpfer und einem unüberwindlichen Improvisator bei Sängerkriegen. Durch Reisen in fremde Gegenden muß er seinen Ruhm befestigen, und seine Pflicht ist es, zwischen seinen Landsleuten die Stärksten herauszufordern. Wie die Helden geschildert sind in »Kamikinak«, »Aloqutaq«, »Kâgssagssuk« und vielen anderen.
Die religiösen charakterisieren sich selbst.
Von den humoristischen ist zu sagen, daß sie entstanden sind, um die Menschen zu erheitern und zu unterhalten; darum werden sie immer mit drastischem Humor vorgetragen, von lebendiger Mimik und Gesten begleitet, so daß dem Erzähler Gelegenheit gegeben ist, wirkliche Schauspielkunst zu entfalten.
Die einschläfernden Erzählungen aber haben nur die Aufgabe, die Zeit zu verkürzen und so schnell wie möglich durch den Schlaf die Menschen aus der einförmigen Wartezeit des Winters zu erlösen. Bei diesen muß der Erzähler sich eines monotonen Vortrages befleißigen, der die Zuhörer einschläfert. Das größte Lob, das einem Erzähler gespendet werden kann, ist, daß die Zuhörer seine Erzählungen nie zu Ende gehört haben.
Die Ostgrönländer sind vorzügliche Sagenerzähler; zwischen den Alten haben einige es zu solcher Vollkommenheit gebracht, daß sie zu fremden Wohnplätzen eingeladen werden, wo sie von ihrer Kunst leben.
Indem ich diese Auswahl von Mythen und Sagen, die bei einem Volke gesammelt sind, das keine Schriftsprache besitzt, vorlege, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß nachfolgende Erzählungen darum ausschließlich darauf berechnet sind, erzählt und nicht gelesen zu werden. Dazu kommt, daß der Erzähler die Ereignisse nicht nur durch seine Darstellung lebendig macht, sondern ihnen auch durch die ganze Kraft seiner Persönlichkeit ein Gepräge gibt.
Der mündliche Vortrag ist natürlich nicht so abgeschliffen wie eine schriftliche Darstellung, und darum stößt man wieder und wieder auf große Schwierigkeiten, wenn man die mündliche Darstellung eines Naturvolkes in die Schriftsprache eines Kulturvolkes verpflanzt.
Ich möchte versuchen, von den leitenden Grundsätzen meiner Arbeit Rechenschaft abzulegen: So oft eine Sage zu Ende erzählt worden war, war mein Haupteindruck stets Bewunderung für die Vollkommenheit, mit der der Erzähler unbewußt seiner Darstellung Form gab. Darum habe ich Wert darauf gelegt, der Uebersetzung ebenfalls eine abgeschliffene Form zu geben, obgleich Pedanten vielleicht den Einwurf machen werden, daß es auf Kosten der echten Wiedergabe geschehen mußte. Eine Wiedergabe in den naiven Sprachwendungen aber schien mir unangebracht, weil das nicht allein naiv auf den Leser wirken würde, etwas, was der grönländische Erzähler keineswegs beabsichtigt, sondern auch ermüdend und unerträglich. Der ganze Aufbau der originalen Erzählung aber ist genau beibehalten.
Ich ließ mir die Erzählung zuerst ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende erzählen. Darauf schrieb ich die Sage nieder, indem ich sie mir Satz für Satz wiederholen ließ. Durch die tägliche Arbeit mit demselben Stoff erlangt man solch große Uebung im Zuhören und Erinnern, daß man die Erzählung, indem man sie hört, gleichzeitig auswendig lernt. Wenn der Erzähler darum, von meinem langweiligen Niederschreiben ermüdet, seine ursprüngliche Darstellung zu verkürzen oder zu verflachen suchte, konnte ich eingreifen und ihn zu seiner ursprünglichen Form zurückführen.
Meine Hauptquellen für die Sagen waren teils Kârale, teils die drei alten Frauen, die im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurden.
Das Innere eines ostgrönländischen Winterhauses.