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Alle Lieder werden im Menschen draußen in der großen Einöde geboren. Bald kommen sie als Tränen, aus tiefem Herzensweh zu uns, bald als mutwilliges Lachen, der Freude entsprungen, die man über das Leben und die herrlichen Länder der Welt empfinden muß.
Ohne daß wir selbst wissen, wie, kommen mit dem Atemzug Worte und Töne, die nicht alltägliche Rede sind, und die das Eigentum desjenigen werden, der anderen vorzusingen versteht.
Der alte Kilimê.
Ein Eskimo kann in seinem täglichen Jagdleben mit einem Forscher verglichen werden, der von Land zu Land zieht, um Neues zu entdecken; er hat beständig nur das eine Ziel vor Augen, mehr und mehr Gegenden kennen zu lernen, wo er sich seiner Wissenschaft und seinem Erwerb hingeben kann, die auf geniale Weise eins sind.
Der eskimoische Entdeckungsreisende aber zieht niemals mit einer zuverlässigen Ausrüstung aus, er muß sich unterwegs durch Jagd den Unterhalt verschaffen, Frau und Kinder mit sich führen und meistens ganz unbekannte Gestade aufsuchen. Mit Wohnplatzgenossen, in ganzen Völkerwanderungen pflegt er aufzubrechen, wenn die Wanderlust ihn überkommt, und häufig läßt er sich erst fern von seinem alten Wohnplatz, in ganz fremden Gegenden nieder.
Dies Leben, aus dem er täglich Spannung und Inhalt schöpft, hat die Fähigkeit in ihm entwickelt, Eindrücke von Begebenheiten zu bewahren, und diese Eindrücke wurden zu Traditionen, die sich wie eine Einfriedigung um alles Erlebte legte. Alle Erinnerungen wurden gewissenhaft von Geschlecht zu Geschlecht durch das Gedächtnis bewahrt, und da die Eskimos keine Schriftsprache besitzen, die die nüchterne Prosa des Alltags festhalten kann, nahmen die Geschichten mit der Zeit an Farben und Wundern zu und wurden zu den Sagen, die wir bereits kennen gelernt haben.
Die tierische Einfalt, mit der die Eskimos in ihren Stimmungen aufgehen, haben ihnen eine Sonderstellung zwischen den Naturvölkern gegeben.
Diese Gabe sich hinzugeben, findet auch Ausdruck in den eskimoischen Liedern.
Wie wilde Gebirgsblumen schießen sie aus fruchtbaren Gemütern in die Höhe und formen sich zu einer unbewußten Kunst, die mit der ganzen Kraft des Instinktes entsteht.
Man kann die verschiedenen Formen der Lieder in Gruppen teilen:
Stimmungslieder, Spottlieder, Kajaklieder, die auch eine Art Stimmungslieder sind, meistens aber den Zweck haben, die Zeit auf langen, einförmigen Fahrten zu verkürzen. Sie werden von Fängern als Chorlieder gesungen, wenn sie nach einem anstrengenden Tag heimwärts rudern.
Uâjerutit; dies ist eine Art Singspiel, die viel Darstellungskunst erfordert.
Es ist schwer, nur durch Textwiedergabe einen richtigen Eindruck der Lieder und der ganzen Rolle, die sie für die Eskimos spielen, zu geben; man muß sie an Ort und Stelle hören.
Ich will versuchen, durch die Schilderung eines Sängerfestes den Rahmen zu schaffen, der nötig ist, um die eigentümliche Stimmung zu verstehen, die Menschen und Umgebung einhüllen.
Unsere Gäste kamen singend in einem Boot, eine ganze Fracht froher, festlich gekleideter Menschen, die unserer Einladung zum Sängerfest gefolgt waren.
Wir hatten sie schon voller Ungeduld den ganzen Tag erwartet, oftmals waren wir auf die Höhen gestiegen, um über den blanken Fjord zu spähen, wo die großen Eisschollen sich um die Wette mit den Bergen spiegelten; doch wollte kein Ruf die Nahenden künden. Die Sonne war schon, nach der kurzen Dämmerung, unterm Horizont verschwunden, der Mond war aufgegangen, mit seinem weißen Nordlicht im Gefolge, und als gerade der große Abendstern ruhig leuchtend wie ein Feuer am Himmel stand, hörten wir die ersten Rufe vom Meere und blieben lauschend am Strande stehen.
Sehen konnten wir nichts, aber wir hörten, wie der Gesang auf dem Fjord zu den Uferlosen aufstieg, und lange bevor wir das Meerleuchten sahen, das wie Funken von den Rudern stob, waren wir mitten drin in der Stimmung, die uns wie ein linder Wind entgegenkam. Alte, lebensfrohe Frauen führten den Chorgesang mit ihren dünnen Stimmen an, und dazwischen klangen, wie ein Gruß von Wind und Wetter und Sonne, einzelne tiefe Männerstimmen aus den begleitenden Kajaks.
In der Nähe des Strandes wurden sie durch einen Anruf zurückgehalten: Man meldete, daß ungewöhnlich tiefe Ebbe Landung fast unmöglich mache. Große Eisblöcke, die gestrandet waren, lagen wie eine Barrikade um den Wohnplatz. Man beriet sich, und bald darauf fand man eine zweckdienliche Klippe, wo der ganze Inhalt des Bootes entladen wurde.
Meist waren ältere Frauen und Männer gekommen. Die Jungen werden nicht mehr zu Gesang und Tanz erzogen. Das ist ein Opfer, das der Stamm der Mission gebracht hat, die diese alte Form für Lebensfreude mit dem Christentum unvereinbar hält.
Nun waren die Gäste da, und das große Haus war warm und beleuchtet, bereit, uns alle aufzunehmen.
Wir waren fast hundert Seelen, die im Wohnraum verstaut wurden. Die Frauen mußten sich entkleiden, um auf der Hauptpritsche Platz zu finden, während die Männer die Seitenpritschen längs der Wände füllten. Außerdem waren auf dem Fußboden Seehundsfelle ausgebreitet, wo man in Schichten übereinander lag. Das Haus, das mir ursprünglich durch seine Größe imponiert hatte, war ganz klein und in einen wimmelnden Ameisenhaufen verwandelt worden. Die Temperatur war nicht arktisch, von der Atmosphäre will ich schweigen.
Der Wirt, der das »Menschenkind« hieß, übrigens in der Taufe den Namen Christian erhalten hatte, sprach sein Bedauern darüber aus, daß sein Haus kleiner sei als seine Gastfreiheit. Er habe aber so viele geladen, weil er auf echt ostgrönländische Art die fremden Nordgrönländer feiern wolle. Damit meinte er mich und den Polareskimo Ajako, der mich auf meiner Expedition begleitete.
Das Menschenkind war als einer der stärksten Männer an der Ostküste bekannt; wenn er eine Bewegung machte, bebten die Muskeln seines nackten Oberkörpers. Er war auch ein angesehener Sänger. Er hoffe, sagte er, daß das Fest bis zum nächsten Tage dauern würde. Vor dem Gesang aber sollten wir essen.
Die Anrichtung des Festmahles war einfach, die Dimension aber großzügig, denn es bestand aus einem Fleischgericht von gut 300 Kilo.
Am Vormittage war bereits eine Vorratsgrube geöffnet worden; jetzt wurden einige junge Leute hinausgeschickt, kurz darauf wurde eine Fangleine durch den Hausgang geworfen, die Zunächststehenden zogen, und bald rollte ein riesiger Seehund (Klapmyds) herein, ungeteilt, mit Haut und Haar.
Allen Anwesenden lief das Wasser im Munde zusammen. Da waren Kinder, die schon den ganzen Tag darauf gewartet hatten und denen beim bloßen Anblick der Mund offen stand. Da waren Feinschmecker unter den Frauen, die kaum auf eine so üppige Mahlzeit gehofft hatten; sie sprangen auf die Erde mit ihren geschliffenen Krummessern und begannen das große Tier zu zerlegen.
Die Anrichtung war ebenso einfach wie die Zubereitung. Den Gästen wurde Speck und Fleisch hingereicht bis nichts mehr da war; und was man nicht auf der Stelle oder im Laufe des Abends verzehrte, nahm man mit nach Hause. Man aß ohne Gier, in heiterer Stimmung, der Ueberfluß machte uns froh und verband uns in herzlicher Stimmung. Es war nicht zu leugnen, daß das Ganze sich wie ein Freßgelage formte, andererseits aber herrschte doch das Gefühl vor, daß dieses nur eine Einleitung sei. Für die Kinder dieses barschen Landes liegt ein Behagen darin, daß alle materiellen Wünsche aufhören; danach war man bereit, das Konzert, das mindestens acht Stunden dauern sollte, aufzunehmen.
Jetzt trat der Wirt vor und stellte sich auf den Platz, der den Mitwirkenden des Abends vorbehalten war. Er hielt die Zaubertrommel in der Hand und sah sich gutgelaunt zwischen den Zuschauern um. Dann begann er langsam beim Trommelklang seinen Körper im Tanz zu winden, und indem er einen einleitenden Gesang ohne Worte anstimmte, dessen »Awaija-awaija« wie die Rufe eines Einsamen in der Einöde klangen, schloß sich sofort der brausende Chor der Zuhörer an.
Der Gesang der Ostgrönländer wurzelt wie der aller Naturvölker in der Religion. Geisterbeschwörer und Medizinmänner, die ihr Wissen in der Einsamkeit, fern von den Wohnstätten suchten, brachten den Gesang ihren Landsleuten, und darum war er einst heilig und ertönte nur bei den großen religiösen Beschwörungen des Uebernatürlichen.
Später wurde es Sitte, daß man das Ungewöhnliche durch Töne ausdrückte, man sang von seinem Schmerz oder seiner Freude, um sie mit anderen zu teilen; die Zaubertrommel aber wurde ein Gefühlsvermittler, selbst für die, die nicht Geisterbeschwörer waren.
Und der Tanz kam hinzu, wie eine festliche Beigabe, die die Inspiration verstärkte; denn der Vorsänger tanzt eine Art Bauchtanz zum Takt der Trommel, während der Chor um ihn herum hockt oder auf der Erde liegt.
Die Mimik des Vorsängers während des magenverrenkenden Tanzes ist sehr wirkungsvoll, besonders komische Situationen werden durch Grimassen hervorgehoben, die mit Jubel begrüßt werden. Der Eskimo besitzt einen drastischen und derben Humor, der nicht nur nach Gelächter angelt, sondern auch wie Peitschenhiebe treffen kann.
Das erste Lied war zu Ende gesungen; es war nur eine kurze Melodie gewesen, die den Chor sammeln und den Ton anschlagen sollte. Kaum war dies geschehen, als ein anderer vortrat und die Trommel ergriff. Es war der alte Kilimê, einer der ältesten des Stammes, ein Mann aus jener Zeit, als noch alle Heiden waren. In seinem Kajak bedeutete er nichts mehr, er ernährte sich dadurch, daß er den Jungen Gerätschaften machte. Sein langes, graues Haar umflatterte seinen Kopf wild, wenn er tanzte. Er teilte uns mit, daß er uns ein Kampflied vorsingen wollte, wie man es in seiner Jugend sang, als alle Streitigkeiten noch durch Sängerduelle entschieden wurden.
Wenn zwei Männer sich entzweit hatten, meistens einer Frau wegen, oder wenn eine ungesühnte Blutschuld zwischen ihnen stand, konnte eine Affäre, bei der es um Leben und Tod ging, durch einen Sängerkampf entschieden werden. Zwei Feinde, die sich jahrelang aus dem Wege gegangen waren, die nie miteinander sprachen, und die, traditioneller Verpflichtungen zufolge, sich eine Harpune in den Leib rennen mußten, wenn sie sich auf dem Meere begegneten, versammelten Freunde und Bekannte als Zeugen und hielten so ihre Abrechnung.
Die Zuhörer kamen dann alle festlich gekleidet, in ganz neuen Anzügen, im Sommer in großen Flotten von Böten, mit vielen begleitenden Kajaks, im Winter in munteren Schlittenzügen. Die Herausforderung mußte bei guter Zeit geschehen, damit der Gegner Gelegenheit hatte, seine Antwort, seine Verteidigung und seinen Gegenangriff vorzubereiten.
Der Kampf ging auf die Weise vor sich, daß die Feinde inmitten der Zuhörer voreinander Aufstellung nahmen, im Winter im Wohnhause, im Sommer in einem Tal. Der Herausforderer hatte das erste Wort, und es war seine Aufgabe, bei Trommelschlag ein Spottlied von dem Gegner zu singen. Wer seinem Gegner so zusetzte, daß er die Lacher auf seiner Seite hatte, wurde mit Beifallsgeschrei als Sieger erkoren.
Tief drinnen im Lande, fern von der Küste, wo die Wohnplätze der Menschen liegen, leben die Riesenweiber, Kûpajit genannt. Sie haben an Händen und Füßen Eisenkrallen und können selbst in das härteste Gestein Löcher graben.
Die Worte aber waren nicht die einzige Waffe; denn während er sang, tanzte der Sänger um seinen Gegner herum und gab ihm mit kurzen Zwischenräumen solche Ohrfeigen, daß das Gesicht des Angegriffenen oft so anschwoll, daß seine Augen ganz verschwanden. Seine Vergeltung kam an einem anderen Abend; während der Feind sein Spottlied sang, mußte er lächelnd dastehen und sowohl den Hohn wie die Schläge möglichst ungerührt entgegennehmen. Wenn später alles entschieden war, vergaß man alte Zwietracht, und ehemalige Feinde wurden häufig die besten Freunde, die sich gegenseitig beschenkten.
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Der alte Kilimê schlug die Trommel mit der Kraft eines Jünglings und sang zuerst Marratses Herausforderung an Eqerqo, »den Kleinenfinger«, der Marratses geschiedene Frau geheiratet hätte; durch diese Ehe war Marratses alte Liebe und Eifersucht wieder wach geworden, und es hatte mit einem Sängerduell geendet.
Das Lied war sehr lang und dauerte mit Tanz und Mimik mindestens eine Stunde. Hier ist etwas daraus:
Worte will ich spalten,
kleine scharfe Worte,
wie Holzsplitter, die ich
mit meiner Axt zerhacke.
Ein Lied aus alten Zeiten,
ein Atemhauch der Ahnen,
meiner Frau ein Sehnsuchtslied,
ein Lied, das Vergessen bringt.
Ein frecher Schwätzer hat sie geraubt,
hat sie zu erniedrigen versucht,
ein Elender, der Menschenfleisch liebt,
ein Kannibale aus Hungerszeiten.
Darauf antwortete »der Kleinefinger«:
Frechheit, die in Erstaunen setzt!
Wut und Mut zum Lachen:
Ein Spottlied,
das die Schuld mir geben will!
Schreck willst du mir einjagen,
mir, der ich gleichmütig dem Tode trotze.
Hei – du besingst meine Frau,
die einst war die Deine;
damals warst du nicht so liebenswert.
Während allein sie war,
vergaßest du, durch Gesang sie zu preisen,
durch herausfordernden Kampfgesang.
Jetzt ist sie mein,
und nimmer sollen sie besuchen singende, falsche Liebhaber,
Frauenverführer
im fremden Zelt.
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Diese Sängerduelle sind jetzt von der Mission verboten und Kilimê mußte sich darum damit begnügen, sie wie eine Demonstration vorzuführen. Er bildete sich ein, daß ein Gegner vor ihm stand, und der Alte umkreiste ihn, wie ein Vogel seine Beute, schlug unversehens auf ihn nieder, mit Zischlauten und Fauchen, stieß nach ihm mit seinem Kopf, schlug dazu die Trommel und tanzte und schrie die Worte heraus. Bei jedem Angriff brauste Beifall über ihn herab, und dem Chor verging fast der Atem vor Eifer.
Und unwillkürlich schweiften die Gedanken zu Kilimês Jugend, als die Sängerkämpfe nicht nur eine Unterhaltung, sondern eine juristische Handlung waren, wo es manche zerbrochene Gehirnschalen gab, die sogar dem Geübtesten nicht erspart blieben. Und die Uebung selbst war keine Spielerei. Man rannte mit dem Kopf gegen einen Seehundsschädel, der an einem Pfosten in der Hütte festgebunden wurde. Manch liebes Mal aber ist ein zerschlagenes Nasenbein oder ein blaues Auge die Einleitung zu späterer Freundschaft geworden.
Nach Kilimê kamen zwei alte Frauen an die Reihe; für gewöhnlich führten sie ein recht bescheidenes Dasein auf der Seitenpritsche, heute abend aber war aller Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Sie gruben in ihrer Erinnerung und sangen von ihrer Jugend. Jetzt waren sie allerdings steif von Gicht und in Lumpen gekleidet, wie sie denen zukommen, die verbraucht sind, einst aber hatten Männer ihretwegen Sängerkämpfe abgehalten und gewetteifert, ihnen Festkleider zu schenken. Und auch ihr eigenes Gemüt war voller Lebenshunger und Eifersucht gewesen. Jetzt waren ihnen nur noch die Erinnerungen und die Lumpen geblieben, noch aber besaßen sie Humor genug, um die übermütigen Grimassen des Liedes auszudrücken, und vermochten, ohne sich lächerlich zu machen, in Saiten zu greifen, die einen fernen Klang von Weisheit und Erlebnissen hatten.
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Das Fest entwickelte sich zu einer ununterbrochenen Reihe barocker Bilder.
Ein Mann lag plötzlich der Länge nach auf der Erde, singend, nur den Kopf auf und nieder bewegend; er war mitten in einem Tierspiel und stellte einen Wal vor. Der Fußboden hatte sich zu fernen Horizonten erweitert, das Meer plätscherte gegen den Fuß der Pritsche.
Das Lied schilderte das Leben des Wals. Und das große Seetier richtete sich vor der gefüllten Wassertonne auf, sog so viel Wasser ein, wie es bei sich behalten konnte, und blies es über die zunächstsitzenden, nackten Frauen, die von Wasser troffen. Es war Anschauungsunterricht in Naturgeschichte bei Gesang und Trommelschlag, und Stürme von Gelächter und Geschrei begrüßten jedesmal den Wal, wenn er sich aufrichtete, um Wasser auszublasen.
Dies Spiel wird ein Uâjêrut genannt, und damit waren alle Schleusen der Heiterkeit geöffnet.
In dieser Nacht waren alle ein einziges, zusammenklingendes Instrument. Man war zum Fest zusammengekommen, der Alltag war beiseite geschoben, die Nacht sollte wie ein kostbares Erlebnis auf Händen getragen und der Sonne als Geschenk überreicht werden, wenn sie durch die blumenbereiften Fenster hereinbrach.
Es war einmal ein Großfänger, der in seiner Jugend Land bei Aputitêq, nördlich von Sermeiigâq, gehabt hatte, wo die großen Narwalzüge spannende und reiche Jagden geben.
Als alter Mann kehrte der Großfänger zu dem Wohnplatz seiner Jugend zurück und sieht noch einmal die Wale im Meere spielen, sieht sie in großen, schnaufenden Zügen längs der Küste vorbeiziehen.
Der Alte starrt auf dieses gewaltige Schauspiel, das seine Leidenschaft war, als er noch auf dem Gipfel des Daseins stand, und indem er die Ohnmacht des Alters fühlt, schmerzt es ihn tief, daß ihm nichts wie der Tod geblieben ist. Er ergreift die Trommel und singt:
Ijaja-a – – ijaja, aje,
Ich will versuchen, meine Gedanken,
meine großen Gedanken
von mir zu schieben,
ijaja-a – – ijaja – aje.
Ich will versuchen, meinen Kummer,
meinen großen Kummer
hinunterzuschlucken,
ijaja-a – – ijaja – aje.
Möge mein Lied
davon mich befreien,
möge heilend mein Lied
durch meine Kehle atmen.
Möge mein kleines Lied
meinen großen Kummer
mir aus der Seele scheuchen,
ijaja-a – – ijaja – aje.
Aber nein, nein, nein,
unmöglich ist's,
den Schmerz aus meiner Kehle zu jagen,
unmöglich ist's,
die drängenden Tränen zu lösen,
ijaja-a – – ijaja – aje.
Müde sind meine Augen;
meine erloschenen Augen,
nie werden sie mehr dem Narwal folgen,
wenn er aus der Tiefe heraufschießt,
um die Welle des Meeres zu brechen,
nie werden meine Muskeln mehr erbeben,
wenn zur Harpune ich greife,
ijaja-a – – ijaja – aje.
Ach, wenn doch alle die Seelen
der Seetiere, die einst ich getötet,
mir ihre Hilfe schenkten,
meine schweren Gedanken zu bannen.
Wenn die Erinnerung früherer Jagden
von des Alters Schwäche
mich doch würde befreien!
Ijaja-a – – ijaja – aje.
Stimme, mein Geist, ein Lied
von meinen Fangtieren an,
von den Narwalen, die in Zügen
die Meeresfläche teilten
in schäumender Gischt vor meinem Wohnplatz
Aputitêq,
ijaja-a – – ijaja – aje.
Die Kehllieder vieler Narwale
durch das Schnaufen erklangen,
wenn wild es stürmte –
tiefe Töne und gellendes Flöten.
Andere ruhten schläfrig
auf dem Wasserspiegel.
Ich singe von den Erinnerungen
meiner Jugendzeit.
Und zugleich mit dem Atem des Lebens
bricht mir das Lied aus der Kehle.
Den ganzen Winter liegt das Großeis vor den Küsten Ostgrönlands, unzugänglich für Schlittenreisende; wenn aber das Frühjahr kommt und das Eis sich zu lockern beginnt, kommt eine Zeit mit frohen Fangtagen für kühne Jäger.
Kein langweiliger Zeitverschwender bin ich. Kein schweigsamer Duckmäuser,
ava – ajaja, ajaja – aja.
Die Sermilik-Berge bestieg ich
und blickte über das Meer,
das große Meer,
ava – ajaja, ajaja – aja.
Längs der Küste das Packeis lag,
ein Eisberg wollte ins Meer hinaus segeln,
die Uigordlit-Felsen standen
wie Balken im Meer.
ava – ajaja, ajaja – aja.
Mir schwindelte und
mein Atem ging schwer,
und mich dünkte, es würde
mein Leben nur allzu kurz sein,
ava – ajaja, ajaja – aja.
Der Winter ist lang und hart und der Fang so schlecht gewesen, daß die Leute des Wohnplatzes Not gelitten haben. Alle sind ermattet und kraftlos, und manche meinen, daß die Kräfte nicht mehr ausreichen werden, bis der Frühling kommt und Sonne und neue Zeiten bringt.
Ein Mann fährt in seinem Kajak längs der Küste, wo das erste offene Wasser sich zu bilden begonnen hat. Er kommt zu einem Felsen, den er besteigt, um zu sehen, ob er weiter draußen Waken entdecken kann, wo Seehunde sich aufhalten. Schwach und matt arbeitet er sich den Berg hinauf, bis er eine Schneewehe entdeckt, die sich durch die Sonnenwärme bereits vom Felsen löst.
Darüber wird er so froh, daß er folgendes Lied anstimmt:
Aja-ha, aja-ha.
Im Kajak fuhr ich,
um Land zu suchen,
aja-ha, aja-ha!
Zu einer Schneewehe ich kam,
die zu schmelzen begann.
Aja-hai-ja, aja-ha!
Da wußte ich, daß der Frühling nah
und daß der Winter vorbei!
Aja-hai-ja, aja-hai-ja!
Und ich fürchtete, meine Augen
könnten zu schwach wohl sein,
viel zu schwach,
um das Herrliche alles zu schauen.
Aja-hai-ja,
aja-hai-ja,
aja-ha!
Es ist Sitte, daß mehrere Familien in einem großen Winterhaus zusammen wohnen – fünfzig bis sechzig Personen –, das Haus ist aus Stein und Torf erbaut. Im Winter, wenn der Fang knapp ist, pflegt man alles Fleisch, das ins Haus kommt, gleichmäßig unter die Familien zu verteilen, ohne Rücksicht auf den Besitzer.
Einst hatte man entdeckt, daß ein Mann nachts aus seinen Fleischgruben Fleisch holte und sich satt aß, während die anderen schliefen. Wenn er gegessen hatte, wickelte er die Reste in ein Fell und versteckte sie unter der Pritsche.
Einer der Hausgenossen rächte sich an ihm, indem er folgendes Lied dichtete, das er eines Abends unter schadenfroher Heiterkeit der Bewohner vortrug.
Der Geizhals soll darüber so beschämt gewesen sein, daß er nie wieder eine heimliche Mahlzeit einnahm.
Ich setze Worte zusammen
zu einem Lied,
einem ganz kleinen Lied,
das eines Tages ins Haus ich brachte.
Unkenntlich und in ein Fell gewickelt
warf ich es unter die Pritsche.
Keiner sollte Anteil dran haben,
niemand es erleben.
Mein sollte es sein,
mein, mein, mein,
heimlich und ungeteilt.
Uâjêrutit st ein Singspiel, das den Zweck hat, die Zuhörer zu belustigen und sie zum Lachen zu bringen. Das Spiel ist auf einer Nachahmung aufgebaut, man stellt sich, als ob man in irgend einen anderen Menschen, einen Seehund oder Walfisch verwandelt worden ist; und das Dargestellte versucht man mit irgend etwas Selbstgesehenem in Einklang zu bringen. Einige ahmen Kajakleute nach, deren Bewegungen besonders charakteristisch sind, indem sie sich stellen, als ob sie ihren Blasenpfeil werfen, und spielen, wie Kajakflotten es zu tun pflegen, wenn sie ein Boot begleiten. Diese Singspiele werden nach dem genannt, was sie gerade vorstellen. Es gehören Worte dazu, und diese Worte werden von dem Chorgesang der Zuhörer begleitet. Hier das Lied von dem Finnwal:
Auf dem Gipfel des allerhöchsten Berges leben Mákákâjuits und beobachten die Menschen, um ihnen ihre Fangtiere auf dem Meere zu rauben. Wenn ein Seehund harpuniert ist, ziehen sie ihn auf den Meeresgrund herab und zerlegen ihn; darum entgeht den Menschen so viele Beute. Auf dem Bilde sieht man einen Haifisch, der auch seinen Anteil haben will.
Amaqâ-rrê-e.
Ich stelle mich, als sei ich ein Mensch,
ich stelle mich, als sei ich ein Mann,
und forme den Text meines Liedes
nach einer Beute,
die einst ich erlegte.
Amaqâ-rrê-e.
Den Wal,
den großen Finnwal,
amaqâ-rrê-e,
ahm' ich jetzt nach.
Ich bin der Wal,
der große Finnwal,
der das Wasser teilt,
um zu verschnaufen,
um Luft auszublasen.
Amaqâ-rrê-e!
Der große Finnwal,
den ich einst verwundet,
mit meiner Harpune traf.
Amaqâ-rrê-e!
Dieses Lied wird von Sänger und Chor gesungen, indem der Auftretende mit Kopf und Körper die Bewegungen des Wals nachahmt. Beständig singend, macht er Schwimmbewegungen zu einem Wasserbehälter hin und taucht seinen Kopf hinein, damit es aussieht, als ob er in die Tiefe taucht. Er füllt seinen Mund mit Wasser und kehrt mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken zurück. In der einen Hand hält er die Trommel, in der anderen den Trommelschläger, und beide Arme sind nach hinten gestreckt, so daß die Trommel wie eine Finne auf seinem Rücken liegt. So bewegt er sich durch den Raum bis zur Pritsche, schießt plötzlich an die Oberfläche des Wassers – man stellt sich den Rand der Pritsche darunter vor –, reckt den Hals und hebt den Kopf, um nach Luft zu schnappen und bläst den ganzen Inhalt des Mundes über die nackten Menschen auf der Pritsche aus, die den Wasserstrahl mit Geschrei und Gelächter empfangen.
Und dann stimmt er sein Lied wieder an, das von dem Chor wiederholt wird:
Ich bin der Wal,
der große Finnwal,
der das Wasser teilt,
um Luft auszublasen.
Amaqâ-rrê-e!
Durch den Hausgang kommt ein Mann, der als Riesenfrau verkleidet ist. Sie sieht zum Erschrecken aus, mit einer grotesken Gestalt, die eine Frau in weit fortgeschrittener Schwangerschaft vorstellt. Darum ist auch ihr Gesicht geschwärzt. In der Hand hält sie einen Sack und geht von Pritsche zu Pritsche, um sich von jedem einzelnen eine Gabe zu erbetteln. Sie klagt und jammert, macht ein klägliches, wehleidiges Gesicht und erzählt, daß ihr Kind im Amaut drauf und dran ist, Hungers zu sterben.
Wenn sie die Reihe rund ist, muß man sie fragen:
»Kannst du nicht singen? Kannst du nicht den Trommeltanz tanzen?«
Darauf antwortet sie: »Doch, ich kann singen und tanzen.«
Dann ergreift sie die Trommel, die im Hause bereit liegt, und beginnt sie eifrig und fanatisch zu schlagen, indem sie sich gleichzeitig den Rand der Trommel gegen den Bauch stößt. Dabei verzerrte sich ihr Gesicht zu Grimassen; ihre Nase ist durch einen Riemen bis fast an die Augen hinaufgezogen; im Munde hat sie ein Holzstück, das ihre Backen spreizt. Trotz dieses verzerrten Mundes muß sie singen, während der ganze Chor einfällt.
Sie tanzt durch den Raum, bleibt aber hin und wieder stehen, stößt sich selbst den Trommelschläger in den Leib, verdreht ihren Körper im Takt zum Chorgesang und ruft:
»Ihre Schuld da drinnen ist's, daß ich nicht singen kann!«
Dann tanzt sie weiter, bis sie wieder stehen bleibt, um auf das eingebildete Kind im Amaut mit dem Trommelschläger zu zeigen:
»Ihre Schuld dort oben ist's, daß ich nicht singen kann!«
Ihr Zorn über den mißglückten Gesang wird immer heftiger. Vergeblich gibt sie sich Mühe, aber das Band unter ihren Nasenlöchern gibt ihrer Stimme einen näselnden Klang, und das Stück Holz im Munde hindert sie. Auf einmal verstummt sie unter furchtbaren Körperverrenkungen, während der Chor immer weiter singt. Da ist es, als ob die arme Bettlerin plötzlich, vor Wut außer sich gerät, und um sich Luft zu verschaffen, ergreift sie einen Stock und stürzt sich auf den Chor, um ihn durchzuprügeln. Wilde Panik entsteht. Am härtesten und ganz unbarmherzig schlägt sie diejenigen, die vor ihr flüchten, ohne Rücksicht darauf, ob es Kinder oder Aeltere sind, während diejenigen, die die Schläge ruhig entgegennehmen, besser davonkommen. Aber nur die wenigsten bewahren ihre Ruhe; unwillkürlich wird man von Furcht vor ihrem schrecklichen Aussehen und ihrer Wut ergriffen und das ganze Haus wird ein Chaos von Verwirrung. Der Chor ist längst verstummt, der Gesang von Geschrei abgelöst, und der größte Teil der Festgenossen stürmt zum Eingangsloch, wo man in einem Haufen übereinander kugelt und nicht hinauskommen kann. Man hört die klatschenden Schläge des Stockes auf den nackten Rücken. Die Kinder schreien und sind außer sich vor Angst, und nur wenige der Aelteren versuchen, ihre Schmerzen und ihre Verwirrung fortzulachen; endlich gelangt man unter Balgerei durch den Hausgang und ins Freie, wo man sich splitternackt aufhalf, bis die Riesenfrau den Stock wegwirft und unter die Pritsche kriecht, als Zeichen, daß das Spiel beendet ist.