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Ein Mann aus dem Stamm der Erqiliken mit Bogen und Pfeil, die andere Widerhaken haben, als wie sie die Küstenbewohner benutzen. Die Erqiliken sind Inlandsbewohner und gelten als die grausamsten Feinde der Menschen.
Es war einmal ein Großfänger, der bei seinen Eltern lebte, und obgleich er schon längst erwachsen und tüchtig in allen Leibesübungen war, ging er niemals zur Jagd, ohne daß seine Eltern ihn fragten, wohin er gehe. Ueberhaupt waren sie sehr besorgt um ihn, denn er war ihr einziger Sohn. Eines Tages nun ruderte er wie gewöhnlich zum Fang aus; als er aber mitten auf dem Meere war, wurde er ganz plötzlich von einer seltsamen Angst befallen. Den ganzen Tag verließ sie ihn nicht, und schließlich ruderte er heimwärts. So ging es ihm mehrere Tage, bis das Angstgefühl ihn verließ. Tags darauf war er draußen gewesen, um dem Zuge der Seehunde aufzulauern, und befand sich auf dem Heimwege, als eine unerklärliche Macht ihn ans Land zog. Er versuchte mit dem Ruder gegenzuhalten, aber es nützte ihm nichts; er wurde wider Willen mit starker Geschwindigkeit aufs Land zu geführt. In der Nähe des Ufers sah er zwei Riesenfrauen stehen, die ihn zu sich heranzogen, indem sie Bewegungen machten, als ob sie ihn an einem Tau hätten. Kaum war er an Land gekommen, als sie ihn ergriffen und landeinwärts trugen. Puvia versuchte, sich zu wehren, aber es nützte ihm nichts, und schließlich fing er vor Angst an zu weinen. Als die Frauen das hörten, sagten sie:
»Laß das Weinen, es nützt dir nichts! Wir nehmen dich trotzdem mit und du kommst nie wieder zurück.«
Seine Eltern warteten lange vergeblich auf seine Heimkehr und suchten ihn überall; als aber alles vergeblich blieb, beweinten sie ihn als tot.
Indessen hatten die Frauen ihn weit, weit über Land getragen, bis sie zu einem großen See kamen, an dessen Ufer ein großes Haus lag. Sie hatten ihn den ganzen Weg in seinem Kajak getragen und so brachten sie ihn auch ins Haus. Als sie mit dem Mann im Kajak hereinkamen, sagten die Eltern der Mädchen:
»Wen bringt ihr denn da? Was wollt ihr mit ihm?«
»Er soll unser Mann sein,« antworteten die Mädchen.
Als die Eltern das hörten, waren sie sehr froh und wohl zufrieden.
Die beiden Riesenfrauen stellten ihn nun auf ein Bort an der Wand, und Puvia hatte ein Gefühl, als ob er sich auf einem steilen Felsen befände, von wo er nicht herunterkommen konnte. Dort ließen die Frauen ihn drei Tage stehen und reichten ihm Speise und Trank hinauf. Darauf nahmen sie ihn wieder herunter und hatten ihm in der Zwischenzeit Kleider genäht. Und als er sie probierte, siehe, da paßten sie ganz genau. Sie hatten ihm diese Kleider nur nach dem Augenmaß gemacht; so geschickt waren sie.
Nachdem sie ihn angekleidet hatten, stellten sie ihn zwischen sich, und obgleich er stand, war er doch viel kleiner als seine Frauen, die saßen. Mit Schaudern dachte er daran, wie es gehen würde, wenn diese Frauen böse oder schlecht gelaunt wären, und er wünschte sich aus ganzer Seele, daß er wachsen möge. Und da geschah es, daß er ganz langsam zu wachsen begann; nach einer Weile war er ebensogroß wie seine Frauen, und nach einer weiteren war er sogar größer als sie.
Eines Tages ging er an den Strand, um nach seinem Kajak zu sehen, und dieser erschien ihm nicht größer als ein Spielzeug. Sofort begann er sich einen anderen zu zimmern, der zu seiner Größe paßte, und als er fertig war, bat er seine Frauen, ihn mit Fell zu überziehen.
»Wie sollen wir das anstellen? Wir haben noch nie einen Kajak überzogen.«
»Wenn ihr mich rauben konntet, werdet ihr auch wohl herausfinden können, wie man einen Kajak überzieht.«
Die Frauen waren in großer Verlegenheit, schließlich aber begannen sie doch Felle um das Gestell zu nähen. Als Puvia zurückkam, um nach ihrer Arbeit zu sehen, entdeckte er, daß sie den Kajak ganz zugenäht hatten; nicht eine einzige Oeffnung zum Einsteigen hatten sie gelassen.
»Wo ist denn das Mannloch?« fragte er. »Wie soll ich in den Kajak hineinkommen?«
»Was ist ein Mannloch?«
»Erinnert ihr euch nicht, daß ich in einem Loch saß, als ich kam?«
Da erinnerten sich die Frauen, daß ein Mannloch zu einem Kajak gehörte, und sie schnitten ein rundes Loch ins Fell, und Puvia legte selbst die letzte Hand daran.
Anfangs ruderte er nur auf dem See herum, der zum Hause gehörte, bald aber ruderte er auch weiter, und als er eines Tages zurückkam, sagte er:
»Ach, waren das schöne Zeiten, als ich noch auf die Eidervogeljagd gehen konnte!«
Als sein Schwiegervater ihn so seufzen hörte, sagte er: »Ich will morgen mit dir auf die Eidervogeljagd gehen, komm mit mir zu einem großen See.«
Puvia aber fragte: »Wie willst du ohne Kajak auf die Eidervogeljagd gehen?«
»Laß das nur meine Sorge sein,« sagte der Schwiegervater.
Tags darauf brachen sie zusammen auf. Sie kamen zu einem See, der noch größer war, als der, der neben dem Hause lag, und indem der Riese mit einem Bein ins Wasser trat, begann er wie ein Eidervogel zu singen:
»Avô, avô, avô!«
Und alsogleich kam ein großer Schwarm Eidervogel und ließ sich auf dem See nieder. Sofort ruderte Puvia hinaus und begann, sie mit seinem Vogelpfeil zu harpunieren. Und er fuhr fort, bis seine Arme ganz lahm waren; und als er und sein Schwiegervater schließlich nicht mehr tragen konnten, kehrten sie nach Hause zurück; auf diese Weise verschaffte Puvia seinem Schwiegervater ein Gericht, das er sich wohlschmecken ließ.
Abermals nach einer Weile gedachte Puvia der Zeiten, als er auf den Narwalfang ging, und er bekam solches Verlangen danach, daß er schließlich zu seinem Schwiegervater sagte:
»Ach, waren das schöne Zeiten, als ich auf das Meer hinausrudern und große Narwale harpunieren konnte!«
»Nichts weiter?« sagte der Schwiegervater. »Morgen gehen wir auf die Narwaljagd.«
Tags darauf gingen sie zu dem großen See neben dem Hause; der alte Riese trat mit dem einen Bein ins Wasser, tauchte mit dem Kopf unter und zog ihn wieder heraus, indem er wie ein Narwal fauchte. Kaum hatte er das getan, als der See sich mit Narwalen füllte; überall sah man die großen Tiere auftauchen und Wasser ausblasen. Puvia begab sich in seinem Kajak hinaus, suchte sich den größten aus und harpunierte ihn. Es war mitten im See, und da er sich nicht Zeit lassen wollte, seinen Fang ans Ufer zu bringen, ruderte er zu einer kleinen Insel, die in der Mitte des Sees lag und band ihn dort fest.
Darauf harpunierte er noch drei von den größten Narwalen. Während er draußen auf dem See war, bemerkte er, daß sich ein Nebelstreifen von der Insel bis zum Hause legte. Nachdem er die drei Narwale ins Schlepptau genommen hatte, ruderte er zur Insel, um den dritten zu holen; als er aber hinkam, war er nirgends zu finden. Da ruderte er nach Hause, und sah dort zu seinem großen Erstaunen, daß seine Frauen den Narwal zerlegten, der ihm abhanden gekommen war.
»Wie habt ihr den erwischt?«
Seine Frauen antworteten:
»Sahst du nicht den Nebelstreif, der von der Mitte des Sees bis zu unserem Hause ging? Das war unser Weg, als wir den Narwal holten, wir selbst haben ihn geholt.«
Sie ließen sich den Narwal schmecken, und besonders der Schwiegervater lobte das herrliche Gericht.
Wieder verging eine Zeit, da bekam Puvia große Lust, seine alten Eltern zu besuchen, und er schlug seinen Frauen vor, ihn zum Meere zu begleiten. Er wählte den Fjord, wo seine Eltern im Frühjahr vorbeizukommen pflegten, wenn sie zum Beerenpflücken auszogen. Seine Frauen aber sollten nicht wissen, weshalb sie dort waren. Sie kamen zu einem Berg, der sanft zum Meere abfiel, und als sie dort eine Weile gesessen hatten, entdeckte Puvia weit, weit draußen auf dem Fjord ein Boot, das auf das Land zugerudert kam. Sobald er dessen ansichtig wurde, versuchte er seine Frauen zu beschäftigen, damit sie es nicht entdecken sollten; er legte seinen Kopf in ihren Schoß und bat sie, ihn zu lausen. Während sie ihm sorgsam die Läuse absuchten, steckte er seine Arme in je einen von ihren Kamiken.
Wie geschickt er es aber auch anstellte, schließlich sahen sie doch das Boot, erschraken sehr und sagten:
»Sieh, dort kommt ein Boot!«
Puvia aber beruhigte sie:
»Das ist nie und nimmer ein Boot; es ist der Strom, der einen Nebelballen vor sich hertreibt.«
Als das Boot näherkam, konnte Puvia die Insassen singen hören, und er erkannte ganz deutlich die Stimmen seines Vaters und seiner Mutter.
»Ist das nicht Gesang von Menschenstimmen?« sagten seine beiden Frauen erschrocken.
»Nein, nein,« sagte Puvia, »es sind Möwen, die sich hier in Scharen aufhalten.«
Kurz darauf hörte Puvia ganz deutlich Lachen im Boot, und wieder fuhren seine Frauen auf:
»Hat nicht jemand gelacht?«
»Nein, nein, es sind die jungen Füchse, die ka, ka, ka, ka schreien!«
Im nächsten Augenblick aber tauchte neben ihnen eine Frau mit einem Kind auf dem Rücken auf, und gleich darauf kamen noch andere Menschen hinter dem Felsen zum Vorschein.
Da begann Puvia laut zu schreien:
»Ich bin Puvia, ich bin Puvia! Greift diese beiden Frauen! Sie haben mich entführt!«
Seine Frauen aber waren so erschrocken, daß sie aus allen Kräften zappelten, um loszukommen, Puvia aber hatte ja seine Arme in ihre Kamiken gesteckt. Plötzlich aber platzte der Kamik der Jüngsten, die nicht so gut nähte, wie die ältere, und auf diese Weise entkam sie und lief so schnell über die Berge, daß niemand ihr zu folgen vermochte. Die andere aber wurde gefangen. Als die jüngste Schwester sich auf einen Berg gerettet hatte, rief sie zu ihrem Mann hinunter:
»Bring mir meinen Kamik, ich habe mir die Fußsohlen verletzt.«
Darauf aber hörte niemand; man stieß vom Lande ab und ruderte zum Wohnplatz. Die andere Schwester hatte man auf den Boden des Bootes gelegt; sie war so groß und schwer, daß das Boot ganz tief lag, als ob es voll geladen sei, und sie zappelte so vor Angst und Wut, daß sie drauf und dran war, es zu kentern. Darum sagte Puvia zu ihr:
»Willst du auf dem Meere sterben, so zappele nur nach Herzenslust, willst du aber leben, so lieg still.«
Da bekam sie Angst und lag ganz still.
Die Jüngste und Hübscheste aber rief noch immer von dem Gipfel des Berges herunter: »Mein Kamik, bring mir meinen Kamik! Ich hab mir den Fuß verletzt.«
»Hol' ihn dir selbst!« rief Puvia zurück und ruderte weiter. Schließlich mußte sie ihn sich selbst am Ufer holen und ging dann nach Hause, während die andere zum Wohnplatz gerudert wurde, der auf einer Insel lag. Dort blieb sie nun eine Zeitlang.
Die großen Inlandbewohner aber besitzen die Fähigkeit, in die Erde zu verschwinden, und als Puvia eines Tages nicht auf seine Frau achtgegeben hatte, war sie nicht da. Er suchte nach ihr auf der ganzen Insel und fand sie schließlich schon bis an den Kopf in der Erde. Er packte sie beim Schopf und sagte:
»Hier kannst du nicht verschwinden.«
»Warum nicht?« fragte sie.
»Das will ich dir erklären, wenn wir zu Hause sind,« antwortete Puvia, »wenn du aber hübsch brav sein willst, schenke ich dir viele schöne Perlen.«
»Was ist das?«
»Du wirst schon sehen,« sagte Puvia, und er kaufte viele Perlen im Wohnplatz und schenkte sie seiner Frau, Es heißt nämlich, daß Inlandbewohner, die Perlen geschenkt bekommen haben, nicht mehr in die Erde verschwinden können. Und wenn sie getrocknetes Fleisch essen, verlieren sie die Gabe, sich mit Nebel zu umgeben. Darum gab Puvia ihr sehr viel in Speck eingelegtes, getrocknetes Fleisch, worauf sie auch die Gabe verlor, sich in Nebel unsichtbar zu machen.
Als sie nun merkte, daß es ihr nicht glücken würde, zu entkommen, fand sie sich mit ihrem Schicksal ab und sehnte sich nicht mehr nach Hause.
Eines Tages sagte ihr Mann, sie müßten wohl bald an die Heimreise denken, damit ihre Eltern sich nicht ängstigten. Sie aber antwortete:
»Deine Eltern haben sich lange genug um dich gebangt, darum ist es nur gerecht, daß meine sich auch um mich sorgen.«
Schließlich mußte Puvia selbst den Tag der Heimreise bestimmen; man brachte sie mit dem Boot zum Fjord, und von dort gingen sie über die Berge zu ihrem Haus. Die Schwester kam ihnen entgegen, und gleich rief ihr die andere entgegen:
»Ich habe so viele schöne Perlen bekommen.«
»Was ist das?« fragte die Schwester.
»Schau her, dies sind Perlen! Solche hättest du auch bekommen, wenn du nicht bange gewesen und nach Hause gelaufen wärest«
Als aber die Schwester sehr traurig wurde, teilten sie sich die Perlen, und da waren beide wieder froh.
Von da an blieb Puvia ganz bei den Inlandbewohnern, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört.
Es war einmal ein kleines Mädchen mit Namen Nuananguaqaoq, »die Fröhliche«, die als Pflegetochter in einem großen Hause wohnte. Sie gehörte zum Stamm der Erqiliken und hatte keine Angehörigen dort am Ort. Eines Tages geriet eine der Frauen im Hause über irgend etwas in Wut, und weil sie ihren Zorn an jemandem auslassen mußte, sagte sie zu dem kleinen Mädchen: »Was hast du hier im Hause zu suchen, du verwandtenloses Geschöpf?« Darauf antwortete das kleine Mädchen: »Ich habe sehr viele Verwandte, sie wohnen nur weit, weit von hier in den Bergen.«
Dieser Vorfall aber wurde bald vergessen, bis abermals eine Frau in Zorn geriet, und weil sie ihre Wut an jemandem auslassen wollte, sagte sie zu dem kleinen Mädchen: »Was treibst du dich hier im Hause herum, du verwandtenloses Geschöpf?«
Diesmal antwortete das kleine Mädchen gar nichts, nachts aber verließ sie das Haus und ging landeinwärts, weit, weit über die Berge, zu ihren Verwandten, den Erqiliken. Man wartete im Hause lange auf ihre Rückkehr, als sie aber nicht kam, vergaß man sie schließlich.
Sie hatte indessen die Zeit dazu benutzt, ihre Verwandten gegen ihre früheren Hausgenossen aufzustacheln, weil die Frauen sie verhöhnt hatten, und eines Nachts kamen sie angeschlichen, bohrten ein Loch in das Dach des Hauses und schossen von dort alle Bewohner nieder. Einer nach dem andern wurde von ihren Pfeilen getroffen und fiel tot um. Da hörte man eine Stimme, die man als Nuananguaqaoqs wiedererkannte: »Amarnastaidtlo, Amarnastaidtlo.« Das ist ein Erqilikwort und heißt: »Auch die Frauen, auch die Frauen!«
Aqajarorsiorpua, der lebendige Stein in Riesengestalt, von den Hilfsgeistern eines Geisterbeschwörers umgeben, die ihn hindern wollen, den Wohnplatz zu betreten. Tôrnârssuk schießt aus der Erde hervor, während der berühmte »Schiefmündige« von den äußersten Schären, mit seinem Kajak durch die Luft kommt und mit seinem Vogelpfeil nach den Augen- und Mundwinkeln des Riesen zielt, den einzigen Stellen, wo er verwundbar ist.
Da begann man auch auf die Frauen zu schießen, und nach kurzer Zeit waren alle getötet. Nur ein Mann, der sich so gut versteckt hatte, daß man ihn nicht entdecken konnte, war mit dem Leben davongekommen.
Dieser eine Ueberlebende ging zu einem benachbarten Wohnplatz und suchte Hilfe, um sich an den feindlichen Erqiliken zu rächen. Er gewann eine Menge Menschen, und als sie zum Rachezug aufbrachen, hatte jeder einen hellen und einen dunklen Anzug. Den weißen zogen sie an, wenn sie über die weißen Gletscher stiegen, den schwarzen, wenn sie über die dunkle Erde gingen.
So zogen sie durchs Land, bis sie hoch oben von einem Berg Aussicht über ein Tal hatten, wo ein großes, großes Haus lag. Dort wohnten die Erqiliken. Die Rächer machten halt, und da sahen sie, daß zwischen den Erqiliken unten im Tal Unruhe entstand; die Erqiliken besitzen nämlich die Eigenschaft, wie Tiere riechen zu können, und jetzt witterten sie Feinde in der Nähe. Sie liefen hierhin und dorthin und schnupperten durch die Luft, um festzustellen, wo der Feind sich aufhielt.
Als die Rächer dies sahen, sagten sie zueinander: »Weiß keiner ein Zauberlied, das diesen Erqiliken die Nase verstopft? Ein Zauberlied, das sie am Riechen und Wittern hindert?«
Da meldete sich gleich ein Mann, und kaum hatte er sein Zauberlied zu Ende gesungen, als die Erqiliken sich wieder beruhigten und in ihr Haus hineingingen.
Da sagte einer: »Wir müssen sie daran hindern, daß sie das Haus verlassen. Kann nicht einer von euch ein Zauberlied, das bewirkt, daß sie im Hause bleiben?«
Dazu meldete sich einer, und als er sein Zauberlied zu Ende gesungen hatte, kam kein Erqilik mehr aus dem Hause. Jetzt schlichen sie sich an das Haus heran und bohrten Schießlöcher ins Dach, und als sie hindurchguckten, sahen sie einen alten Mann, der auf einer Schaukel zwischen den Hausbalken saß, und indem er lachend hin und her schaukelte, sang er ein Lied, das von der Ermordung der vielen Menschen, bei denen »die Fröhliche« gewohnt hatte, berichtete. Er sang höhnend, wie man sie überlistet und ermordet habe; mitten beim Singen aber bekam er einen Pfeil in den Rücken, und bald kamen von allen Seiten Pfeile angeflogen und töteten die Erqiliken, mit Ausnahme des kleinen Mädchens.
Sie lief aus dem Hause, um zu fliehen, die Rächer aber sagten zu ihr: »Sei ohne Angst, dir tun wir nichts, du hast ja früher an der Küste gewohnt.«
Zueinander aber sagten sie: »Sie soll bestraft werden, weil sie an der Ermordung unserer Hausgenossen schuld ist. Wir wollen einen Riemen um ihre Füße binden und sie zu Tode schleifen.«
»Nein,« sagte ein anderer, »wir wollen keinen Riemen um ihre Füße binden, sondern ein Loch in ihre Ferse stechen und den Riemen hindurchziehen.«
So taten sie und schleppten sie über Stock und Stein, und wenn sie ein Stück zurückgelegt hatten, drehten sie sich um und sagten zu ihr: »Bist du nun froh, du kleine Fröhliche?«
Und jedesmal nickte sie und antwortete: »Freilich bin ich froh.« Und sie fuhren fort, sie mit dem Rücken über die Steine zu schleifen. Mit der Zeit nickte sie nur, und schließlich antwortete sie gar nicht mehr; da machten sie halt, und als sie sie umdrehten, sahen sie, daß alles Fleisch vom Rücken abgeschabt war, ja, sogar die Knochen waren von den Steinen aufgerieben.
So tötete man das Erqiliken-Mädchen, weil sie ihre Verwandten aufgehetzt hatte, alle ihre Hausgenossen auszurotten.
Es war einmal ein Großfänger, der immer mit Beute nach Hause kam, wenn er draußen auf dem Meere gewesen war; bisweilen hatte er zwei, bisweilen drei, häufig noch mehr Seehunde im Schlepptau.
Er wohnte bei seinen Schwiegereltern, und obgleich er solch tüchtiger Jäger war, sprachen sie einst in seiner Gegenwart davon, daß er eigentlich ein unnützes Familienmitglied sei.
Darüber erboste sich der Mann und dachte bei sich: »Wartet, wenn ihr so undankbar seid, will ich nicht länger bei euch bleiben.«
Als er eines Tages erwachte und das Wetter schön und still war, stach er in See. Er ruderte an den anderen Fängern vorbei, die draußen lagen und dem Zug der Seehunde auflauerten, bis er sie schließlich ganz aus den Augen verlor.
Als es Abend wurde und die anderen Kajaks heimkehrten, wurden seine Schwiegereltern ängstlich und fragten die anderen Kajaks, ob sie ihn nicht gesehen hätten; und sie antworteten alle, daß er bei ihnen vorbeigefahren wäre. Es wurde Nacht, und ihr Schwiegersohn kam nicht zurück.
Der Fänger aber war so weit aufs Meer hinausgerudert, daß er zuletzt sein eigenes Land aus dem Auge verlor, und als er lange gerudert war, sah er vor sich eine große Insel. Er erreichte sie und folgte der Küste ein Stück nach Norden; dann ging er an Land und bestieg einen Berg, um von dort einen Ausblick zu bekommen. Da entdeckte er viele Zelte, die in einem Tal beisammen lagen; das östlichste war das größte von allen, das nächste war um ein geringes kleiner.
Während er noch so stand und in das Tal hinabsah, kam aus dem nächstgrößten Zelt eine Frau, und als der Mann sie sah, ging er auf sie zu.
»Wo willst du hin?« fragte die Frau.
»Ich will mich nur ein wenig umsehen,« sagte der Mann, »ich bin ganz fremd hier in der Gegend.«
»Bist du allein?« fragte sie.
»Ja,« antwortete er. Und dann fragte er sie, ob sie verheiratet sei. »Nein,« sagte das Mädchen und erzählte, daß sie mit Eltern und zwei Brüdern zusammen lebe.
»Glaubst du, daß ich bei euch wohnen kann?« fragte er.
Das meinte sie wohl. »Aber warte hier draußen,« sagte sie, »ich will hineingehen und es den Alten erst sagen.«
Der Mann wartete draußen, und kurz darauf kam das Mädchen und holte ihn hinein.
Als man auf dem Zeltplatz entdeckte, daß ein Fremder gekommen sei, kamen alle angelaufen, um ihn zu sehen; der Mann aber ging ruhig an der Seite des Mädchens zu ihren Eltern hinein. Während sie saßen und sprachen, kamen die Brüder des Mädchens von der Jagd und brachten zwei Tiere mit, große gehörnte Tiere, die der Mann nicht kannte. In der Hand trugen sie eine große Schöpfkelle aus Holz, und sie erzählten, daß sie den Horntieren aufzulauern und sie niederzustechen pflegten, und, wenn sie stürzten, das Blut in die Kelle laufen ließen, damit sie es mit nach Hause nehmen konnten.
Der Mann kostete von dem Blut und fand, daß es das Köstlichste sei, das er je geschmeckt habe. Als es Abend wurde, forderten die beiden Alten ihn auf, sich zu ihrer Tochter zu legen, und so bekam er eine Frau.
Als sie sich gerade zum Schlafen legen wollten, kam ein älterer Mann herein, der seine Augen unverwandt auf das Mädchen gerichtet hielt und dann wieder hinauslief.
»Wer war das?« fragte der Mann.
»Der möchte mich gern zur Frau haben,« sagte das Mädchen, »aber ich mag ihn nicht, darum habe ich dich genommen. Er wohnt in dem größten Zelt, dem östlichsten, wie du vielleicht bemerkt hast.«
Nun wußte der Mann, wo sein Nebenbuhler wohnte.
In jener Nacht schliefen sie zusammen, gleich am andern Morgen aber kam eine Aufforderung von dem Mann aus dem großen Zelt, daß er mit dem Fremden ringen möchte. Der Fänger erhob sich sogleich; bevor er aber das Zelt verließ, ermahnte ihn der alte Schwiegervater, daß er alle seine Kräfte gebrauchen sollte.
Als er vors Zelt kam, sah er seinen Nebenbuhler auf einer großen Ebene stehen, und rings um ihn herum hatten sich viele Menschen versammelt; so stand er und wartete auf ihn.
Es zeigte sich bald, daß der Fremde viel stärker war als der Mann aus dem großen Zelt, und darum ließ er sich des Scheines halber hin und wieder zu Boden drücken. Sofort erhob sich bei den Zuschauern ein lautes Beifallsgeschrei und alle jubelten dem Mann aus dem großen Zelt zu. Schließlich aber schleuderte der Fremde ihn zur Erde, und dort blieb er bewußtlos liegen.
Der Fremde aber verließ den Wahlplatz und kehrte zu seinen Schwiegereltern zurück, und als der Alte erfahren hatte, wie der Zweikampf verlaufen war, sagte er: »Nur gut, daß du ihn bewältigen konntest, sonst hätte er dir deine Frau genommen. Früher war er der Stärkste in unserem Wohnplatz, jetzt aber bist du es.«
Eines Tages, als seine Schwäger zur Jagd gehen wollten, bat er, ob er sie begleiten dürfe. Sie willigten ein, und der Alte gab ihm das Messer und die Schöpfkelle, die er selbst als junger Mann gebraucht hatte.
Sie wanderten über Land, über Täler und Höhen, bis sie zu dem Gipfel eines hohen Berges kamen. Von dort hatten sie Ausblick über ein Tal, und in diesem Tal sahen sie ganze Scharen der gehörnten Tiere, die sie damals mit nach Hause gebracht hatten; so zahlreich waren sie, daß es aussah, als ob das ganze Tal in Bewegung sei. Die Schwäger fingen sofort an zu laufen, und der Fremde folgte ihnen, doch begnügte er sich damit, ein Kalb niederzustechen, und als es verblutete, entsann er sich, daß er das Blut ja in seiner Holzkelle auffangen sollte; da aber war schon so viel Blut verronnen, daß der Boden in seiner Keile nur eben davon bedeckt wurde. Seine Schwäger aber hatten große Tiere erlegt und ihre Kellen waren voll von Blut.
»Warum hast du nur solch kleines Kalb erlegt?« fragten seine Schwäger. »Und hast so wenig Blut in deiner Kelle?«
»Weil es das erstemal war; das nächstemal werde ich ein größeres Tier erlegen und nicht vergessen, das Blut gleich in meiner Kelle aufzufangen.«
Als sie nach Hause kamen, lobte der alte Schwiegervater ihn, weil er gleich das erstemal ein Tier erlegt hatte.
Da die Brüder am nächsten Tage abermals zur Jagd gingen, begleitete der Fremde sie wieder. Als sie auf den Berg kamen und ins Tal hinabsahen, wo sie die Tiere am Tage vorher gesehen hatten, waren es noch mehr als gestern; jetzt aber suchte er sich den größten unter den Böcken aus, holte ihn ein, stach ihn nieder und hielt gleich die große Holzkelle unter die Wunde, so daß alles Blut hineinlaufen konnte. Diesmal wurde die Kelle ganz voll, und als das Blut geronnen war, bildete es ordentlich einen Berg darauf. Jetzt kamen die Schwäger auch mit ihrer Beute, und es zeigte sich, daß die Tiere, die sie erlegt hatten, viel kleiner waren. Als sie mit ihrem Fang nach Hause kamen und der alte Schwiegervater den großen Bock sah, den sein Schwiegersohn erlegt hatte, war er noch zufriedener als am Tage vorher. Nie, sagte er, habe er selbst solch einen großen Bock erlegt.
So lebten sie weiter, und der neue Schwager brachte immer so viel Beute mit, daß das Zelt schwoll, und beständig mußten sie es größer machen.
Eines Tages sagte die Frau zu ihrem Mann: »Komm mit mir, ich will dir unseren Wintervorrat zeigen!« Und sie stiegen über einen kleinen Berg und kamen zu einem Platz, wo drei große Felle über den Wintervorrat ausgebreitet lagen. Das eine bedeckte lauter getrocknetes Fleisch, das andere geronnenes Blut und das dritte Beeren, die die Frauen gesammelt hatten.
Als der Mann, das sah, freute er sich über ihren Vorrat, die Frau aber sagte:
»Komm mit zu unserem Winterplatz, dort will ich dir unser Haus zeigen.«
Sie gingen ein Stück weiter und kamen zu einem großen Winterhaus, das vollkommen fertig war; drinnen war es rein und fein, es fehlten nur die Felle für die Pritschen, dann konnte man einziehen.
Ob dieses Anblicks erstaunte der Mann sehr, denn die Frauen in dem Lande, aus dem er herkam, pflegten die Häuser erst kurz vor dem Einzug in Stand zu setzen.
Darauf kehrten sie zum Zelt zurück.
Eines Tages sagte der Mann zu seinen Schwägern: »Wollt ihr mich begleiten, weit, weit von hier, wo ich gewohnt und eine Frau gehabt habe? Ich möchte meine Frau und meine Schwiegereltern dort einmal besuchen.«
Damit waren die Schwäger einverstanden und sie begaben sich zusammen auf die große Reise in östlicher Richtung, bis sie zu seinem alten Wohnplatz kamen. Dort fand er seine Schwiegereltern noch am Leben, sein Weib aber hatte sich einen anderen Mann genommen.
Er sagte seinen ehemaligen Schwiegereltern, daß er von ihnen gegangen sei, weil sie mit seinem Fang unzufrieden gewesen wären, obgleich er doch jeden Tag Beute ins Haus gebracht habe. Jetzt wohne er in einem Lande jenseits des großes Meeres, wo man nur von Landtieren lebe.
Man setzte ihnen Essen vor, und als sie gegessen hatten, nahmen sie Abschied und kehrten nach Hause zurück.
Als sie eine Zeitlang zu Hause gewesen waren, schlugen die beiden Schwäger dem Mann vor, daß er sie ein Stück weiter nach Westen, längs der Küste ihres eigenen Landes begleiten solle. Damit war er einverstanden, und sie begaben sich in einem Kajak auf die Reise.
Nachdem sie ein Stück gerudert waren, erblickten sie einen Wohnplatz, wo gerade ein Boot ins Wasser gelassen wurde. Aus einem Zelt kam eine Frau, die so alt und deren Körper so eingetrocknet war, daß man fast nur ihr großes Gesicht sah. Als sie die Fremden sah, rief sie dem Boote zu:
»Fremde von dem Wohnplatz östlich von dem unseren sind gekommen, und mit ihnen ein ganz neuer Mann, der ihr Schwager geworden ist.«
Kaum hatte die Besatzung dies vernommen, als sie eilig zum Lande zurückkehrte, und bald waren längs des Strandes so viele Menschen versammelt, daß die drei Fremden kaum eine Stelle fanden, wo sie an Land gehen konnten.
Die Alte forderte sie auf, mit in ihr Zelt zu kommen. Bald aber folgten so viele Neugierige, daß die Alte sie wieder hinausschickte, damit für die Gäste, die sich kaum rühren konnten, Platz würde. Als sie eine Weile drinnen gesessen hatten und mit den Eßwaren, die man dort am Ort hatte, bewirtet worden waren, sagte der eine Schwager zu der Alten:
»Nun müßt Ihr auch die Speise kosten, von der unser Schwager bisher gelebt hat.« Sie meinten Seehundsfleisch.
Der Schwager schnitt das Seehundsfleisch, das er bei sich hatte, in ganz kleine Stücke. Erst versuchte die Alte und dann mehrere der Gäste, die Stücke herunterzuschlucken, aber sie konnten es nicht.
Mehr und mehr Leute kamen herein, und dazwischen zwei alte Männer, ganz weißhaarig, mit Runzeln im Gesicht; als sie eintraten, zeigte die Alte auf sie und sagte:
»Ihr glaubt vielleicht nicht, daß diese Beiden mit mir verwandt sind, ich aber sage euch, es sind meine Söhne.« Und jetzt zeigte es sich, daß alle Menschen, mit denen sie zusammen lebte, ihre Kinder, Enkel und Großenkel waren.
Gegen Abend kehrten die Schwäger und der Mann zu ihrem Wohnplatz zurück, und der Mann blieb bis an sein Lebensende bei seinen neuen Schwiegereltern, ohne Sehnsucht nach seinem alten Wohnplatz zu verspüren.
So endet diese Geschichte von dem Mann, der im Zorn auszog und einen neuen Wohnplatz bei Menschen fand, die im Inland jagen.
Und nun wollen wir uns noch einen recht langen Sommer und einen ganz kurzen Winter wünschen!
Es war einmal ein kleines Mädchen, das mochte nichts tun, sondern wollte nur mit ihren Puppen spielen. Als sie eines Abends wie gewöhnlich eifrig spielte, ging ihre Mutter schlafen. Das kleine Mädchen war ungehorsam und wollte nicht zur Ruhe gehen, und während sie in der Nähe des Eingangsloches spielend saß, hörte sie jemanden durch den Hausgang kommen. Sie lauschte und blickte ängstlich zum Eingang, und siehe da, herein kam ein Zwerg mit Nasenlöchern, die so groß waren, daß sie ganz bis an die Augen reichten. Der Zwerg trat zu ihr und sagte:
»Ich bin Ikaleq. Nimm deine Puppen und folge mir.«
Das kleine Mädchen, das Qátaitsiaq hieß, antwortete: »Ich habe keine Kamiken und kann nicht ausgehen.«
»So nimm die Kamiken deiner Mutter,« sagte der Zwerg.
Darauf gingen sie zusammen zum Misthaufen hinaus. Als sie dort eine Weile gestanden und ihn angeblickt hatten, tauchte plötzlich ein Haus auf; man sah Fenster und den Hauseingang, und durch diesen krochen sie hinein. Drinnen im Hause waren viele kleine Zwerge, die alle mit Puppen spielten. Das war etwas für Qátaitsiaq, und sie spielte vom Morgen bis zum Abend.
Als die Eltern am nächsten Morgen erwachten, fragten sie nach Qátaitsiaq, aber niemand hatte sie gesehen, und die Kamiken der Mutter waren verschwunden. Vergeblich suchten sie nach ihr und mußten sie schließlich als tot beweinen; so verging die Zeit und schließlich wurde es Frühling und sie brachen auf, um sich zu einem Fangplatz zu begeben.
Man sagt, wenn Menschen fortreisen und Wasser auf den Misthaufen ausgießen, so läuft dieses zu den Zwergen hinab; darüber werden diese so böse, daß sie dem Betreffenden den Tod wünschen, der auch ganz richtig nach kurzer Zeit eintrifft.
Als Qátaitsiaqs Eltern den Sommer über auf dem Fangplatz gewohnt hatten, kehrten sie zu ihrem Winterplatz zurück. Dort wohnten sie nun, während ihr kleines Mädchen noch immer mit Puppen unter dem Misthaufen spielte. Eines Abends aber wurde sie plötzlich so müde und gähnte so furchtbar, daß Mund und Nasenlöcher ihr ganz bis an die Augen gingen, und sie bat flehentlich, daß die Zwerge sie nach Hause bringen sollten. Diese überredeten sie zu bleiben, aber es gelang ihnen nicht. Es wurde Abend, und als die Menschen zur Ruhe gegangen waren, begab sie sich auf den Heimweg. Als sie in den Hausgang kam, hörte sie einen der Hausbewohner sagen:
»Ich höre jemand draußen.«
»Das kann nicht sein!« antworteten die anderen.
Plötzlich aber flüchteten alle in den Hintergrund des Hauses, hinter die Pritsche, als sie eine Stimme vom Hausgang hörten:
»Ich bin es, Qátaitsiaq.«
»Wo bist du so lange gewesen?« riefen die anderen.
»Bei den Zwergen unterm Misthaufen und habe mit Puppen gespielt; sie wollten mich überreden, bei ihnen zu schlafen, ich aber wollte nach Hause.«
»So bist du also endlich gekommen!« sagte die Mutter.
Als sie sie aber näher betrachteten, sahen sie, daß ihr Mund und ihre Nasenlöcher sich durch starkes Gähnen so erweitert hatten, daß sie ganz bis an die Augen gingen. Die Mutter aber nahm sie zu sich auf die Pritsche, bettete sie und befestigte Stäbchen unter ihren Augen, weil diese sich gar nicht mehr schließen wollten.
Darauf schlief Qátaitsiaq ein, und als sie erwachte, wurde sie ein fleißiges, kleines Mädchen, das nie mehr mit Puppen spielte.
Es war einmal ein junger Fänger, der aufs Meer ruderte, um Seehunde zu fangen. Da erblickte er von weitem etwas, das wie eine Lumme aussah, bisweilen strich es hastig über den Meeresspiegel, bisweilen lag es ganz still. Er ruderte näher heran und sah nun, daß es ein ganz kleiner Zwerg in einem Kajak war. Der junge Fänger schaute ihm eine Weile zu und sah, daß er eifrig einen Seehund verfolgte, der ihm aber immer im letzten Augenblick entschlüpfte.
Der Zwerg klagte ihm sein Leid, daß er diesen großen, großen Seehund, ja, vielleicht sei es sogar ein Walroß, nicht harpunieren könne. Kurz darauf tauchte der Seehund wieder auf und der Zwerg ruderte geschwind auf ihn zu; der Fänger aber sah, daß es nur ein ganz kleines Seehundjunges war. Wieder kam der Zwerg zu spät und darum bat er den Fänger, ob er ihn nicht für ihn harpunieren wollte. Als der Seehund das nächstemal auftauchte, ruderte der Fänger an ihn heran und tötete ihn. Der Seehund war so klein, daß er seine Fangblase gar nicht auswarf, sondern ihn ganz ruhig in seinen Kajak zog.
Der Zwerg saß sprachlos vor Staunen in seinem Kajak und sah zu. Nachdem sie eine Weile zusammen geplaudert hatten, fragte der Zwerg den jungen Fänger, ob er nicht Lust habe, ihn zu besuchen; das wollte der Fänger gern.
Sie ruderten auf das Land zu, und als sie sich dem Wohnplatz des Zwerges näherten, hörte der Fänger, wie gerufen wurde: »Seht, dort kommt Makutoq, und er bringt einen Menschen mit!«
Das Haus des Zwerges war so klein, daß der junge Fänger sich nur mit Mühe und Not hineinklemmen konnte, Sie saßen zusammen und plauderten, jeden Augenblick aber sagte Makutoq: »Wie muß der Seehund, den du heute gefangen hast, köstlich schmecken!«
Das wiederholte er so oft, daß der Fänger es schließlich nicht mehr hören mochte und sagte: »Warum holt ihr ihn denn nicht und verspeist ihn?« Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, gleich liefen alle die kleinen Zwerge zum Strande und schleppten ihn herbei. Aber es dauerte sehr lange, und als sie ihn schließlich in den Hausgang geschleppt hatten, konnten sie ihn nicht durch das Eingangsloch heben. Darum hob der Fänger ihn an der Vorderflosse und legte ihn dahin, wo er geflenst werden sollte. Die kleinen Zwerge waren sprachlos über seine Riesenkräfte.
Jetzt begann Makutoqs Frau ihn zu zerlegen, aber es dauerte lange, bis sie das große Tier zerteilt hatte, und als sie das Rückenstück über dem Becken abtrennen wollte, glitt ihr Messer ab, und sie schnitt sich tief in ihren Daumen. Darüber war sie sehr verzweifelt und sagte: »Ach, näht mir doch einen Däumling, unter der Pritsche liegt das Fell eines Seehundsjungen.«
Eine von den Frauen nähte ihr einen Däumling, als er aber fertig war, war er zu groß geraten. Ein anderer mußte genäht werden, und der geriet zu klein, und so immer weiter, – bald war der Däumling zu groß, bald zu klein, und schließlich hatten sie das ganze Fell bis auf das Schwanzende zerschnitten; das paßte glücklich; und so bekam die Frau des Zwerges endlich ihren Däumling. Daraus aber ersah der Fänger, daß die kleinen Zwergfrauen ungeschickt im Nähen waren.
Als der Seehund endlich zerlegt war, wurde er in vielen Töpfen gekocht und auf einer Schüssel angerichtet. Dann gingen sie hinaus, um ihre Wohnplatzgenossen zum Schmaus einzuladen. Ihre Stimmen aber waren so schwach, daß niemand sie hören konnte. Darum wandten sie sich an den Fänger und sagten: »Du bist so groß und hast gewiß auch eine gewaltige Stimme; geh bitte hinaus und rufe unsere Wohnplatzgenossen zum Seehundsschmaus herbei.«
Der junge Fänger ging hinaus, und obgleich er gar nicht sehr laut rief, hätte er den kleinen Zwergen, die sich entsetzt die Ohren zuhielten, fast das Trommelfell gesprengt.
Es lebten einst zwei Brüder im Himmel, der eine hieß Blitz, der andere Donner. Blitz konnte mit solcher Geschwindigkeit durch die Luft fliegen, daß Feuer und Funken um seinen Kopf sprühten. Donner war ein gewaltiger Riese, der solch gewaltigen Lärm machte, daß man sich den Mund mit geronnenem Blut füllen mußte, um sich die Zähne nicht auszubeißen. Die Sterne aber, die nie ihre Nachtruhe bekamen, schossen ihm schließlich einen Pfeil durchs Herz, so daß er zur Erde stürzte. Und so stark war er noch im Tode, daß er nicht ausgestreckt liegen konnte, sondern auf seinen Muskeln ruhte.
Jetzt kamen die Gäste herbei, eine Menge winzig kleiner Wesen, und darunter war einer, der Qagdlakitsôq hieß. Sie stürzten sich mit großer Gier über das Fleisch, stießen und drängten sich, so daß schließlich die große Fleischschüssel umfiel. Plötzlich war Qagdlakitsôq verschwunden. Man suchte und fand ihn endlich halb erstickt unter der großen Fleischschüssel, von Speck und Suppe triefend, mit einem Seehundsknochen in der Hand. Dieser Anblick erweckte große Heiterkeit, und der Wirt fragte ihn, ob er auch genug Suppe bekommen habe. »Ach, fast gar nichts habe ich bekommen,« klagte er. Da goß man Suppe in seine kleine Fleischschüssel, und er trank sie gierig; denn nur selten geschah es, daß das Zwergenvolk Seehundsfleisch bekam. Bevor man sich dessen versah, waren inzwischen alle Kinder und Enkel Qagdlakitsôqs nach Hause gegangen, und es war Abend geworden. Da jammerte Qagdlakitsôq, daß er allein nach Hause gehen müsse, denn er fürchtete sich in der Dunkelheit. Als er schließlich Mut faßte und sich auf den Weg machte, folgte der junge Fänger ihm heimlich. Nachdem sie ein Stück gegangen waren, pfiff er ganz leise – sofort blieb Qagdlakitsôq stehen und lauschte. Da pfiff er noch einmal, diesmal etwas lauter, und da rannte Qagdlakitsôq in wildem Lauf davon. In seiner Angst aber sah er sich, nicht vor, stolperte über ein Loch und stürzte so heftig hin, daß er seine Suppenschüssel und einen Schulterknochen, den er seiner Frau mitbringen sollte, verlor. Trotz der Angst vor der Dunkelheit und den Geistern der Finsternis aber hatte er noch mehr Angst vor seiner Frau, wenn er ohne Fleisch nach Hause kommen würde. Und in aller Eile begann er nach dem Knochen zu suchen. Da es aber dunkel war, griff er nach dem ersten besten, das ihm in die Hand fiel und das er für den Knochen hielt und lief damit nach Hause. Als er ins Haus kam, sagte er froh zu seiner Frau: »Schau her, liebes kleines Frauchen, ich bringe dir ein leckeres Stück Fleisch.« Die Frau nahm es in die Hand, als sie es aber näher betrachtete, sagte sie: »Aber Qagdlakitsôq, das ist ja gar kein Fleisch, das ist ja ein Stück Torf.« Und wirklich! Qagdlakitsôq hatte in seiner Angst ein Stück Torf ergriffen. Nachdem der junge Fänger sich sattsam über Qagdlakitsôq amüsiert hatte, kehrte er zurück und kroch zu seinem Wirt ins Haus.
Als es aber Nacht geworden war, begannen die jungen Mädchen sich zu putzen und lächelten dem Fremden zu; und indem sie hinausliefen, berührten sie ganz leicht seine Knie, lachten und warteten draußen, in der Hoffnung, daß er zu ihnen herauskommen würde. Schließlich war nur noch ein junges Mädchen da; als es sich geputzt hatte und an ihm vorbei in den Hausgang sprang, gab er ihr einen kleinen Klaps auf den Hintern, nur einen ganz kleinen Klaps, aber er hatte solch furchtbare Wirkung, daß sie laut aufschrie, durch den Hausgang flog und weinend und stöhnend zu ihren Freundinnen hinauskam. Als diese hörten, was geschehen war, trösteten sie sie und sagten, das bedeute sicher, daß der Fremde sie erwählt habe. Das kleine Zwergenmädchen aber hatte solche Schmerzen, daß man sie ins Haus tragen und auf die Pritsche legen mußte.
Als es Schlafenszeit geworden war, nahm der junge Fänger Makutoqs Tochter zur Frau, und als die jungen Mädchen das sahen, wurden sie so verzweifelt, daß die meisten von ihnen in Tränen ausbrachen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, kehrte er zu seinen Eltern zurück, erzählte, wo er gewesen sei und daß er eine Zwergin zur Frau genommen habe. Als die Mutter dies hörte, sagte sie zu ihrem Sohne: »Du darfst sie nur behalten, wenn sie tüchtig ist. Bringe ihr dies Fell, damit sie es bereite; wenn sie es zu meiner Zufriedenheit macht, darf sie deine Frau werden.«
Und die Mutter gab ihm ein altes Fell, das als Speckbeutel gedient hatte und ganz von Tran durchtränkt war. Dies nahm der Sohn und gab es seiner kleinen Frau, Und sie machte die Arbeit so wundervoll, daß es wie ein ganz neues Fell wurde. Der junge Fänger kehrte nach Hause zurück, und als er seiner Mutter das Fell zeigte, willigte sie ein, daß die kleine Zwergin seine Frau wurde.
Von dem Zwergenvolk aber hat man seitdem nie wieder etwas gehört oder gesehen.