Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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»O Gott, ja, ja! gleich! Oh, wie Sie das alles so erzählen, Herr Schaumann, da muß man ja zuhören!«

»Nicht wahr, Kind? ... Also, Eduard, da auch du noch zuhörst: wenn es einen Menschen in der Welt gibt, außer dir natürlich, mit dem ich mich gut stehe, so ist das mein angepfarrter Seelsorger, der Pastor von Maiholzen. Wir tun uns einander gar nichts; aber wir halten das behagliche Nebeneinanderleben in der gemütlichsten Weise aufrecht. In der letztern Hinsicht tun wir einander sogar alles zu Gefallen, was wir nur können. Er weiß in allen menschlichen Dingen Stopfkuchen zu schätzen und ich ihn. Selbstverständlich war ich am Tage vorher, das heißt vor dem Begräbnis, bei ihm und besprach mit ihm die Sache. Ich traf ihn, oben an seiner Dachrinne hängend. Es hatte einer seiner Bienenstöcke geschwärmt, und der Weisel war auf die Idee gekommen, sich dort festzusetzen. Ich hielt dem zweitdicksten Mann der Gegend die Leiter und korrigierte ihm nachher in der Laube ein wenig in sein Manuskript hinein. Letzteres ist aber nur eine kulturelle Redensart: der Mann spricht aus freier Hand und – gut, wenn er in der Stimmung ist. Und zu der Stimmung des Menschen kann der Nebenmensch ein Erkleckliches beitragen. Ich tat dies, und als wir später an dem warmen Abend mit einem Wetterleuchten am Horizont an seiner Gartenpforte voneinander Abschied nahmen, sagte er: ›Seien Sie ganz ruhig, Herr Nachbar; ich bin vollständig Ihrer Ansicht.‹ Am andern Morgen redete er denn auch möglichst annähernd das, was ich zu sagen hatte. Ich räusperte mich – nein, er räusperte sich und sprach: ›Nun sieh mal, christliche Gemeinde, da liegt er – mausetot!‹«

»O Gott, Herr Schaumann, das kann der Herr Pastor doch nicht gesagt haben!« klang es hinter dem Schenktische hervor.

»Ich bin dabei gewesen, Kind. – Tot ist er und ihr lebt. Er ist so tot wie Kienbaum, den er, nach der Meinung der Mehrzahl von uns, totgeschlagen haben soll. Er steht nun vor dem Richter, der das letzte Wort in dieser dunklen Sache sprechen wird: sollten wir jetzt wenigstens nicht doch ein wenig mehr, hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben wir dem stillen Mann hier vor uns nicht doch vielleicht zu viele Steine des Ärgernisses in den Weg geworfen? Christliche Gemeinde, meine lieben Brüder und Schwestern, haben wir nicht doch vielleicht etwas zu lauthalsig Rache über ihn geschrien? Wenn er nun da an den schwarzen Deckel pochte und noch einmal wenigstens für einen Augenblick herausverlangte, um sein Verdikt von da oben her schriftlich uns zuzureichen, was würden wir da tun? wer würde die Hand ohne Bangnis nach dem Blatt ausstrecken? Oh, liebe Brüder und Schwestern, beim Hochzeitsmahl der beiden verehrten Hauptleidtragenden sind wir wohl so ziemlich alle hier im Kreise anwesend gewesen; aber ich wünschte auch, es wären wenigstens einige von euch vorgestern abend mit mir nach der roten Schanze gegangen, daß sie sich das friedliche Gesicht des eben Entschlafenen hätten ansehen können. Da hätten wohl einige, die schon in solche Gesichter haben sehen müssen, sicherlich gesagt: Dieser muß trotz allem eines sanften Todes gestorben sein! –

Christliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun doch nicht totgeschlagen hätte? ... Hätte er da nicht vor dem letzten Richter sein Wort sprechen müssen? Ich glaube, er hat die Erlaubnis erhalten; und wie ich ihn kennengelernt habe (er war kein weicher Mann), hat er geächzt: ›Herr, Herr, was ich sonsten gesündigt haben mag, das haben sie da unten mich schon reichlich büßen lassen durch Mißachtung, scheele Blicke, Fingerdeuten, Abrücken im Kruge und Alleinlassen bei jeder Haushaltsnot. Wenn ich nun als ein vergrellter, in seinen Erdengrimm verbissener Mann zu Dir komme, Herr des Himmels und der Erden, so zieh von meiner Strafe im ewigen Leben meine tagtägliche und allnächtliche Büßung da unten in der Sterblichkeit ab, grundgütiger Gott. Und vergib ihnen in Maiholzen und der Umgegend auch, was sie nach unserer armen Menschenweise an mir zuviel getan haben.‹ – Liebe Brüder und Schwestern, wir wissen alle bis zu dieser Stunde noch nicht, wer eigentlich Kienbaum totgeschlagen hat. Der Bauer Andreas Quakatz von der roten Schanze ist tot und hat Rechenschaft über sein Leben abgelegt; aber vielleicht – christliche Gemeinde, ich sage vielleicht! –, vielleicht geht noch ein anderer im Leben umher als ein lebendiges Beispiel davon, was der Mensch aushalten kann mit einer Bluttat auf der Seele und dem täglichen und nächtlichen Bewußtsein, einen andern, einen Unschuldigen dafür aufkommen zu lassen. Wenn dieses der Fall ist – wenn Kienbaums Mörder noch lebt, dann – o dann, christliche Gemeinde, laß uns auch für ihn, ihn – hier, hier an diesem Grabe ein stilles Gebet sprechen, wie für den beruhigten Toten in diesem Sarge vor unsern Füßen! Den beiden Hauptleidtragenden, vor allem der Tochter, sage ich noch: ›Der Herr sprach: Weine nicht! und er gab ihn seiner Mutter.‹ Wer aber von uns, geliebte Brüder und Schwestern, noch über das Grab hinaus über den Bauer Andreas Quakatz auf der roten Schanze, seine Nachkommen und sein Erbe mit seinen schlimmen Gedanken anhalten will, der lasse wenigstens seine Hand von dieser Schaufel, auf welche ich jetzo die meinige lege. Dies Grab will dessen Beihilfe zu seiner Ausfüllung nicht. Amen.«

»Amen! o Gott, o Gott!« murmelte es hinter dem Schenktisch.

»Es kam nun das zwischen den übrigen liturgischen Formeln nie seine Wirkung verfehlende: ›Von Erde bist du genommen; zu Erde sollst du wieder werden‹, und die Schaufeln gingen von Hand zu Hand mit einer bangen Hast, mit einem Eifer, wie ich noch nicht bei ähnlichen Fällen zu bemerken die Gelegenheit hatte. Sie warfen alle dem übelberüchtigtsten Menschen der Gegend die drei Spaten voll Mutterboden nach. Alle bis auf einen! – Es gab das bekannte dumpfe Gepolter und die dazugehörigen Gefühle: letztere diesmal im verstärkten Maße. Es war, als wünsche jedermann, sich wenigstens zuletzt noch auf diese Weise mit dem Andreas Quakatz im guten abzufinden. Sie wünschten vielleicht doch auch ein wenig, Dorf Maiholzen in der Wertschätzung der roten Schanze zu rehabilitieren. Ich, als der jetzt am nächsten zu dem alten Bollwerk des Prinzen Xaver von Sachsen Stehende, bekam natürlich zuerst vom Totengräber die Schaufel in die Hand und tat die drei Würfe. Und nun weiß ich wirklich nicht, liebster Eduard, wie es kam, daß ich bei dem dritten so für mich hinmurmelte: ›Für Kienbaums Mörder.‹ – Schönen guten Abend, Herr Müller!«


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