Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Es möchten vielleicht manche auf dem Schiffe gern wissen, womit sich eigentlich der Herr aus der Burenrepublik so eifrig literarisch beschäftige? was er schreibe, worüber er jetzt knurre, jetzt seufze und jetzt lache? Es ist aber keiner unter der ganzen Reisegesellschaft, dem ich es vollständig klarmachen könnte, wie sich ein vernünftiger Mensch auf einer solchen Fahrt, so mit einem längst gegessenen und verdauten Schinken, und wenn auch in Burgunder, so eingehend noch einmal beschäftigen könne. Wir haben Deutsche, Niederländer, Engländer, Norweger, Dänen und Schweden, die ganze germanische Vetternschaft, an Bord des Leonhard Hagebucher; aber sie würden mich alle mehr für einen Narren als einen mit ein wenig Weltverschönerungssinn begabten Teutonen nehmen, wenn ich heute abend im Rauchsalon ihnen einige Seiten aus meinem diesmaligen Logbuch und Reisemanuskript, aus der Kriminalgeschichte Stopfkuchen vorlesen würde. Ich lasse das wohl bleiben; aber ich bleibe auch bei meinem Manuskript, wenn das Wetter und der Wogengang es erlauben. Ich bin eben oft genug im Leben zu Schiffe gewesen, um zu wissen, was das Behaglichere ist auf einer längern Fahrt. Es ist eine große Täuschung zu meinen, daß auf den großen Wassern alle Augenblicke etwas Merkwürdiges vorkomme, und daß eine germanische Reiseverwandtschaft immer ungemein humoristisch, gemütvoll, feinfühlig und – interessant sei...

Nämlich den frischen Schinken in Burgunder und die gute Hühnersuppe fanden wir auf dem Mittagstisch; aber so weit sind wir ja wohl noch nicht. Wir sitzen noch hinter Stopfkuchens zweitem Frühstück unter den alten Linden vor der Quakatzenburg auf der roten Schanze, Freund Heinrich Schaumann und ich, und der Eßtisch drinnen im Hause wird eben erst in die Mitte der Stube gezogen, um von Frau Tinchen und einer zweiten Magd derselben für das Haupttreffen, die Hauptbefriedigung des täglichen Nahrungsbedürfnisses, »gedeckt« zu werden.

»Endlich doch einmal ein Mensch, der ein vorgesetztes Ziel erreicht hat, ohne daß es ihn nach dem Anlangen enttäuscht hat!« sagte und seufzte ich, in die nochmals dargereichte Zigarrenkiste greifend.

»Ein bißchen viel Übergewicht«, brummte Stopfkuchen. »An heißen Tagen etwas beschwerlich, lieber Eduard. Vorzüglich bei den doch immer notwendigen Geschäftsgängen.«

»Ja, hast du denn wirklich noch solche notwendige Gänge zu machen, lieber Heinrich? Hast du wahrhaftig noch nicht mit allem, was für unsereinen so draußen herum liegt und besorgt werden muß, abgeschlossen? Liegt nicht alles das draußen vor deinen wundervollen Wällen des Prinzen Xaver von Sachsen?«

»Was wohl soviel heißen soll wie: bist du nur dazu da, auf der roten Schanze nach dem Lebensunbehagen des Vater Quakatz die Behaglichkeit des Daseins in deiner feisten Person zur Darstellung zu bringen? Jetzt leihe mir mal gütigst deinen Arm, Eduard. Eine Weile dauert es wohl, ehe wir zu Tisch gerufen werden; also kann ich dir, wenn es dir gefällig ist, vorher noch Festung, Haus und Hof – my house and my castle – wie das alles unter meiner und Tinchens Herrschaft geworden ist, etwas genauer zeigen. Uff! – langsam! nur nicht zu hastig. Weshalb sollen wir uns nicht Zeit nehmen? Was könnte ich Hinhocker einem Weltwanderer gleich dir Merkwürdiges zu weisen haben, was solch ein rasendes Drauflosstürzen erforderte? Nur mit aller Bequemlichkeit, Freund! Wandeln wir langsam, langsam, und zwar zuerst noch einmal um den Wall des Herrn Grafen von der Lausitz, segensreichen, wenn auch nicht gloriosen Angedenkens.«

»Segensreichen Angedenkens? Das sagte die Stadt da unten sowie die Umgegend im Jahre Christi siebzehnhunderteinundsechzig grade nicht.«

»Aber ich sage es heute. Was geht mich die hiesige Gegend und Umgegend an? Die schöne Aussicht darauf von Quakatzenburg aus natürlich abgerechnet.«

Ich war jetzt so gespannt auf das, was er mir zu zeigen hatte, daß ich wirklich mit einiger Mühe meinen Schritt aus den Goldfeldern von Kaffraria nach seinem Schritt von der roten Schanze mäßigte. Und zum erstenmal nun in meinem Leben umging ich auf dem Walle selbst das Schanzenviereck des Prinzen Xaver; als Junge und als junger Mensch hatte ich es mir ja nur von jenseits des Grabens, vom Felde, von dem »Glacis« dann und wann ansehen können. Und die Jahre zählten! Es ging freilich heute etwas langsam damit; denn der Jugendfreund hatte in Wahrheit meinen Arm nicht bloß der Zierde und Zärtlichkeit wegen genommen. Seine Pfeife nahm er natürlich auch mit, hielt sie im Brande und deutete mit ihrer Spitze hierhin und dorthin, wo er meine nach seiner Meinung durch allerlei Weltumsegelungen zerstreute Aufmerksamkeit hinzuwenden wünschte.

Wir wandelten oder watschelten wieder durch seinen Gartenweg, zwischen seinen Johannis- und Stachelbeerbüschen, seiner Brennenden Liebe, seinen Rosen und Lilien, seinem Rittersporn und Venuswagen empor zu der Brüstung seiner Festung. Als Geschichtsforscher und als Philosoph der roten Schanze erwies er sich von Augenblick zu Augenblick größer – bedeutender. Und dabei hatte er sich in seiner wohlgefütterten Einsamkeit und in den Armen seiner kleinen herzigen Frau zu einem Selbstredner sondergleichen ausgebildet. Er fragte, und er gab gewöhnlich die Antwort selber, was für den Gefragten stets seine große Bequemlichkeit hat.

»Woher stammen im Grunde des Menschen Schicksale, Eduard?« fragte er zuerst, und ehe ich antworten konnte (was hätte ich antworten können?), meinte er: »Gewöhnlich, wenn nicht immer, aus einem Punkte. Von meinem Kinderwagen her – du weißt, Eduard, ich war seit frühester Jugend etwas schwach auf den Beinen – erinnere ich mich noch ganz gut jener Sonntagsnachmittagsspazierfahrtstunde, wo mein Dämon mich zum erstenmal hierauf anwies, in welcher mein Vater sagte: ›Hinter der roten Schanze, Frau, kommen wir gottlob bald in den Schatten. Der Bengel da könnte übrigens auch bald zu Fuße laufen! Meinst du nicht?‹ – ›Er ist so schwach auf den Füßen‹, seufzte meine selige Mutter, und dieses Wort vergesse ich ihr nimmer. Ja, Eduard, ich bin immer etwas schwach, nicht nur von Begriffen, sondern auch auf den Füßen gewesen, und das ist der besagte Punkt! Ich habe mich wahrhaftig nicht weiter in der Welt bringen können als bis in den Schatten der roten Schanze. Ich kann wirklich nichts dafür. Hier war mein schwacher oder, wenn du willst, starker Punkt. Hier faßte mich das Schicksal. Ich habe mich gewehrt, aber ich habe mich fügen müssen, und ich habe mich seufzend gefügt. Dich, lieber Eduard, haben Störzer und Mr. Le Vaillant nach dem heißen Afrika gebracht, und mich haben meine schwachen Verstandeskräfte und noch schwächern Füße im kühlen Schatten von Quakatzenhof festgehalten. Eduard, das Schicksal benutzt meistens doch unsere schwachen Punkte, um uns auf das uns Dienliche aufmerksam zu machen.«

Dieser Mann war so frech-undankbar, hier wahrhaftig einen Seufzer aus der Tiefe seines Wanstes hervorzuholen. Natürlich nur, um mir sein Behagen noch beneidenswerter vorzurücken. Ich ging aber nicht darauf ein. Den Gefallen, meinerseits jetzt noch tiefer und mit besserer Berechtigung zu seufzen, tat ich ihm nicht.

»Ruhig, Eduard!« sagte ich mir. »Sollst doch zu erfahren suchen, was er noch weiter mehr weiß als du.«

Ich ließ ihn also am Worte, still von einer Ecke des alten, jetzt so friedlichen Kriegsbollwerkes, aus dem Schatten heraus, in die sonnige, weite Landschaft mit meiner Heimatstadt, ihren Dörfern, Wäldern, nahen Hügeln und fernem Gebirge hinausschauend.

»Ja, da hast du den ganzen Kriegsschauplatz von Schaumann kontra Quakatz vor dir«, sprach Stopfkuchen. »Sieh dir die Landschaft ja noch einmal an, ehe du dich wieder nach deinem herrlichen Afrika verziehst. Es ist und bleibt doch eine nette Gegend! was?«

»Freilich, freilich! Man braucht gerade nicht aus Libyen zu kommen oder wieder dorthin abreisen zu müssen, um das dreist behaupten zu können.«

»Und dann was alles in ihr passiert ist, Eduard«, sagte Stopfkuchen, mich leicht mit dem Ellbogen in die Seite stoßend. »Von alten Historien will ich gar nicht anfangen; aber nimm nur bloß diesen himmlischen Siebenjährigen Krieg an!«

»Bester Freund –«

»Für diesen göttlichen Siebenjährigen Krieg und den wundervollen alten Streithahnen, den Alten Fritz, habe ich immer meine stillste, aber innigste Zuneigung gehabt.«

»Liebster Heinrich –«

»Jawohl, etwas von dieser herzlichen Neigung in mir dämmert dir vielleicht heute auch noch wohl aus unschuldigen Kinder- und nichtsnutzigsten Flegeljahren auf. Eduard, wäre ich heute nicht Stopfkuchen, so möchte ich nur Friedrich der Andere in Preußen – in der ganzen Weltgeschichte nur Fritz der Zweite gewesen sein. Ich weiß nicht, wie es mit deiner Bibliothek im Kaffernlande bestellt ist, aber, bitte, nenne mir einen andern aus der Welt Haupt- und Staatsaktionen, der für unsereinen etwas Sympathischeres als der an sich haben kann! So dürr – ausgetrocknet, mit seinem vom Rheinwein seines Herrn Vaters her angeerbten Podagra etwas schwach auf den Füßen, aber immer in den Stiefeln! Immer munter bei sich selber im Hallo, Geheul und Gebrüll der Furien und der Kanonen. Mit seinem Krückstock, seiner Nase voll Schnupftabak, seiner mit Siegellack eigenhändigst reparierten Degenscheide – scharfklingig, frech und spitzig, was man jetzt schnoddrig nennt, gegen die allerhöchsten Damen, Frau Marie Therese, Frau Elisabeth, Frau Jeanne Antoinette; was ich freilich meiner allerhöchsten Dame, meines Tinchens wegen, nicht ganz und gar billigen kann. Aber dagegen sein Appetit. Tadellos! Gut in seiner Kindheit, in seiner Jugend; aber über alles Lob erhaben bei zunehmendem Alter. Hätte ich wo ein Wort zu verlieren, so wäre es bei dieser Betrachtung, so wäre es hier. Der Mann verdaute alles! Verdruß, Provinzen, eigenes und fremdes Pech, und vor allem seine jeden Tag eigenhändig geschriebene Speisekarte. Eduard, dieser Mensch wäre auch Herr der roten Schanze geworden, wenn er ich gewesen wäre. Eduard, wenn ein Mensch was dazu getan hat, mich zum Herrn, Eigentümer und Besitzer von der roten Schanze und somit auch von Tinchen Quakatz zu machen, so ist das immer der Alte Fritz von Preußen, selbstverständlich immer in Verbindung mit seinem herzigen, mir so unendlich wertvollen Gegner auf dieser Erdstelle, dem Prinzen Xaverius von Sachsen, kurfürstlicher Hoheit.«

Der Mensch Heinrich Schaumann genannt Stopfkuchen redete einen solchen Haufen von Gegensätzen zusammen, daß ich gar nicht mehr imstande war zu seufzen: »Nun, das soll mich doch weiter wundern, worauf dieses hinauslaufen kann.«

»Setzen wir uns doch lieber«, meinte Heinrich. »Ich sehe es dir an, daß ich dir noch ein wenig konfus erscheine. Vielleicht kommt das noch besser; aber ich kann es nicht ändern. Diese Bank hier habe ich übrigens nur aufstellen lassen, um dann und wann nicht selber meinen historischen Boden unter den Füßen weg zu verlieren. Wenn ich dir aber langweilig werde, höre ich auf der Stelle auf, Interessantester aller Afrikaner und Bester aller alten Freunde.«

»Ich bitte dich, Stopf- bester Freund!«

»Sage dreist Stopfkuchen, Eduard. Ich höre gern auch heute noch auf das alte liebe Wort; und von den alten Freunden, die es mir in schönern Jahren so sehr scherzhaft aufhingen, muß ich dir doch zuerst reden, um meinem seligen Schwiegerpapa von Kienbaums Angedenken allmählich näherzukommen. Also – dieses war der Anfang der Historie von Heinrich und Valentine, von Kienbaum, vom Meister Andreas Quakatz und von der roten Schanze. Du sitzest doch gemütlich, Eduard?«

»Ich habe selten in meinem Leben gemütlicher gesessen. Aber unterbrich dich doch nicht immer selbst, alter, wunderlicher Freund! Mir scheint es jetzt wahrlich, ich sei nur deshalb einzig und allein in die alte Heimat auf Besuch gekommen, um dich zu hören.«

»Sehr schmeichelhaft! also auch deshalb zuerst von den alten Freunden! von euch nichtsnutzigen, boshaftigen, unverschämten Schlingeln, die ihr, solange ich euch zu denken vermag, euer Bestes getan habt, mir die Tage meiner Kindheit und Jugend zu verekeln!«

»Stopfkuchen, ich bitte dich...«

»Jawohl, Stopfkuchen! Was konnte ich denn dafür, daß ich schwach von Beinen und stark von Magen und Verdauung war? Hatte ich mir die Kraft und Macht meiner peristaltischen Bewegungen und die Hinfälligkeit meiner Extremitäten und überhaupt meine Veranlagung zum Idiotentum anerschaffen? Hätte ich die Wahl gehabt, so wäre ich ja zehntausendmal lieber als Qualle in der bittern Salzflut, denn als Schaumanns Junge, der dicke, dumme Heinrich Schaumann, in die Erscheinung getreten. Sauber seid ihr mit mir umgegangen und habt euer schändliches Menschenrecht genommen. Leugne es nicht, Eduard!«

»Du gibst keine Ausnahme zu, Heinrich?«

»Keine! Soll ich etwa dich ausnehmen, du mein bester, liebster Freund? Bilde dir das nicht ein! frage nachher nur Tinchen bei Tische, was sie darüber denkt. Sie hat dich ja auch damals mit den andern vor ihres Vaters Burgwall gehabt. Hast du nicht mit den Wölfen geheult, so hast du mit den Eseln geiaht, und jedenfalls bist auch du mit den andern gelaufen und hast Stopfkuchen mit seiner unverstandenen Seele, gleich wie mit einem auf die gute Seite gefallenen Butterbrot auf der Haustürtreppe, auf der faulen Bank in der Schule und am Feldrain vor der roten Schanze sitzenlassen. Jawohl hast du dich schön nach mir umgesehen, wenn du, nicht etwa etwas Besseres, sondern wenn du etwas Vergnüglicheres wußtest.«

»Heinrich, das kannst du doch wirklich nicht sagen!«

»Eduard, säße ich sonst so hier? Und dann – übrigens, mache ich dir einen Vorwurf daraus? Habe ich euch – dich nicht laufen lassen, und habe ich nicht etwa mein Butterbrot aus dem Erdenstaube aufgehoben und es gefressen – mit einem Viertel Wehmut und drei Vierteln Hochgenuß in meiner – Einsamkeit? Habe ich euch – habe ich dich etwa nicht ruhig laufen lassen? Habe ich mich je euch durch Gewinsel hinter euren leichter beschwingten Seelen und bewegungslustigeren Körpern her noch lächerlicher, als ich schon war, gemacht?«

»Wahrhaftig nicht! Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich – wir haben dich einfach sitzenlassen, wie und wo du dich hingesetzt hattest!«

»Seht ihr! Siehst du! Und ich hoffe es dir im Laufe des Tages doch noch zu beweisen, daß auch die einsame Haustürtreppe, der unterste Platz in jeder Schulklasse, der tränenreiche Sitz am Wiesenrain den Menschen doch noch zu einem gewissen Weltüberblick und einem Zweck und Ziel im Erdendasein gelangen lassen können. Zum Laufen hilft eben nicht immer schnell sein, lieber Eduard.«

»Das weiß der liebe Gott!« seufzte ich aus voller Seele, aus allen Lebenserrungenschaften und vom untern Ende Afrikas her.

»Ein Indianer am Pfahl konnte es unter dem Kriegsgeheul und Hohngebrüll seiner Feinde nicht schöner haben als Stopfkuchen in eurem muntern Kreise. Nette Siegestänze eurer Überlegenheit habt ihr um mich armen maulfaulen, feisten, schwitzenden Tropf aufgeführt. Und so helle Köpfe waret ihr allesamt! Jawohl habe ich mein Brot mit Tränen gegessen in eurer lieben Kameradschaft. Was blieb mir da anders übrig, als mich an meinen Appetit zu halten und mich auf mich selber zu beschränken und euch mit meinen herzlichsten Segenswünschen die Rückseite zuzudrehen.«

»Heinrich –«

»Na, na, laß das nur sein. Es liegt jetzt hinter uns beiden, und Tinchen ist in ihrer Küche für dein und mein Wohl heute beschäftigt, wie es sich gehört. Das Herzblatt! Laß uns jetzt dem näherzukommen suchen, und also – vivat der Prinz Xaver von Sachsen, und nochmals und zum dritten Male hoch der Comte de Lusace, Prinz Xaverius von Sachsen!«


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