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Ein wirklich feiner Morgen. In der Stadt hatte die Polizei sich löblichst dafür an den Laden gelegt, daß die Gassen sauber gekehrt worden waren, und draußen im Freien, im »Felde«, hatte Mutter Natur dafür gesorgt, daß sich alles hübsch gewaschen hatte. Ja, sie hatte es selber besorgt, mit Seife und Schwamm, mit Donner und Blitz; und wie frisch gewaschenen Kindern hingen Baum, Busch, Gras und Blumen noch die Tränen ob der Operation an den Wimpern, und manchem sah man es auch recht gut an, wie es sich mit Strampeln und Zappeln gewehrt hatte. Aber einerlei, überstanden war's noch mal, und hübsch war's doch jetzt so. Die Welt glänzte, und daß ein frisch wohlig Wehen darüber hinfuhr, machte den Morgen auch nicht verdrießlicher – drunten im jungfräulichen Kaffernlande, bei den Betschuanen und Buren konnte nach einem Nachtgewitter die Landschaft nicht jugendlicher aussehen als wie hier im alten, durch das Bedürfnis ungezählter Jahrtausende abgebrauchten, ausgenutzten Europa.
»Und alles noch ganz so wie zu deiner Zeit, Eduard!« seufzte ich mit wehmütiger Befriedigung. – Dem war aber doch nicht vollständig so.
Da war zum Beispiel bei näherer Betrachtung früher rechts vom Wege, der nach der roten Schanze führt, ein ungefähr vier bis fünf Ar großer Teich, oder eigentlich Sumpf; – der war nicht mehr da.
Früher aller geheimnisvoll wimmelnden Wunder voll, hatte man ihn jetzt zu einem Stück mehr oder weniger fruchtbaren Kartoffellandes gemacht, und so nützlich das auch sein mochte, schöner war's doch früher gewesen und »erziehlicher« auch. Der Lurkenteich hatte das volle Recht dazu zu verlangen, daß ich mich mit Verwunderung nach ihm umsehe und nachher schmerzlich ihn vermisse. Solch ein guter Bekannter, ja vertrauter Freund! so voll von Kalmus, Schilfrohr, Kolben, Fröschen, Schnecken, Wasserkäfern, so überschwirrt von Wasserjungfern, so überflattert von Schmetterlingen, so weidenumkränzt, und so – wohlriechend. Ja, wohlriechend! ja süß anheimelnd, übelduftend, vorzüglich an heißen Sommertagen und wenn man uns in der nachmittäglichen Naturgeschichtsstunde gesagt hatte: »Im Lurkenteich findet man alles, was zur heutigen Lektion gehört, in seltener Vollständigkeit.«
»Weiß Gott, sie hätten ihn lassen können, wo er war. Sie hätten ihn lassen sollen, wie er war«, murrte ich auf meinem diesmaligen Wege zur roten Schanze. »Auf die paar Säcke voll Feldfrüchte für ihr Vieh oder sich selber brauchte es ihnen doch nicht anzukommen!«
Es war ihnen aber doch darauf angekommen, und so war heute denn nichts mehr dagegen zu machen, und ich hatte mich einfach in den Verlust zu fügen. Da ich es nicht wußte, was ging es mich an, daß die »Melioration« einen langjährigen, durch alle Instanzen ausgefochtenen Prozeß bedeutete und das irdische Behagen von drei oder vier städtischen Gemüsegärtnerfamilien gekostet hatte?
Da war ein anderer Prozeß, der schon von meinen früheren Jugenderinnerungen her eine ganz andere Bedeutung hatte: der böse Fall Quakatz in Sachen Kienbaum.
Je weiter ich auf dem engen, hübschen Feldwege, zwischen den wogenden, morgensonnebeglänzten, feuchtfrischen, der Ernte zureifenden Kornfeldern der roten Schanze zu wanderte, desto deutlicher kam mir die jetzt so völlig verhallte Aufregung von Stadt und Land meiner Jugendzeit über den Mord an Kienbaum in das Gedächtnis zurück. Mit immer neuen Einzelheiten – eine immer interessanter als die andere!
Dreimal hatten sie den damaligen Herrn der roten Schanze, den Bauer Andreas Quakatz, gefänglich eingezogen, weil sich neue »Indizien« in Sachen Kienbaum ergeben hatten. Und dreimal hatten sie ihn wieder ungeköpft loslassen müssen, den Bauer Quakatz, weil diese neuen Anzeichen und Vermutungsgründe sich doch abermals als das auswiesen, was sie waren, nämlich mehr oder weniger leichtfertige, und einige Male auch heimtückisch und boshaft aufgebrachte Verdachtserregungen.
»Ja, Eduard, wer erschlug den Hahn Gockel?« fragte Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, trübselig, kopfschüttelnd und sich hinter den etwas sehr abstehenden Ohren kratzend, als ich mit ihm zum letztenmal nach unserm Abgang von der Schule auf der Höhe des Weges stand, von wo aus man das Kriegswerk des Comte de Lusace, des Prinzen Xaver von Sachsen zuerst – auch heute noch – vollständig in seiner ganzen Wohlerhaltenheit vor Augen hat. Es ist dieselbe Höhe, auf welcher ich im nächtlichen Halb- und Ganztraum anhielt zum Briefsortieren unter der alten Hainbuche, gegenüber dem Dammwege, der – heute auch noch – über den Graben zu dem Eingangstore von Quakatzenhof führt.
Die Hainbuche hatte ich nun zu vermissen. Auch sie war wie der Lurkenteich der Melioration, der Feldverbesserung, zum Opfer gefallen. Sie hatte wahrscheinlich für das Bedürfnis der hungerigen Gegenwart zu viel Schatten über das Ackerland geworfen oder zu sehr ihre Wurzeln im Grund und Boden ausgebreitet. Doch, gottlob, die rote Schanze war noch vorhanden, wie sie freilich wahrhaftig damals nicht zur Melioration der Gegend im Jahre siebzehnhunderteinundsechzig aus dem Grund und Boden vom alten grimmigen Maulwurf Krieg aufgeworfen worden war. Und ich stand ihr nun wieder gegenüber und dachte zurück an uns zwei: Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, und mich, und an das, was Stopfkuchen damals aus dem frischesten Miterleben heraus über den Fall Kienbaum kontra Quakatz oder Quakatz kontra Kienbaum und, was mehr oder weniger damit zusammenhing, über Tinchen Quakatz zu bemerken hatte.
Wie ein angehender Beflissener der Gottesgelahrtheit sah er nicht aus; denn bei den jungen Herren pflegt die Wohlbeleibtheit, die er, Stopfkuchen, schon damals aufzuweisen hatte, erst später zu kommen, wenn sie auf nahrhafter Pfarre am eigenen Tische nachholen, was sie am Freitische seinerzeit versäumt haben. Aber er war gut, herzensgut. Er versuchte es wenigstens, seinen Eltern zuliebe, sich in das gedeihlichste Amt der Erde hinein zu – hungern. »Was tut man nicht, einer nicht nur verbohrten, sondern auch verweinten Mama und einem wahrhaft wütend auf das nächstliegende beste Brotstudium für den Herrn Sohn erpichten Alten gegenüber? Man will doch dem Greisenpaar nicht die schönsten Hoffnungen knicken. Und etwas wünschen die beiden guten Leute doch auch dafür zu haben, daß sie einen in diese Welt voll abgenagter Knochen, trockner Brotrinden und höchst gesunden, klaren, erquickenden und vor allem billigen Brunnenwassers hineingesetzt haben, Eduard!«
Eben von mir niedergeschriebene und von einem treuen, herzlichen, kindlichen Gemüte zeugende Eräußerungen sind selbstverständlich auch eine Erinnerung. Er tröstete sich nur von der Sekunda bis zum Abiturientenexamen recht häufig damit. Aber damals – an jenem Tage des Abschiednehmens, wenn nicht von der Jugendzeit, so doch von der Kinderzeit; an jenem Tage, wo wir beide, ich und er, für lange, lange Zeit zum letzten Male unter Störzers Hainbuche vor der roten Schanze standen, sagte er ganz was anderes; er sagte:
»Da ist sie! Mitten unter ihrem Kriegsvolk. Nun höre und sieh nur die Hunde, wie sie herüberblaffen und uns die Zähne zeigen! Famose Köter! Wenn ich an irgend etwas im Leben meine Freude habe, so sind sie es. Nu guck nur, wie gut sie die Parole gefaßt haben, und wie sie es verstehen, alles unnötige Pack vom Tinchen Quakatz und von der roten Schanze abzuwehren. Sag selber: Hätte der lächerliche Musjeh in französischen Diensten, der Herr Graf von der Lausitz, der Herr Prinz Xaver von Kursachsen, den Wall da drüben besser spicken können als der Bauer Quakatz?«
»Nu ja, Heinrich; es paßt eins zum andern: Haus, Hof und Graben – Vater, Tochter und Wachtmannschaft.«
»Das tut's. Gottlob! Und nun will ich dir noch etwas sagen, Eduard, wenn du es mir nicht übelnehmen willst. Nämlich jetzt wär's mir doch lieber, wenn du dich auf dem Wege hierher mir nicht aufgehängt hättest. Den Damon und Phintias, den David und Jonathan, und wie die Musterfreunde sonst noch heißen mögen, hätten wir bei anderer Gelegenheit, auf einem andern Spazierpfade in entgegengesetzter Richtung von der Stadt und der roten Schanze vor unserer demnächstigen Trennung spielen können. Aber da du ein guter Kerl und wirklich mein Freund bist, so bleib meinswegen, da ich es nicht ändern kann. Aber die Liebe tust du mir und lösest dich möglichst in Luft und unverbrüchliches Schweigen auf, und nachher, drunten in der Stadt, machst du mich in der übrigen Bekanntschaft nicht lächerlicher, als es unbedingt nötig ist. Die rote Schanze hat es mir nun einmal angetan, und das arme Mädchen darüber unter seiner Hundebande kann auch nichts dafür, wenn es mich gleichfalls zu einem Narren gemacht hat. Es ist eben so geschrieben, und ich habe einfach das Schicksal in mich hineinzufressen. Guten Tag, Fräulein Valentine!«
»Guten Tag, Herr Schaumann.«
Sie sah, wie sie mit untergeschlagenen Armen am Torpfeiler lehnte, nicht danach aus, als ob es in Wahrheit ihr Ernst damit sei, jemandem in der Welt einen guten Tag zu bieten. Man blickte unwillkürlich danach um, ob nicht eine geladene Büchsflinte neben ihr am Eingang der Schanze lehne, oder ob sie nicht ein scharfes, spitziges Messer in der rechten Faust unter der linken Achsel verborgen und zum schnellen Gebrauch bereit halte. Auch so was wie von einer wilden Katze hatte sie an sich, die im Notfall keiner künstlichen Waffe bedurfte, sondern nur jedem mit den echt gewachsenen Krallen ins Gesicht zu fahren brauchte und sich mit den Zähnen festzubeißen, um in jedem Kampfe für sich und um ihres Vaters Haus, Hof und Herd die Oberhand zu behalten.
Nicht groß und nicht klein, nicht mager und nicht fett, nicht hübsch und nicht häßlich, nicht städtisch und nicht dörfisch, nicht Kind und nicht Jungfrau stand sie, Valentine Quakatz, des Mordbauern Andreas Quakatzen einzige Tochter, und bewachte ihres blutig berüchtigten Vaters Anwesen, die rote Schanze, in der friedlichen, sonnenbeglänzten, laubgrünen und ährenblonden Landschaft.
Ich rufe nicht mehr: »Da sind eure Postsachen, eure Schreibsachen, eure Zeitung, du rote Giftkatze«, Störzers Amtsgeschäfte am Eingangstor der roten Schanze ausrichtend. Sie aber, Fräulein Quakatz, duckt die Hunde wie damals und fast mit den nämlichen wunderlichen Zurufen wie damals. Die Köter beruhigen sich langsam und widerwillig und behalten uns, leise fortknurrend, fest und mißtrauisch im Auge.
»Der Vater ist nicht zu Hause«, sagt Valentine. »Und die Leute sind im Felde«, fügt sie hinzu.
»Schön!« sagt Stopfkuchen. »Da sind wir ja wieder einmal unter uns beiden, Tinchen; denn dem da habe ich es eben schon klar genug auseinandergesetzt, daß er sich gegenwärtig vollständig als Luft zu betrachten habe. Natürlich, wenn er nicht mein bester Freund wäre, würde ich ihm meine Meinung in Hinsicht auf seine heutige völlige Überflüssigkeit hier noch deutlicher zum Bewußtsein gebracht haben. Aber er ist mein Freund, und also auch, natürlich so weit das mir paßt, der deinige, Tinchen, und so dumm bist du nicht, Mädchen, daß du nicht Bescheid wüßtest, daß er über euch, die rote Schanze, so gut Bescheid weiß wie die übrige edle, christliche Menschheit auf fünf Meilen im Umkreis. Herrgott, darum allein könnte man schon mit Wonne Theologie studieren, um einmal so recht von der Kanzel aus unter sie fahren zu dürfen, die edle Menschheit nämlich! Und nun kommt endlich ins Haus. Die letzte Nase voll des üblen Geruches der roten Schanze zum Mitnehmen in die reinere, die bessere Luft da draußen, jenseits der eben erwähnten fünf Meilen!«
Zum »Sich äußern« – zum »Worte machen« – zum »Reden halten«, kurz zum »Predigen« war er immer sofort da, der dicke Heinrich. Wenn es darauf angekommen wäre, müßte er unbedingt heute wenn nicht cismontaner Papst, so doch Kardinal oder zum mindesten Archiepiskopus, aber wahrhaftig nicht der jetzige Bauer auf der roten Schanze sein.
»Wo ist denn der alte Mann?« fragt er fürs erste noch.
»Wieder vorm Gericht in der Stadt«, spricht grimmig die Tochter und Erbin der roten Schanze. »Er hat's ja wieder mit dem Schulzen von Maiholzen da gehabt und ihm die Faust vors dumme Gesicht gehalten und ihn in der alten Sache wegen Kienbaum von neuem einen Verleumder geheißen. Da ist er denn von neuem verklagt worden.«
Und Stopfkuchen zeigt, daß er ungemein melodisch zu flöten verstehe. Er läßt seine Gefühle in einer langgezogenen Kadenz verklingen und nimmt sie tätlich wieder auf, indem er den Arm dem Mädchen um die Hüften legt und, zu mir gewandt, sagt: »Schöner konnten wir's ja wieder mal nicht treffen.«