Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Ich war, wie gesagt, nach Jahren der Abwesenheit einmal wieder ihr Gast, der Gast der Heimatstadt, im Kruge zum Brummersumm gewesen oder hatte vielmehr endlich einmal wieder daselbst einen Stuhl eingenommen.

Natürlich könnte man hier Gedanken, Gefühle, Stimmungen und Anmerkungen aus der Tiefe des deutschen Herzens, Busens und Gemütes heraus noch recht erklecklich weiter, und zwar ins Behaglichste ausmalen; man tut es aber nicht, sondern bemerkt nur das Notwendige.

Nämlich als Kind schon begleitete ich meinen jetzt längst verstorbenen Vater dorthin. Er hatte seine Pfeife da stehen, doch dann und wann hatte ich ihm auch eine neue hinauszutragen. Viele Leute werden nun sagen: Der selige alte Herr gab da seinem Jungen ein recht sauberes Beispiel! Und sie haben recht und wissen gar nicht, wie sehr sie recht haben. Er tat es auch und gab mir ein nettes Beispiel; freilich nicht bloß in dieser Hinsicht.

Ich bin also Stammgast des Brummersumms von Kindesbeinen an gewesen und habe schon um dessentwegen mitgeheiratet, um gleich dem wackern alten Vater allerlei von dorther an meine eigenen Jungen drunten im »heißen Afrika« weitergeben zu können. Die verwilderten, halbschlächtig deutsch-holländischen Schlingel geben gottlob unter den Buren, Kaffern und Hottentotten manch ein Kulturmoment weiter, was aus dem Brummersumm stammt. Sie sagen dann gewöhnlich dabei: Mein Vater hat's gesagt, und der hat's schon von seinem Vater, unserm Großvater in Deutschland.

Ja, so ein richtiger deutscher Spießbürger in seiner Kneipe!

Man zieht die Achseln nur deshalb über ihn, weil man selbstverständlich stets den unrichtigen für den richtigen nimmt. Wo in aller Welt als wie so im Brummersumm läßt sich denn der Spieß leichter umdrehen, auf daß man die langweilige, die dumme, die abgeschmackte, die boshafte, die neidische Welt drauflaufen lasse? Und wo kann man kräftiger nachstoßen, um das überleidige Untier völlig zu Boden zu bringen?

Wie sich freilich die Frau Spießbürgerin zu dem Brummersumm verhält, das steht auf einem ganz andern Blatte. Auf einem ganz besondern Blatte aber steht, wie sich meine selige Mutter zu ihm verhielt. Erst in reifern Jahren natürlich habe ich den Sachverhalt herausgekriegt durch wehmütig-fröhliche Rückerinnerung, und da ist der Gesamteindruck ein höchst erfreulicher. Das brave Weib hatte sich nicht nur mit dem Brummersumm abgefunden, sondern es ermahnte dann und wann meinen Vater: »Du, es ist wohl Zeit für deinen Abendweg!« Und seltsamerweise geschah dieses am häufigsten dann, wenn Sorge, Kummer und Verdruß unser Haus in der Stadt umkrochen und böser Lebensdunst sich darüber, und also zumeist über ihrem teuren Haupte, zusammengezogen hatte. Es gibt wohl nichts, was mehr für die Frau und den Brummersumm spricht.

Ich hatte auch an dem Abend, unter dessen Sternkonstellationen diese Blätter sich auftaten, alle möglichen alten Erinnerungen von neuem aufgefrischt. Sie hatten im Brummersumm gemeint, ich sei doch recht schweigsam aus dem Kaffernlande auf Besuch nach Hause gekommen; und sie bedachten wie gewöhnlich nicht, daß man den Mund halten und doch die lebendigste Unterhaltung mit einem, mit mehreren, mit vielen führen kann. Dazu hatte ich wirklich das meiste vernommen, was an diesem Abend um mich her gesprochen worden war, und ein im Vorübergehen rasch und leicht hingesprochenes Gesprächsthema hatte mich in der Tat länger und eingehender beschäftigt und nachdenklicher bei sich festgehalten als die andern um den alten Tisch herum.

Es gehört nämlich jetzt einer von uns der kaiserlichen Reichspost als Beamter an, und der erzählte oder gab vielmehr beiläufig in die Unterhaltung hinein:

»Es wird vielleicht einige der Herren interessieren, daß man uns heute angezeigt hat, daß Störzer tot ist. Unser ältester und weitgelaufenster Landpostbote. Es sollte mich wundern, wenn einer hier unter uns wäre, dem er nicht über den Weg gelaufen wäre.«

»I, natürlich!« klang es im Kreise. »Der alte Störzer! Also der hat endlich auch seinen Pilgerstab in den Winkel gestellt.«

»Mit allen Ehren. Volle einunddreißig Jahre ist er gelaufen, und wir haben uns unter dem ersten Eindruck der Nachricht drangemacht und haben es ihm postamtlich nachgerechnet, welchen Weg er in seinem Dienste treu und redlich, ohne einen einzigen Urlaubstag zu verlangen, zurückgelegt hat. Wie viele Male glauben die Herren, daß er hätte rund um die Erde herum gewesen sein können?«

»Da bin ich doch neugierig!« sagte der ganze Brummersumm.

»Fünfmal. Rund um den Erdball. Siebenundzwanzigtausend und zweiundachtzig Meilen in vierundfünfzigtausendeinhundertvierundsechzig Berufs-Gehstunden! Und, wie gesagt, keinen Tag hat der Glückspilz in seinen einunddreißig Dienstjahren ausgesetzt – aussetzen müssen aus Gesundheitsrücksichten. Wie viele der Herren würden gegen seine Beine die ihrigen mit anhängendem Rheuma, mehr oder minder ausgesprochener Ischias und was sonst zu den Beigaben einer seßhaften Lebensstellung gehört, mit Vergnügen ausgetauscht haben! Ach, und wenn er sie hätte vererben können!«

»Das weiß der liebe Gott!« seufzten verschiedene der Herren, indem sie noch einmal hinzufügten: »Also der alte Störzer ist tot!« –

»Also der alte Störzer ist tot!« hatte auch ich gemurmelt. »Hat sich zur Ruhe gesetzt, nachdem er fünfmal die Weglänge um den Erdball zurückgelegt hat. Hm, hm, den hättest du gern auch noch einmal gesehen und gesprochen vor seinem allerletzten Wege, der nicht mehr zu seinen irdischen, amtlichen gehörte!« – Und ein unbehagliches Gefühl, eine Pflicht und Verpflichtung leichthin versäumt zu haben, überkam mich. »Mußte der Mann es denn diesmal so eilig haben? Konnte er es keinen Augenblick ruhig abwarten, bis du dich auch seiner erinnern würdest, Eduard, um auch ihm seinen ihm zukommenden Freundschaftsbesuch bei diesem deinem Besuch in der Heimat abzustatten?«

»Du mußt dich doch seiner vor uns allen gut erinnern, Eduard?« hatte vorhin einer am Lebenstisch mich gefragt.

»Jawohl, ich erinnere mich seiner sehr gut«, hatte ich geantwortet; und nun sind die folgenden Blätter seinetwegen, Störzers wegen, mit geschrieben worden.

 

»Jawohl, jawohl, wie gut ich mich seiner erinnere!« wiederholte ich mir, eine halbe Stunde oder eine Stunde später, als ich im Wirtshause, in meinem Absteigequartier in hiesiger Stadt, mit mir und den Heimatseindrücken des eben abgelaufenen Tages allein war. Er, Störzer, gehörte freilich zu meinen allerbesten Jugendbekannten, und mein Vater war's gewesen, der mich mit ihm bekannt gemacht und auf seinen Umgang hingewiesen hatte, indem er mir riet: »Sieh einmal, mein Junge, an dem nimm dir ein Beispiel. Der macht sich weder aus dem Wege noch aus dem Wetter was. Und was alles trägt er täglich den Leuten in seiner Ledertasche zu und macht dabei an dem einen wie an dem andern Tage das gleiche Gesicht.«

Der letztere Teil dieser Rede war mir damals wohl etwas dunkel geblieben; heute weiß ich, daß mein seliger Papa vor dem Worte: Gesicht wohl die dazugehörigen Beiwörter: dumm, gleichgültig, stillvergnügt, unterschlagen hatte. Aber welch ein richtiger Junge achtet nicht einen Menschen, der ihm als ein Muster aufgestellt wird, weil er sich weder aus dem Wetter noch aus dem Wege etwas macht?

»Wo das Kind eigentlich wieder stecken mag?« pflegte in jenen glücklichen Tagen meine arme selige Mutter zu fragen.

Das Kind steckte bei Störzern, seiner Kunst, sämtlichen autochthonen und auch einigen exotischen Vögeln nachzupfeifen, -flöten, -zirpen und -schnarren, bei seiner »Kriegsbereitschaft« anno achtzehnhundertfünfzig und bei seiner – Geographie. Die Sache war doch ganz klar, so dunkel sie auch einem den Deckel vom Suppennapf abhebenden und vergeblich um sich schauenden Muttergemüt sein mochte. Beiläufig, daß wir ebenfalls zur Post (damals noch nicht kaiserlichen) gehörten und daß mein Vater in seinen letzten Lebensjahren sogar Herr Postrat genannt wurde, trug wohl auch das seinige zu dem angenehmen und innigen Verhältnis zwischen mir und Störzer bei. Wir rechneten uns einander, wie man das ausdrückt, zueinander; und auf meinen Wegen nicht um, sondern durch die Welt habe ich niemals ein selten Posthorn zu Ohren bekommen, ohne dabei an meinen seligen Vater, meine selige Mutter und den Landbriefträger Störzer zu denken. Übrigens bekam Störzer auch jedesmal eine Zigarre mit auf den Weg, wenn er dem Vater und mir draußen vor der Stadt begegnete. Da war's wohl kein Wunder, wenn er jedesmal, wo er mich allein traf, zu fragen pflegte: »Nu, Eduard, wie ist es? willst du mit? darfst du mit?« –

Ich hätte ihm doch, wenn nicht zuerst, so doch unter den ersten meinen Besuch machen sollen. Jetzt war es wieder einmal zu spät für etwas. Auch die kaiserliche Reichspostverwaltung hatte ihr Recht an ihm verloren, holte ihn sich nicht mehr zu neuem Marsch durch gutes und böses Wetter vor Tage aus den Federn, oder besser, von seinem Strohsack; und ich – ich saß bei meinem Freunde Sichert, dem Wirt zu den drei Königen, und gedachte seiner, wie man eines gedenkt, zu dem man in seiner Kindheit aufgesehen hat und mit dem man Wege gegangen ist, aller Phantasien, Wunder und Abenteuer der Welt voll.

Man hat so Stunden, wo einem alles übrige Leben und alle sonstige Lebendigkeit zu einem fernen Gesumm wird und man nur eine einzelne Stimme ganz in der Nähe und ganz laut und genau vernimmt.

»Damit ist es nun nichts, Eduard!« hörte ich Störzer ganz deutlich seufzen. Er hatte mir aber, das heißt an dem Tage damals, ein Kuckucksei in einem Grasmückenneste zeigen wollen, und es hatte sich gefunden, daß schon andere Naturforscher vor uns dagewesen waren und daß der Kuckuck die ganze naturhistorische Merkwürdigkeit aus dem Busch in dem alten Steinbruche, rechts abseits der Landstraße und des Postdienstweges, geholt hatte.

Und wieder, von einem andern Tage her, höre ich diese Stimme: »Siehst du, Eduard, wenn ich heute deine Mutter gewesen wäre, so hätte ich dich an diesem Morgen doch vielleicht nicht mit mir gehen lassen, und wenn es auch hundertmal die großen Ferien sind. Noch hält dies zwar jeder, der nichts davon versteht, für einen recht schönen Tag; aber, aber, ich sage nichts, wie ich die Gegend hier herum und die Wetteraussichten kenne. Mir wölkt es sich trotz allem gegenwärtigen Sonnenschein dahinten und von so ganz herum, aber gerade aus unserer Wetterecke hinter Maiholzen, doch ein bißchen zu verdächtig auf. Willst du lieber noch umkehren, Eduard, so tust du vielleicht deinen lieben Eltern und deinem Anzug einen großen Gefallen. Ich will nichts sagen, aber es könnte doch eine Stunde kommen, wo sie dich am liebsten zu Hause wüßten.«

Es ist nicht immer dieselbe Stimme. Es fällt noch eine andere ein, und das ist die meinige, die sich aber noch lange nicht »gesetzt« hat und sich erst in einigen Jahren »setzen« wird.

»In Südamerika ist ein großes Erdbeben gewesen, Störzer. Mein Vater hat es heute früh beim Kaffee aus der Zeitung vorgelesen. Das hat viele Ortschaften übereinandergeschmissen und darunter eine Stadt so groß wie unsere. Donnerwetter, wer da hätte bei sein können, Störzer!«

»Ja, Eduard, das sagten Anno fünfzig auch viele von uns bei der großen Mobilmachung, wenn alte Leute, die dabei gewesen waren, von der Schlacht bei Leipzig oder der Schlacht bei Waterloo und den Drangsalen auf den Märschen erzählten. Nachher war's uns allen aber doch recht lieb, daß es diesmal zu nichts Rechtem kam. Das größte Großmaul von uns hatte die Geschichte bloß nur auf dem Exerzierplatz bald satt. Und selbst Karl Drönemann, den sie zu einem reitenden Postillon bei der Kriegspost gemacht hatten, meinte: zu Hause davon nachher zu erzählen, wiege es doch nicht auf, es vorher mit seinem eigenen menschlichen Leben selber durchgemacht zu haben. Das ist wie mit den Reisebeschreibungen. Nimm da nur unsern Levalljang, wie hübsch sich das liest, weil er es so hübsch zu Hause geschrieben hat ... Also in Südamerika ist das große Erdbeben diesmal gewesen? Ja, ja, die Geographie ist doch die allerhöchste Wissenschaft für uns alle von der Post! Wie viele sind wohl umgekommen, Eduard?«

»Na, so an die hunderttausend. Auf das genaueste kann man das wohl nicht ausrechnen.«

»Hm, ein paar tausend mehr oder weniger! Einer mehr oder weniger! Ja, einer mehr oder weniger – weniger. Eduard, unser Herrgott muß es doch wohl verantworten können. Ist das nicht auch deine Meinung?«

»Das weiß ich nicht; aber ihre dortige Brief- und Paketbestellung muß das höllisch in Unordnung bringen, sagt mein Vater, und da kommt doch sicherlich vieles als unbestellbar zurück. Meinst du nicht auch, Störzer?«

»Einer mehr oder weniger in der Welt.«

»Kaufmann Katerfeld, der da einen reichen Bruder hat, wie meine Mutter sagte, ist auch schon heute beim Kaffee beim Vater gewesen und hat danach angefragt.«

»I, sieh mal, Eduard! Auch einer mehr oder weniger! Ja, diesen auswärtigen Katerfeld, er heißt mit Vornamen Sekkel, kenne ich noch ganz gut aus meinen Jungensjahren. Das muß also in Chile gewesen sein, dein Erdbeben; denn dahin ist er ausgewandert und hat's zum Millionär gebracht. Und das sollten wir alle tun. Er ist unverheiratet geblieben, weil ihn hier eine Gewisse nicht gewollt hat. Das kannst du halten, wie du willst, Eduard, denn das ist doch die Nebensache. Sieh, sieh, also der ist mit in das Erdbeben hineingeraten! Ja, da hätte ich in Herrn Samuel Katerfelds Stelle mich auch gleich bei deinem Herrn Vater, dem Herrn Postmeister, nach dem Nähern erkundigt. Aber – das verstehst du noch nicht, Eduard. Also du willst auf gut und schlecht Wetter heute morgen wieder mit. Nun, denn nimm den Weg unter die Füße und laß uns von dem Levalljang sprechen. Das ist doch unser Buch! und der Welt- und Reisebeschreiber treibt einem die trüben Grillen aus dem Kopf. Und so ein Leben wie der sollten wir alle führen unter den wilden und zahmen Hottentotten. Ich habe wieder die halbe Nacht in dem Buche studiert.«


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