Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Er nahm seine Zigarrenkiste unter den Arm, ich bot ihm wieder den meinen; die Frau trug uns ein brennend Licht in die stille Sommerluft hinaus, und so saßen wir noch einmal unter den Linden, und ich wehrte eine letzte Tasse Kaffee ab, und – jetzt könnte ich jeden fragen, ob's nicht merkwürdig sei, auf einem Schiffe, auf dem sogenannten hohen Meer, auf der Rückreise in das ödeste, langgedehnteste, wenn auch nahrhafteste Fremdenleben so von dem sogenannten heimischen, vaterländischen Philisterleben zu schreiben? ...

»Ja, ja, Eduard«, sagte Stopfkuchen, »gehe heraus aus dem Kasten! Einige werden in die Welt hinausgeschickt, um ein König- oder Kaiserreich zu stiften, andere um ein Rittergut am Kap der Guten Hoffnung zu erobern, und wieder andere bloß um ein kleines Bauernmädchen mit unterdrückten Anlagen zur Behaglichkeit und einem armen Teufel von geplagtem, halb verrückt gemachtem Papa einzufangen und es mit Henriette Davidis Kochbuche und mit Heinrich Schaumanns ebenfalls schändlich unterdrückten Anlagen zur Gemütlichkeit und Menschenwürde etwas bekannter zu machen.«

»Gehe heraus aus dem Kasten, Heinrich!«

»Ihr anderen, als wir hier noch auf Schulen gingen, glaubtet vielleicht, eure Ideale zu haben. Ich hatte das meinige fest.«

»Das weiß ich zur Genüge; du hast es mir heute schon öfter gesagt: die rote Schanze!«

»Nein, durchaus nicht!«

»Nun, dann soll es mich doch wundern, was denn!«

»Mich!« sprach Stopfkuchen mit unerschütterlicher Gelassenheit. Dann aber sah er sich über die Schulter nach seinem Hause um, ob auch niemand von dort komme und horche. Er hielt die Hand an den Mund und flüsterte mir hinter ihr zu: »Ich kann dir sagen, Eduard, sie ist ein Prachtmädchen und bedurfte zur richtigen Zeit nur eines verständigen Mannes, also eines Idealmenschen, um das zu werden, was ich aus ihr gemacht habe. Das siehst du doch wohl ein, Eduard, obgleich es freilich die reine Zwickmühle ist: damit ich ihr Ideal werde, mußte ich doch unbedingt vorher erst meines sein?«

»Aus dem Kasten, nur immer weiter heraus aus dem Kasten!« murmelte ich. Was hätte ich sonst murmeln sollen?

»Ihr hattet mich mal wieder allein unter der Hecke sitzenlassen, ihr andern, und waret eurem Vergnügen an der Welt ohne mich nachgelaufen. Und am Morgen in der Schule hatte mich Blechhammer mal wieder wissenschaftlich zum abschreckenden Beispiel verwendet als Bradypus. Ich kann ihn heute noch nicht nur zitieren, sondern lebendig auf die Bühne bringen mit seinem: ›Seht ihn euch an, ihr andern, den Schaumann, das Faultier. Da sitzt er wieder auf der faulen Bank, der Schaumann, wie der Bradypus, das Faultier. Hat fahle Haare, wie welkes Laub, vier Backenzähne. Klettert langsam in eine andere Klasse – wollt' ich sagen: klettert auf einen Baum, auf dem es bleibt, bis es das letzte Blatt abgefressen hat. Schuberts Lehrbuch der Naturgeschichte, Seite dreihundertachtundfünfzig: kriecht auf einen andern Baum, aber so langsam, daß es ein Jäger, der es am Morgen an einem Fleck gesehen hat, auch am Abend noch ganz in der Nähe findet. Und dem soll man klassische Bildung und Geschmack an den Wissenschaften und Verständnis für die Alten beibringen!‹ – Na, Eduard, du bist auch mit einer von meinen Jägern gewesen, wenn auch keiner von den allerschlimmsten: wie findest du mich, nachdem du mich am Morgen an einem Flecke gefunden hast und mich jetzt am Abend noch ganz in der Nähe desselben wiederfindest?«

Was sollte ich anders sagen, als: »Du wolltest von den grünen, den lebendigen Hecken unserer Jugend reden, alter Heinrich, alter lieber Freund! Erzähle weiter. Erzähle, wie du erzählst.«

»Meinetwegen. Jawohl, ihr habt sie ja wohl noch in voller, grüner Fülle und möglichst unbeschnitten um eure Felder und Gärten in Afrika? Hier reuten sie sie allmählich überall aus, die Hecken. Da drunten um das Nest herum, in welchem wir jung geworden sind und grüne Jungen waren, haben sie sie glücklich alle durch ihre Gartenmauern, Eisengitter und Hausmauern ersetzt. Es ist wirklich, als könnten sie nichts Grünes mehr sehen! Selbst hier draußen fangen sie schon an, ein Ende damit zu machen. Na, laß sie, ich habe für mein Teil noch die Wonne genossen, mich drunterzulegen, heute in die Sonne, morgen lieber in den Schatten. Unter der Hecke hätte ich überhaupt geboren werden sollen und nicht in so einer muffigen Stadtkammer nach dem Hofe hinaus. Über die Hecken hätten meine Windeln gehängt werden sollen und nicht um den überheizten Ofen herum. Heinrich von der Hecke oder vom Hagen! nicht wahr, das wäre etwas für mich, den Eroberer der roten Schanze und der dazugehörigen Tine Quakatz gewesen, lieber Eduard? Herr Heinrich von der Hecke, wieviel würdiger, edler, bedeutungsvoller das doch klänge als Kandidat Schaumann, ehelicher Sohn weiland Oberundunterrevisors Schaumann und dessen Ehefrau und so weiter mit allen bürgerlichen Ehrenhaftigkeiten. Und noch dazu, da ich im Grunde doch auch es, mein Tinchen, unter ihr, der Hecke, der grünen, sonnigen, wonnigen, der ganz und gar lebendigen Hecke gefunden habe, da ich unter ihr mein Fräulein, die mir bestimmte Jungfer, meinen scheuen Heckenspatz für diese diesmalige, sauersüße Zeitlichkeit eingefangen habe. ›Geh da weg, Junge‹, sprach die junge Dame, mir die Zunge zeigend. ›Die Hecke gehört meinem Vater, und da hat keiner ein Recht daran als wir.‹ – ›Bauerngans! dumme Trine!‹ sagte ich, und damit war die erste Bekanntschaft gemacht. Sehr mit eurem Zutun, lieber Eduard; denn was ließet ihr mich so allein im Grase unterm Haselnußbusch in Vater Quakatzens Reich? – ›Ich bin keine Bauerngans, und ich bin keine Trine‹, rief die Krabbe. ›Ich bin Tine Quakatz. Geh weg von unserm Brinke, Stadtjunge! Das sind meine Nüsse, dies ist unsere Hecke und unser Brink; und weil es unser Brink und unsere Hecke ist, so werfen sie auch gleich mit Dreck. Sie haben's mir wieder in der Nachmittagsschule verabredet und es sich versprochen.‹ – Ob das eine Warnung sein sollte, kann ich nicht sagen; jedenfalls kam die Benachrichtigung zu spät. Denn im selbigen Augenblick schon hatte ich die Pastete über den Kopf, an die Nase, in die Augen und teilweise auch ins weitoffene Auslaßtor der Rede; war jedoch, trotz meiner weichen Füße, wieder im nächsten Augenblick über die Hecke und hatte den ländlich-sittlichen Attentäter mit seiner Faust voll frisch aufgegriffener Ackerkrume am Kragen und zu Boden. Im allernächsten Augenblick die ganze junge Dorfsbande, Jungen und Mädchen und Köter, über mich her, und Tinchen mit den Nägeln in den Gesichtern und den Fäusten in den Haaren der Gespielen und Gespielinnen, und sämtliche Hundewachtmannschaft von der roten Schanze über den Dammweg uns zur Hilfe! Reizend! ich fühle die Püffe heute noch und greife heute noch nach hinten und vorn mir am Leibe herum! Dann mit einem Male der Graben des Prinzen Xaver und die Wallhecke des Bauern Quakatz zwischen uns und dem Feinde! Herrgott, wie lief mir das Blut aus der Nase, und wie wischten sie drüben mit den Jackenärmeln das ihrige von den Mäulern und kreischten und schimpften und warfen mit Steinen herüber: ›Kopfab! kopfab! Kienbaum! Kienbaum! Tine Quakatz, kopfab, kopfab!‹ Herrgott, und dann der wirkliche Schrecken bis ins Mark, sowohl bei mir wie bei der Menschheits-Entrüstungs-Kundgebung von drüben, jenseits des Grabens. Da stand er – die drüben rissen aus wie die Spatzen vor dem Steinwurf – da stand er hinter mir, zum erstenmal in meinem Leben dicht neben mir: der Mordbauer von der roten Schanze, der verfemte Mann von der roten Schanze, der Bauer Andreas Quakatz – Kienbaums Mörder! Im Grunde war es doch eigentlich nur eure Schuld, daß ich seine Bekanntschaft so zuerst machte und nachher sie mehr und mehr suchte. Ein Mensch, den seine Zeitgenossen unter der Hecke liegen lassen, der sucht sich eben einsam sein eigenes Vergnügen und läßt den andern das ihrige. – Ja, mein seliger Schwiegervater an jenem Tage! mich schien er gar nicht zu sehen; er sah nur auch über die Hecke nach dem kreischenden, immer noch mit allem möglichen Wurfmaterial schleudernden Schwarm unserer und seiner Gegner. Und statt etwas dazu zu bemerken, wandte er sich wieder und ging gegen das Haus zu – Kienbaums Mörder. Er konnte hier nichts für sein Kind tun, und er mußte uns allein mit der Sache fertig werden lassen. Doch die einzige Bewegung, die er gemacht hatte, hatte freilich schon genügt, das junge Dorfvolk im panischen Schrecken aus dem Felde zu scheuchen. ›Komm, Junge, an den Brunnen!‹ sagte Tinchen. ›Wie siehst du aus! deine Mutter, wenn du noch eine hast, schlägt dich tot, wenn sie dich so sieht.‹ – Siehst du, Eduard, da steht er noch. Es ist derselbe alte Ziehbrunnen und liefert ein braves Wasser. Der Schacht geht ziemlich tief durch das Schanzenwerk des Grafen von der Lausitz, bis in den Grund der Erde. In Afrika habt ihr kein besseres Wasser, meine ich, und wenn du einen Trunk daraus wünschest, so wende dich nachher nur an Tinchen. Sie windet den Eimer heute noch so wie damals auf. Damals aber sagte sie: ›Wenn wir und unser Vieh nicht daraus trinken müßten, so hätte ich schon längst ein paar von ihnen drunten liegen!‹ und dabei drohte sie mit der Faust nach dem Dorfe zu, und alle Köter der roten Schanze bellten nach derselben Richtung hin. – Nun wusch ich mir das Blut ab, und dann tranken wir beide aus einem Eimer, indem wir daneben knieten und die Köpfe nebeneinander in ihn hinein versenkten. Es war auch eine Art Blutsbruder- oder -schwesterschaft, die da auf solche Weise gemacht wurde. Als wir uns aber die Mäuler getrocknet hatten, meinte das Burgfräulein von Quakatzenburg: ›Wenn du dich fürchtest, jetzt bei Hellem allein nach Hause zu gehen, so kannst du hierbleiben, bis es dunkel geworden ist, Stadtjunge. Sie lauern dir sicher am Dorfe auf; da kenne ich sie. Sie prügeln dich durch, und so ist es dir vielleicht lieber, du läßt dich abends wegen Ausbleiben von deinem Vater oder deiner Mutter durchprügeln.‹ – Ihr habt mich nie in der Schar eurer Helden mitgezählt, Eduard. Von euch hellumschienten Achaiern hätte ich nimmer das beste und also auch ehrenvollste Stück vom Schweinebraten in die Hände gelegt bekommen. Wieviel mehr Heroentum unter Umständen in mir als wie in euch steckte, davon hattet ihr natürlich keine Ahnung. Wenn ich mein Rückenstück vom Spieß mit gebräuntem Mehl bestreut haben wollte, so hatte ich es mir hinter eurem Rücken selber anzurenommieren: ›Ich fürchte mich vor nichts in der Welt und vor dem Pack aus Maiholzen gar nicht. Derentwegen gehe ich schon bei Tage zu jeder Zeit; aber weil du dies gesagt hast, bleibe ich doch hier – jetzt grade!‹ Der Herr Registrator Schwartner und der Prinz Xaver von Sachsen hatten in diesem Augenblick nichts mit dem gruselnd-süßen Gefühl, endlich innerhalb der verrufenen, geheimnisvollen roten Schanze zu stehen, zu tun. – ›Der Vater ist wieder im Haus, und wir sind vor ihm sicher‹, sagte meine jetzige Frau. ›Du bist gut gegen mich gewesen, Stadtjunge, du brauchst dich diesmal also nicht vor mir zu fürchten. Ich werfe dich nicht in den Brunnen. Sollen wir zuerst in den Birnbaum steigen, oder willst du lieber erst meine Kaninchen sehen und meine Ziegen? Wir haben auch kleine Hunde. Von denen läßt der Vater aber diesmal nur einen bei der Alten liegen; wir haben noch genug auf dem Wall. Wenn es der Vater mir nicht verboten hätte und ich sie mit nach draußen, da nach der Hecke im Felde draußen, nehmen dürfte, und wenn ich sie hetzen dürfte, so sollte mir keiner aus Maiholzen noch mit gesunden Beinen und heilen Schürzen, Röcken und Hosen herumlaufen. Guck nur, wie sie auch dich drauf ansehen, daß ich sagen soll: Pack an! faß, faß, faß an!‹ Dem war gewiß so. Sie hielten mich alle giftig genug im Auge und umknurrten mich böse. Na, ich bin ihnen allmählich doch nähergekommen, Eduard. Da, du da, komm du mal her, Prinz! Siehst du, das ist noch einer von der alten Garde, oder stammt wenigstens noch von ihr her. Auch er hätte eigentlich schon längst den neun Gewehrläufen oder der Blausäure verfallen müssen, wenn ich das Herz dazu aufbrächte. Meine Frau will natürlich auch nichts von so einer wohltätigen Gewalttat hören, und selbst meinem guten Kater da würde die Sache gewiß leid tun. Nun, ich hoffe, eines Morgens finden wir ihn mal in einem Winkel heimgegangen zu seinen Vätern und aus dieser bissigen Welt heraus im Hafen als angelangt verzeichnet.«

»Sollte ich seine Bekanntschaft vielleicht schon gemacht haben, als wir vor unserm Abgang zur Universität hier Abschied voneinander nahmen, Heinrich?«

»Kaum möglich. So alt wird kein verständiger Hund. Höchstens ein vernünftiger Mensch.«

»Entschuldige, daß ich dich unterbrochen habe. Erzähle weiter, Stopfkuchen.«

»Nicht wahr, für den Schwiegersohn von Kienbaums Mörder erzähle ich hübsch gemütlich? Ja, ja, es war im vollsten Sinne des Wortes eine Mordwirtschaft, in welcher ich mich zum einzigen Haus- und Familienfreunde auswuchs! Die Versicherung kann ich dir geben, Freund, daß nur sehr selten ein Schwiegervater sich seinen Schwiegersohn in so kurioser Weise groß und allgemach ans Herz gezogen hat wie Vater Quakatz mich, seinen dicken, braven Heinrich. Und dann der Heckenspatz, dem ich im Getümmel des Kampfes Salz auf den Schwanz gestreut hatte, oder – vielmehr der Schmetterling, auf den ich mit blutender Nase und blauem Buckel die Schülermütze gedeckt hatte. Ja, ja, so einen saubern fängt sich nicht jeder ein, der auf diese Jagd ausgeht! Herrjeh, wie das Frauenzimmer in jenen Tagen aussah! solch ein Bündel, wie meine selige Mutter gesagt haben würde, solch ein vom Regen gewaschenes, von der Sonne getrocknetes, vom Winde zerzaustes, hilfloses, mutterloses, sich selber die Kleider flickendes, sich nach dem Modejournal der roten Schanze selber zusammenkostümierendes Bündel! und mit diesem Hautgout von Blut, Moder und ungesühntem Totschlag, diesem Kienbaums-Geruch an sich! Weißt du, was sie, Frau Schaumann, sagte, als sie mir unten im Grase von oben aus den Zweigen des Birnbaums ihre Birnen zuwarf? Sie meinte: ›Er ist jetzt im Hause, mein Vater, und wenn er dich nicht sieht, ist es mir doch lieb und das beste. Ich weiß es von allen im Dorfe und auch unten in der Stadt, daß er Kienbaum totgeschlagen hat, und ich glaube es nicht. Darauf lasse ich mich totschlagen von euch allen, daß er es nicht getan hat; aber das weiß ich auch, daß er die ganze Welt, und dich auch, Stadtjunge, vergiften könnte. Das glaube ich fest! Er sagt es, daß er alle unsere Hausmäuse und unsere Feldmäuse und die Hamäuse auch gern frei laufen und Schaden tun läßt, weil er euch nicht an den Hals kann.‹ Was konnte ich darauf anders sagen als: ›Tinchen Quakatz! denn sieh nur zu, daß er mich in der Naturgeschichte als Haus-, Feld- und Hamaus mitzählt; denn morgen komme ich noch einmal wieder nach der roten Schanze, wenn ich nicht nachsitzen muß.‹ – ›Mein Vater hat auch sitzen müssen; aber sie haben ihn doch immer wieder freigeben müssen. Sie können ihm mit aller Gewalt nichts anhaben. Es kann keiner beweisen, daß er Kienbaum totgeschlagen hat.‹«


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