Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Er wackelte schwerfällig dem Hause zu, und sein Weib und ich sahen ihm von der Bank aus über die Schultern nach, sahen ihn unterwegs noch einmal anhalten, um seinen Kater zu streicheln, und sahen ihn in der Tür mit der Überschrift: Gehe heraus aus dem Kasten! verschwinden. Dann erst griff die Frau wieder nach ihrem Taschentuch und rief: »Was sagen Sie nun zu ihm? Hier sitze ich nun in der lieben Abendsonne so still und gut, wie er sagt. O ja! und Sie, lieber Herr Freund, sehen es mir auch nicht zu sehr an, wie sehr diese heutige Nachricht mich innerlich aufregt! Ein anderer als wie Sie, der selber so viel durchgemacht hat, würde auch ganz gewiß meinen: dies ist denn doch eigentlich zu arg! und er hätte ganz gewiß nicht unrecht. Aber so ist er nun – meinen Heinrich meine ich. Er erfährt das Wichtigste und Schrecklichste, was Herz und Seele bewegen kann, und läßt dabei seine Pfeife nicht ausgehen. Sagt keinen Laut, bis es ihm paßt! Und ich – ich, meines armen Vaters Tochter, ich habe so eine unruhvolle, schlimme Kinderzeit mit Steinwerfen, Fingernägelkratzen gegen jedermann durchlebt, daß ich mich gern und willig nun in meinen jetzigen Jahren in alles füge und bei seinem Besserverstehen nach nichts frage, sondern auch meine Ruhe behalte, obgleich das eigentlich leider Gottes gar nicht in meiner Natur liegt. Ich weiß es ja wohl, daß wir jetzt, Gott sei Dank, hier auf der Schanze so still für uns hinleben, daß wir für alles Zeit haben. Daß wir für alles die Zeit abwarten können, wo wir uns alles sagen, am Mittage oder um Mitternacht: das Schlimmste und das Beste. Ich kenne auch gottlob jede Fiber in seiner Seele und daß er kein Geheimnis vor mir hat; denn sonst würden wir ja auch nicht so leben, wie wir leben: aber was zu arg ist, ist zu arg! und eine Tochter bleibt doch immer eine Tochter und eine Frau eine Frau, ja und, Herr Eduard, und ein Frauenzimmer ein Frauenzimmer: er kennt Kienbaums Mörder, er kann ihn vielleicht heute schon aufs Schafott bringen, und er hat des Bauern Quakatz Tochter von der roten Schanze zum Weibe und nimmt die Sache so, als stecke er den Kopf aus dem Fenster und sage: ›Schwül genug war's den Tag über, vielleicht gibt es doch ein kleines Gewitter!‹ ... Ich bitte Sie, bester Herr, was sagen Sie hierzu?«

»Daß ihr zwei das glücklichste Ehepaar seid, das sich je zueinander gefunden und ineinander hineingelebt hat! Und daß Stopf- mein Freund Heinrich vollkommen recht hatte, wenn er unter seiner Hecke liegenblieb und hinter uns anderen jungen Narren höchstens dreingrinste, wenn er uns unsere Wege laufen ließ, oder wie wir damals meinten, laufen lassen mußte.«

»Oh, Herr Eduard, nennen Sie meinen Mann dreist auch vor meinen Ohren Stopfkuchen! Den Namen verdient er ebenfalls mit vollem Rechte«, lächelte trotz ihrer Aufregung und durch ihre Tränen Frau Valentine. »Das heißt«, fuhr sie dann aber doch, zärtlich allem Mißverständnis vorbeugend, fort, »daß er das Leben und sein Gutes hastig und gierig in sich hineinstopfe, kann man wirklich auch nicht sagen. O nein, wie er sich die gehörige Zeit beim Essen nimmt, so tut er's auch in allen anderen Angelegenheiten und Dingen. Wir erfahren's ja eben grade zu jetziger Stunde im allerhöchsten Maße! Aber er ist nun einmal so, und daß ihn der liebe Gott so zu meinem Besten erschaffen hat, davon bin ich nicht bloß im großen und ganzen fest überzeugt. Ich hoffe es in meinen stillen, liebsten Stunden gleichfalls, daß ich auch meinerseits so von der Vorsehung, wie ich bin, für ihn gemacht bin, und daß es wohl auch ihm recht einsam und elend in der Welt wäre, wenn er mich nicht darin gefunden hätte! Aber daß wir hier auf der roten Schanze jedermann draußen als ein wunderliches, wunderliches Gespann vorkommen müssen, das glaube ich jedem, der es mir sagt, auf sein Wort, da ich es mir selber oft genug selbst sage ... Liebster Himmel, ist er denn schon mit seinem Anzuge fertig? ohne mich dreißigmal dazu gerufen zu haben, selbst wenn er bloß auf seine versteinerten Knochenexpeditionen gehen will? O Gott ja, ja, auf welche noch ältere und viel schlimmere Totengräberei will er aber auch jetzt gehen?!«

Da war er wieder. Halb Pfarrherr, halb Landbebauer; aber ganz der dicke Schaumann! – Er trug jetzt einen langen, schwarzen Lastingrock, eine aufgeknöpfte Sommerweste, ein loses Halstuch, einen breiträndigen braunen Strohhut und war in seinen hellen Sommerhosen geblieben. Einen derben Gehstock führte er auch mit sich und hatte ihn jedenfalls zu seiner Stütze nötig. Gegenwärtig aber nahm er ihn unter den einen Arm und legte den anderen um sein Weib: »Küsse mich, Andromache, und sieh mir nach von der Mauer von Ilion; aber ängstige dich um Gottes willen nicht um mich. Den hellumschienten Achaier von da unten möchte ich sehen, der es fertigkriegte, Patroklos Schatten zu Ehren und zur Rache, den dicken Schaumann um seinen Burgwall herum in Trab oder Galopp zu bringen. Da hast du noch einen Kuß, und nun laß mich aus deinen Armen. Ich gebe dir mein Wort drauf, ich komme heil und möglichst unverschwitzt wieder nach Hause und bringe dir auch wenn nichts Hübsches, so doch recht Beruhigendes mit. Eduard wird dabei sein, wie ich das Blut bespreche, Kienbaums Manen Genugtuung verschaffe, und auch meinerseits die Erinnyen veranlasse, endlich hübsch die Tür hinter sich zuzumachen und die rote Schanze in Ruhe zu lassen. –«

Ich hatte nun Abschied von der lieben Frau Valentine zu nehmen und natürlich zu versprechen, daß mein erster Besuch nicht der letzte gewesen sein solle. Der Freund schritt mir über seinen verwachsenen Dammweg voran, ohne sich umzublicken; ich aber tat das noch mehrere Male und sah des Bauern Quakatz Tochter auf der Höhe der Kriegsschanze des Prinzen Xaver von Sachsen stehen. Eine tiefe Rührung, doch eine behagliche, überkam mich dabei, und aus vollem Herzen sagte ich: »Die Gute! Sie hat es wahrhaftig wohl verdient, daß sie weich gebettet werde. Heinrich, möget ihr noch lange unter euren grünen Sommerbäumen und an eurem Winterofen sitzen und der Welt ihren Lauf lassen.«

»Amen! und nachher in ein Grab gelegt werden und ein Menschenalter durch spuken gehen und einer respektablen Nachbarschaft zum Überdruß werden«, sagte Stopfkuchen. –

Es begegneten uns bald Leute, die uns erst verwundert anstarrten und, wenn wir an ihnen vorbei waren, stehenblieben, uns nachblickten und sicherlich murmelten: »Jeses, der dicke Schaumann hier draußen?!«

Dieses Aufsehen, das wir machten, nahm zu, je mehr wir uns der Stadt näherten und bürgerliche, städtische Gruppen oder Einzelläufer als Abendspaziergänger uns entgegenkamen.

Einige Male wurden wir nun auch angehalten, und die verwunderte Frage: was ihn denn in die Stadt treibe? wurde dem Freunde in Worten und persönlichst nahegelegt.

»Höflichkeitsgeschäfte! Mein Freund fährt nach dem Kap der Guten Hoffnung nach Hause, und ich bringe ihn bloß ein bißchen auf den Weg. Übrigens hat er auch heute mittag bei mir gegessen.«

Mehr als einmal vernahm ich dann das Wort: »Ist es die Möglichkeit?« ...

War der Tag schön gewesen, so war der Abend wundervoll. Tiefer Friede in der Natur, und die Stadt still und reinlich! Es war immer ein Gemeinwesen gewesen, das auf Reinlichkeit, Ordnung, grüne Bäume auf den Marktplätzen und in den breitern Straßen, auf sprudelnde Brunnen und was sonst hierzu gehört, viel gehalten hatte. Auch die Weltgeschichte, das heißt in diesem Falle der Prinz Xaver von Sachsen mit seinem Bombardement und nach ihm mehrere große Brände hatten das ihrige getan, die Stadt dem laufenden Tage hübsch und wohlerhalten zu überliefern, indem sie manch altes Gerümpel aus dem Wege geräumt hatten. Es war, alles in allem, ein Gemeinwesen, in das man gern abends vom Felde und aus dem Walde nach Hause kam, und in welchem man dreist die Fenster öffnen durfte, ohne sie sofort wieder schließen zu müssen mit dem Ächzwort: »Pfui Deubel, stinkt das heute mal wieder!« –

»Lecker! was?« meinte Stopfkuchen, als wir die zierlichen Anlagen, die sich rund um den Ort zogen, erreichten. »Es mußte dich doch recht anheimeln, Eduard, als du neulich den Fuß wieder hersetztest? Der verwöhnteste Kaffer muß hier Bürgermeister, Magistrat und Stadtverordnete loben! Wie?«

»Jawohl, jawohl!«

»Hm, hm und die Kindermädchen mit den süßen Kleinen da auf den Bänken – alle diese lieben Abendlustwandler und -wandlerinnen. Alles so gemütlich, so behaglich – so – unschuldig! Und nun versetze dich mal in meine Stimmung, wie ich hier neben dir wandele, mit der Macht und eigentlich auch der höchsten Verpflichtung, diese Idylle heute abend noch in den nächsten Band des neuen Pitaval zu bringen! Jawohl, jawohl, hier gehe ich neben dir bis jetzt bloß als der dicke Schaumann durch den Stadtfrieden – wenn sie morgen von ihm aus nach der roten Schanze hinüber- und hinaufsehen, werden sie nur noch vom geheimnisschwangern, sühneträchtigen Schaumann reden und mich den giftgeschwollenen Bauch blähen sehen: Eduard, du ahnst es doch nicht ganz, wie unangenehm mir diese Geschichte mit Kienbaum ist, und wie fürchterlich es mir gegen die Natur geht, daß grade mir die endliche Abwicklung der Sache aufgeladen worden ist! Mir! mir! und noch dazu wenn ich mir dabei vorstelle, was für eine Menge Volks ich im Namen der sogenannten ewigen Gerechtigkeit in das himmlischste Entzücken versetze! Denke dich in meine Nächte, wie ich mir die Leute sämtlich persönlichst in der Phantasie vor die Seele halte und bei jedem einzelnen mich frage: ›Was? Dem zum Spaße? Dem zum Vergnügen? Dem zur Genugtuung?‹ – Du lieber Gott, wenn ich nicht doch auch in dieser Hinsicht eine gewisse Verpflichtung gegen das Herz – ich meine meine Frau, hätte, Eduard! Eine geborene Quakatz bleibt sie ja nun einmal; und so geht es einem hier immer noch in Europa, lieber Eduard, wenn man in anrüchige Familien hineinheiratet.«

Wie die Stadtidylle morgen sich zu dem Körperumfange meines Freundes stellen mochte: mir schwoll er heute schon von Augenblick zu Augenblick mehr über jeglichen Rahmen hinaus. Und wie seine brave, gute, nette, niedliche Frau war ich ihm ohne jegliches Wort und Widerwort verfallen: mußte ihn reden lassen, ließ ihn reden, und wartete jedesmal, wenn er mal aufhörte, mit innerlichster Spannung, daß er wieder anfange, sich gehen zu lassen und zu reden. –

Trotz aller Annehmlichkeit der Heimatstadt vermieden wir sie doch fürs erste: Stopfkuchen führte mich um den »Wall«. Weshalb, sagte er nicht, und ich fragte auch nicht danach. Ich hielt es wirklich allmählich für das beste, mich ruhig in seiner Weise von ihm führen zu lassen.

Dieser Wall, den einst der Prinz Xaverius von der roten Schanze aus beschossen hatte, war jetzt in allerliebste Spaziergänge umgewandelt worden. Teile des früheren Stadtgrabens waren auch noch vorhanden, zu hübschen Teichen auseinandergezogen, umkränzt von Pappeln, Trauerweiden und Lustgebüsch. Es liefen vom Kern der Stadt Haupt- und Nebenstraßen auf diese Lustwege hinaus, und eine der Nebenstraßen führte gleich hinter den Baumreihen und dem Zierbuschwerk auch zu dem Viertel der »kleinen Leute«. Wir nannten das zu meiner Zeit: »Matthäi am letzten«, und es hieß auch wohl noch so.


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