Wilhelm Raabe
Stopfkuchen
Wilhelm Raabe

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Nun war es seltsam, wie sich in dieser Nacht in den Heiligen Drei Königen Vergangenheit und Gegenwart im Bett, Schlaf, Traum und Halbtraum vermischten. Es rauschte und rollte, wie großer Platzregen und schwerer Donner: ich lag im Bett in den Heiligen Drei Königen als Gatte, Vater, Grundbesitzer und großer Schafzüchter am Oranjefluß und lief zu gleicher Zeit mit dem Landbriefträger Störzer als zwölfjähriger Schuljunge im strömenden Gewitterschauer, unter Blitz und Donner über das freie Feld, um Maiholzen, das gute Dorf hinter der roten Schanze, zu erreichen – wenn nicht mit trockenen Kleidern, so doch wenigstens bei lebendigem Leibe.

Erst als der Kellner mit dem Rasierwasser kam, erfuhr ich, daß es wirklich gegen Morgen noch ein heftiges Gewitter gegeben habe, und es war wirklich nichts dagegen zu sagen, daß der junge Mann den höflichen Wunsch äußerte, ich möge »die Sache angenehm verschlafen haben«.

Das wirkliche Gewitter der Nacht hatte ich angenehm verschlafen, oder sein Getöse hatte sich doch so sehr mit dem Rollen und Rauschen der Vergangenheit vermischt, daß ein Unterscheiden von Traum und Wahrheit nicht möglich war. Nun aber hatte ich, ehe der Kellner anklopfte, längere Zeit auf etwas anderes horchen müssen, was ebenfalls in Traumbeschreibungen häufig literarisch vorkommt: die Turmglocken der Heimatstadt. Ich hatte es sechs schlagen hören und halb sieben und sieben. Und dabei, grade bei diesem angenehmsten wachen Liegen und Dehnen und Strecken im Bette und dem Glockenklang dieser Stunden, war mir ein anderes von neuem lebendig in der Seele geworden – süß und schauerig lebendig! Die Stunde nämlich, in welcher man in der Schule zu sein hatte – im Sommer um sieben, im Winter um acht, und, von mir ganz abgesehen, Stopfkuchen schändlicherweise auch! Stopfkuchen! er, den »der ganze Quark gar nichts anging, wenigstens ein Beträchtliches weniger als den ganzen übrigen Cötus zusammen«.

Er fragte wahrhaftig gar nichts danach, was »die Leute« (er meinte die Herren Lehrer) wußten und lächerlicherweise ihm mitzuteilen wünschten. Er war ganz gut so, wie er war, und – kurz und gut, es war eine Niederträchtigkeit, im Sommer um sieben und im Winter um acht »da sein« zu müssen, um sich doch nur mit völliger Verachtung strafen zu lassen; da »alles andere doch nichts half«.

Stopfkuchen! Wahrlich nicht der Kirchenglocken wegen (obgleich er auch den Versuch gemacht hatte, Theologie zu studieren), sondern einzig und allein der Turmuhr halber, stieg er mir nun so hell wie Störzer in der Seele empor, mein Freund Stopfkuchen, mein anderer Kindheits-, Feld-, Wald- und Wiesenfreund Stopfkuchen, den ich nur dann seinen Schritt etwas beschleunigen sah, wenn ihn der alte Konrektor mit der Haselnußgerte im Kreise nicht um die Welt, sondern um die schwarze Schultafel und die ungelöste mathematische Aufgabe jagte.

Ja, zu unserer Zeit kriegte man noch die Prügel, die einem gebührten ... Gott sei Dank! – »Stopfkuchen« nannten wir ihn auf der Schule. Eigentlich hieß er Heinrich Schaumann und war das einzige Kind so dürrer, eingeschrumpfelter, zaunkönighaft-nervös-lebendiger Eltern, daß die in der Stadt nicht unrecht zu haben schienen, die da behaupteten, er habe in einem Kuckucksei gelegen und sei schändlich doloserweise dem Herrn Registrator und der Frau Registratorin Schaumann ins Nest geschoben worden. Wie dem auch sein mochte: sie hatten ihn herangefüttert und ihm zu- und in den Schnabel getragen, was sie vermochten; und es war ihm gediehen.

Und wie ein Zaunkönigspaar seine Freude und seinen Stolz an seinem dicken Nestling hat, so hatten auch Vater und Mutter Schaumann ihren Stolz und ihre Freude an ihrem »Dicken«, und wollten selbstverständlich auch noch nach einer andern Dimension hin etwas aus ihm machen, nämlich etwas Großes. Natürlich einen Pastor, Regierungsrat, Sanitätsrat oder dergleichen.

»Die Sache könnte mir schon passen, Eduard«, sagte Heinrich damals häufig zu mir. »Wenn nur nicht die verdammten Vorstrapazen wären; das schauderhafte Latein und gar Griechisch, und nachher, um einen verrückt zu machen, das Hebräische!« seufzte er dazu und rieb sich nicht selten die Schultern dabei.

»Und die rote Schanze, Heinrich.«

»Die auch, Eduard, obgleich das nur eine Dummheit von euch andern ist. Na, mir ist's übrigens eins, was ihr Esel von mir sagt und denkt! Und dann läßt sich das auch gar nicht in einem Atem nennen: das Gymnasium und Quakatzen seine rote Schanze. Herr du mein Gott, wenn mich einer zum Bauer auf der roten Schanze machen wollte; ich hinge jedes Pastorhaus in der Welt drum an den Nagel und schlüge Kienbaum mit Vergnügen dreimal tot!«

»Aber Stopfkuchen!«

»Jawohl, Stopfkuchen! Nennt mich nur so; ich mache mir auch daraus nichts. Wenn ich Kuchen kriege, so stopfe ich; darauf könnt ihr euch verlassen. Und nochmals, was Quakatzen anbetrifft, so mache ich mir gar nichts daraus, was die ganze Welt über ihn spricht. Meinetwegen kann er Kienbaum sechsmal totgeschlagen haben; darum bleibt er doch der Bauer auf der roten Schanze und hat's am besten in der ganzen Welt. Und übrigens, bewiesen ist ihm ja von keinem Gerichte was, und wenn jetzt die ganze Welt auf ihn hetzt, beweist das gar nichts gegen ihn. Auf mich hetzt auch die ganze Welt, und wenn ihr morgen Blechhammern, euren Herrn Oberlehrer Doktor Blechhammer, irgendwo am Wege abgegurgelt fändet, dann könntet ihr dreist auch mir die Geschichte in die Schuhe schieben und behaupten: ich sei's gewesen und habe mir endlich das Vergnügen gegönnt und meine Rache ausgeübt. Quakatz auf der roten Schanze hat ganz recht, wenn er am liebsten seinen Wall vom Prinzen Xaver her auch lieber mit Kanonen als bloß mit seinen Dornbüschen bespicken möchte gegen die ganze Welt, die ganze Menschheit. Hu, wenn ich mal von der roten Schanze aus drunterpfeffern dürfte – unter die ganze Menschheit nämlich; und nachher noch die Hunde loslassen! Du weißt es, Eduard, und kannst es bezeugen, wie reif ich diesmal wenigstens war. Und sie haben mich doch wieder sitzenlassen und nicht mitgenommen in die Obertertia! Da komme du mal nach Hause und habe Freude an deinen Eltern und sonst am Leben. Na, da soll man wohl zum Eremiten werden und sich hinter seine Kanonen zurückziehen. Da hilft mir nichts als wie die rote Schanze und die Idee, daß ich ihr Herr wäre! Du läufst mit Störzern, Eduard; und ich liege vor der roten Schanze – jeder nach seinem Geschmack – und ich denke mich, mit der ganzen Welt und Schule hinter mir, in sie hinein, und wie mir da das Rindvieh Blechhammer kommen könnte. Hier – sieh mal her, Eduard! daß mich Tinchen Quakatz gestern hier in die Hand gebissen hat, die bissige Katze, das paßt mir ganz. Da soll wohl einer nicht beißen, wenn ihm keiner seine Ruhe lassen will? Übrigens hat die Kröte die Maulschelle, die ich ihr darauf versetzt habe, auch gespürt; und als der Alte dazugekommen ist, hat er jedem von uns recht geben müssen. Spuckt euer Gift aus, hat er gesagt. Es ist besser, als es in sich hereinzufressen, hat er gesagt. Und wenn einer weiß, wie recht er da gehabt hat, so bin ich das. Auf der untersten Bank zu sitzen und zu all Blechhammers Redensarten keinen Muck sagen zu dürfen, das ist zehntausendmal schlimmer, als Kienbaum nicht totgeschlagen zu haben und doch dafür angesehen zu werden. Ja, sieh mich nur so drauf an, Eduard. Du bist auch so einer von denen, die sich stündlich gratulieren, daß sie nicht der Mörderbauer von der roten Schanze oder Heinrich Schaumann sind.«

»Da verkennst du mich aber riesig, Heinrich.«

»Gar nicht, Eduard; ich kenne euch nur. – Alle kenne ich euch, in- und auswendig.«

 

Ich hatte mich rasiert. Nämlich ich rasiere mich selber: da drüben oder da hinten im Kaffernlande könnte man lange auf den Barbier warten, und wenn er einen Vogel Strauß bestiege, um mit seinem Handwerkszeug eiligst von einem Kraal zum andern, von einem Bauernhof zum andern zu reiten und die Kundschaft zu bedienen. Die Sonne stand hell am Himmel und schien mir auf den Kaffeetisch. Ich durfte meinem Wirtshausbett in den Heiligen Drei Königen das Kompliment machen, daß ich trotz allem einen ausgezeichnet guten Schlaf in ihm getan hatte; einerlei, wie es zehntausend andern vor mir darin ergangen sein mochte.

Es war ein schöner Morgen heraufgekommen mit Hilfe des Nachtgewitters. So frisch und licht und leicht in seinem Anfang, daß man die Aussicht auf einen neuen heißen Tag wohl mit in den Kauf nehmen konnte.

»Also der alte Störzer ist tot!« seufzte ich behaglich-wehmütig über dem Kaffeetisch und der neuesten Zeitung, die mir der Kellner mit den Worten gebracht hatte: »Unser Herr schickt sie dem Herrn zuerst, weil er meint, sie interessiere ihn wohl zuerst im Hause, da – Sie so weit aus der Fremde nach Hause kämen. Es hätte diesmal Zeit damit, bis sie in das Gastzimmer zu den übrigen Herren herunterkäme.«

In diesem Worte des höflichen jungen Menschen kam auch wieder ein Stück Bekanntschaft aus alter Zeit zum Vorschein. Es war sehr freundlich von mine host in den Heiligen Drei Königen; aber diesmal verlangte mich nicht gerade allzusehr danach, das Neueste vom Weltgericht, nämlich von der Weltgeschichte, vor die Nase zu bekommen. Ich schob das Tageblatt sehr bald zurück und dachte nochmals:

Der alte Störzer tot! Schade! Den hast du nun also schon durch eigene Schuld versäumt, Eduard. Also nun heute unter allen Umständen nach der roten Schanze zu – Stopfkuchen! ... Wie dies alles doch so wieder aufwacht und auflebt, ohne daß man für seine Person weiter etwas dazu tut, als daß man hinhorcht und hinsieht! Stopfkuchen! Was war mir vor vierzehn Tagen noch viel übriggeblieben von Stopfkuchen – meinem alten närrischen Freunde Heinrich Schaumann, dem guten, dem lieben, dem faulen, dem dicken, dem braven Freunde Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen?

Und nun hatte ich ihn plötzlich wieder ganz! Gerade wie ich den eben gestorbenen Störzer wieder ganz hatte. Und es wäre sehr unrecht von mir gewesen, wenn ich dem ersteren nicht sofort einen Besuch gemacht hätte – jetzt, da es noch Zeit war. Ich hatte es doch eben wieder an dem letzteren erfahren, wie bald man so einen letzten günstigen Augenblick versäumen kann.

Ja, freilich, als wir von der Schule liefen, hätte er, Heinrich, zehntausendmal leben und sterben können, ohne daß ich, eigenen Lebens und Sterbens wegen, einen kürzesten Augenblick Zeit für ihn übrig gehabt hätte.

Wir kamen eben voneinander um die Zeit, wo man am allerwenigsten Zeit füreinander hat. Die heutige Leichtigkeit der Korrespondenz tut da gar nichts zu; denn – wer schreibt heute in der Postkartenperiode noch Briefe?

Ich sehe die ganze zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und ein gut Drittel des neunzehnten den Kopf schütteln und denke an meinem Frühstückstische im Gasthause der Heimatstadt: »Wenigstens einmal hättet ihr euch doch schreiben können – du und dein Freund Heinrich.«

Na, alles in allem genommen und dazu ehrlich gesprochen: was man so nennt, zärtlich hatten wir uns auch im persönlichen Verkehr gegeneinander nicht gehalten. Aber was man, und vorzüglich in jener Lebensepoche, gute Schulkameraden nennt, das waren wir doch gewesen, Stopfkuchen und ich. Wer von uns beiden dem andern dann und wann die meisten Haare ausgerauft, die blauesten Beulen und dickgeschwollensten Augen beigebracht hatte, das mochte heute dahingestellt bleiben. Es kam jetzt darauf an, was die Zeit aus dem dicken, guten Jungen gemacht hatte, ob er sich sehr verändert hatte, und ob er infolge dieser Veränderung imstande war, jetzt ebenfalls, wie seinerzeit der Bauer Quakatz, der ganzen Welt und also auch mir die Pforte der roten Schanze vor der Nase zuzuschlagen; oder ob er nach der gewöhnlichen, verlegen-ratlosen Frage: »Mit wem habe ich die Ehre?« mir beide Hände entgegenstrecken und mit halbwegs dem alten Schulton sagen werde: »Hurrjeses, du bist's, Eduard? nu, das ist aber schön, daß du dich meiner noch erinnerst!«

In Anbetracht, daß er »weit draußen im Felde« wohnte, hielt ich es nicht für notwendig, die durch Sitte und Gewohnheit festgesetzten groß-, mittel- und kleinstädtischen Besuchsstunden innezuhalten, und war gegen neun Uhr morgens auf dem Wege zu ihm.


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