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Da ließ ich mir ein Märchen sagen,
Ein seltsames aus alten Tagen,
Daß, wo ein Wandrer ward erschlagen,
Im düstern Wald, im öden Grund,
Da soll aus des Erschlagnen Mund,
Mit warmem Blut, zu frischem Leben,
Ein weißer Vogel aufwärts schweben.
Er schwebt empor, er schwebt hernieder,
Er sträubt sein glänzendes Gefieder
Und mächtig schmettern seine Lieder,
Wie Schlachtgeschrei, wie Hörnerklang!
So singt er laut die Welt entlang,
Daß alle Thäler ängstlich lauschen
Und alle Bäume zitternd rauschen.
Er singt, daß alle Felsen dröhnen,
Er singt, daß alle Lippen stöhnen
Und alle Herzen wiedertönen,
Und sein Gesang ist Mord! Mord! Mord!
Von Land zu Land, von Ort zu Ort,
Er singt, daß selbst die Sterne hören,
Und Erd' und Himmel sich empören.
Und ob auch unter seidner Decke,
In seines Hauses stillster Ecke,
Der Mörder zitternd sich verstecke,
Die weiße Taube singt ihn wach!
Die weiße Taube fliegt ihm nach,
Und ob die Felsen ihn versteckten,
Und ob die Wogen ihn bedeckten!
Da wird kein Netz, kein Garn gefunden,
Kein Köder will dem Vogel munden,
Kein Pfeil kann seine Brust verwunden,
Er ist bald hier, bald ist er da –!
Und immer fern und immer nah,
Und alle Nächte, alle Tage,
Tönt schmetternd seine Todtenklage!
Bis daß sie den Erschlagnen fanden,
Bis daß ein Rächer aufgestanden,
Bis daß der Mörder liegt in Banden
Und bis sein Blut gen Himmel sprang!
Da wird es still, da schweigt der Klang,
Da sinkt das leuchtende Gefieder
Als Blüthenschnee zur Erde nieder. –
O alte Märchen, alte Sagen,
Wie paßt Ihr doch zu unsern Tagen!
Die Freiheit ist's, die man erschlagen,
Die bleich und stumm im Sarge liegt:
Doch aus dem todten Munde fliegt
Die weiße Taube unsrer Lieder –
O Taube, wann, wann sinkst du nieder? |