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XII

Nachdem Torben Dihmer in sein Waldhaus gezogen war, betrachtete er in noch höherem Maße als zuvor die Welt, die außerhalb der Grenzscheide Favsingholms lag, als einen fremden Erdball, den er einstmals in einem unheimlichen Traum besucht hatte. Um soweit wie möglich auch die Erinnerung daran auszulöschen, las er keine Zeitungen mehr. Er wollte das Recht haben, den Rest seines Lebens zu leben, ohne sich von diesen täglichen Forderungen auf Teilnahme für tausenderlei Dinge beunruhigen zu lassen, die ihm so herzlich gleichgültig geworden waren.

Aber die Welt ließ ihn nicht in Frieden. Sein lustiges Johannesfest halte in die Bewegung gegen ihn unter den Landbewohnern der Umgegend neues Leben geblasen und außerdem den Kirchlichgesinnten ein Ärgernis gegeben. Ein paar von den Randersschen Zeitungen hatten ihn geradezu als gemeingefährliche Person bezeichnet, die in eine Irrenanstalt gehöre. Abermals wurden ihm anonyme Drohbriefe zugesandt, die ihn wissen ließen, daß Favsingholm abgebrannt werden würde, und der neue Pfarrer in Favsingholm hatte von der Kanzel gegen das Sommerfest gewütet und es eine heidnische Orgie genannt, die der Himmel strafen werde.

Er ließ sie reden. Er hatte die Schreihälse der ganzen Welt satt. Namentlich ekelte ihn der Schein des Ernstes an, mit dem die meisten sich schmückten.

Da draußen im Walde hatte er sich drei kleine Zimmer eingerichtet, die nur mit dem Allernotdürftigsten ausgestattet waren. In seiner zunehmenden Geringschätzung für die Güter der Welt, um die man draußen in der Gespensterwelt mit einer so blutigen Gier kämpfte und die man einander nicht gönnte, hatte er seine Lebensgewohnheiten mehr und mehr vereinfacht und eine Befriedigung darin gefunden, entbehren zu können.

Täglich fuhr er mit einem kleinen Einspänner nach Favsingholm hinab, um die Arbeit zu besichtigen, und in der Regel guckte er gleich einmal bei Doktor Gaardbos ein. Der Doktor wie auch Meta hatten ihn sehr liebgewonnen, und er seinerseits freute sich über sie und über ihre Kinder. Oft konnte er eine ganze Stunde allein da draußen im Garten sitzen und sich daran ergötzen, die Kinder spielen zu sehen. Sein Verhältnis zu Paul Gaardbo hatte sich zu einer vertrauensvollen Freundschaft entwickelt. Und geschah es einmal, daß er über den naiven Doktor und seine Lebenslehre lächeln mußte, so war es doch auch seine Überzeugung, daß eine glücklichere Zeit für die Welt anbrechen würde, als er sie selbst erlebt hatte, eine Zeit, wo die Menschen sich mit Schaudern von dem künstlich sterilisierten Dasein, von dieser taghellen Hölle, in der sie sich jetzt geblendet herumtummelten, abwenden würden und ohne Widerspruch das Böse wie das Gute aus dem ewigen Quell des Lebens hinnehmen und Nahrung aus der Dunkelheit wie aus dem Lichte saugen würden.

Er persönlich erwartete nichts mehr von der Zukunft, als was ihm der Augenblick gönnen mochte. Er hatte sich von allen Wünschen und Hoffnungen befreit, die sich über den Tag hinaus erstreckten. Er freute sich über die Blumen in seinem Garten, wo er auch vier Bienenkörbe und eine fruchtbare Stacheligelfamilie zu seiner Zerstreuung hatte. Rings um ihn her sauste der Wald, und im übrigen war er von seinen astrologischen Forschungen in Anspruch genommen, von diesen Fensterausgucken in die Unendlichkeit, über die er mit niemandem sprach, auch nicht mit Paul Gaardbo, der ganz offen die Achseln darüber gezuckt hatte.

Von dem Hause führte ein Pfad zu der einen der beiden tiefen Schluchten, die früher den Wald trennten, und auf deren Grunde ein lebhafter kleiner Bach von Stein zu Stein dahinhüpfte zwischen Adlerfarren und Brombeerbüschen. Hier oben stand eine Bank, die er in dieser Zeit häufig aufsuchte, um im Schutz vor den Herbststürmen zu sitzen. Der Pfad bog von hier aus nach unten zu ab, indem er an dem Rande der Schlucht entlanglief; wo sich diese nach den Wiesen und der Förde zu erschloß, führte der Pfad mittels eines Steges über den Bach, worauf er auf der andern Seite im Walde verschwand.

Jeden Morgen und jeden Abend ging ein Kätner über den Steg auf dem Wege zu und von seiner Arbeit auf Favsingholm. Sonst kam niemals ein Mensch dahin. Torben konnte hier Stunde für Stunde sitzen, ohne etwas anderes zu hören als das kindliche Geplauder des Baches und des Waldes Urgroßmutterreden von den entschwundenen Zeiten. In den ersten Sommertagen war hier ein Vogelchor erschallt, ein Liebesgezwitscher, das alles übertäubte. Jetzt liefen die Amseln lautlos in dem roten Laubboden umher. Hin und wieder schwang sich ein Fliegenschnäpper stumm über die Schlucht auf. Eines Tages drang plötzlich ein eigentümlicher Ton durch das Waldgesäusel. Er konnte sich nicht erklären, was es war. Es klang wie eine Schalmei.

Schließlich entdeckte er ganz unten an der andern Seite des Steges, am Waldesrande nach der Wiese zu, ein ruhendes Menschenpaar, einen Mann und eine Frau, zwei junge Leute auf der Sommerwanderung, soweit er es beurteilen konnte. Sie lag mit dem Kopf in seinem Schoß, und er saß mit einer Flöte vor dem Munde da und spielte eine wehmütig hintönende Melodie.

Dieser Anblick ergriff ihn wie ein Traumbild. Er war in einen Märchenwald hineingeraten und hatte einen Faun und eine Nymphe überrascht.

Es verging eine kleine Weile, dann erhoben sich die da unten. Er sah sie Ränzel über die Schulter werfen. Und nun kamen sie über den Steg auf dem Wege zu ihm hinauf.

In seiner Scheu vor fremden Menschen wollte er aufstehen und sich entfernen. Aber sie hatten ihn jetzt erblickt, und als er das sah, blieb er sitzen.

Es war ein schwergliedriger junger Mann mit einem lederbraunen Gesicht. Das junge Weib, das an seinem Arm hing, sah ein wenig blaß und angegriffen aus.

»Verzeihen Sie – führt der Weg hier nach Favsingholm?« fragte der Mann und blieb stehen.

»Nicht direkt. Sie kommen erst an ein Haus dort am Rande des Waldes. Dann müssen Sie in nördlicher Richtung um den Garten gehen, bis Sie an einen Fahrweg gelangen. Der führt nach Favsingholm.«

»Vielen Dank!«

Sie wollten weitergehen. Aber trotz des halb entsetzten, halb mitleidigen Blickes, mit dem das junge Weib Torben betrachtet hatte, hielt er sie mit einer Frage zurück.

»Wollen Sie jemand in Favsingholm besuchen?«

»Freilich. Sie sind dort vielleicht bekannt?«

»Ach ja.«

»Dann können Sie uns vielleicht sagen, ob Doktor Gaardbo zurzeit zu Hause ist.«

»Er ist zu Hause. Wollen Sie ihn besuchen?«

Die beiden jungen Leute sahen einander an, als schämten sie sich, zu antworten.

»Ja.«

Torben wollte nicht neugierig sein und fragte nicht weiter. Aber am Abend, als Paul Gaardbo nach dem Waldhaus hinauf kam, erzählte er selbst von dem Besuch.

»Er ist mit mir verwandt, aber ich habe den Bengel noch nie gesehen... geschweige denn seine Braut. Ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll. Soviel ich aus ihnen herausbringen kann, ist das junge Mädchen von Hause fortgelaufen, um mit ihm nach Südafrika zu reisen und im Urwalde zu leben. Es fehlte ihnen nur an Geld. Da lasen sie in der Zeitung etwas von Favsingholm, und nun kommt er und bittet, ob er hier nicht Arbeit als Handlanger oder Grabenarbeiter bekommen könne, damit sie heiraten können.«

»Wie heißt der junge Mann?«

»Kjeld Borgen. Seine Mutter war meine Cousine. Er ist Studiosus juris und dreimal durch das Examen gefallen.«

»Aber warum sind Sie böse auf ihn? Das klingt ja alles sehr vielversprechend. Sie haben Ihren ersten Jünger bekommen. Daß es obendrein einer Ihrer eigenen Familie ist, der freiwillig zur Erde zurückkehrt, das würde ich als glückliche Vorbedeutung betrachten.«

»Darf er denn hier bleiben? Wollen Sie ihm Haus und Erdboden geben?«

»Natürlich! Übrigens kenne ich die jungen Menschen schon. Ich habe sie heute nachmittag getroffen, als sie durch den Wald kamen. Das junge Mädchen ist ja allerliebst und hat ein Paar treue Augen. Das letztere ist eine gute Mitgift. Und Ihr junger Verwandter spielt die Flöte sehr schön. Diese Fertigkeit ist meiner Ansicht nach weit mehr wert als ein juristisches Examen. Behalten Sie ihn nur um Gottes willen hier. So einen Spielmann haben wir gerade nötig, jetzt, wo wir dem Winter entgegengehen. Grüßen Sie Ihre jungen Vagabunden von mir; sagen Sie ihnen, ich hieße sie beide willkommen auf Favsingholm.«

Es sollten nicht viele Tage vergehen, ehe Kjeld Borgen Gelegenheit erhielt, sich als Nachkomme des alten Schmieds von Enslev – des Helden von Frederiksstad – zu erweisen. Der Molkereiverwalter von Favsingholm kam eines Abends spät aus Randers heim und spürte Brandgeruch, als er auf den Hof fuhr. Bei einer Untersuchung ergab es sich, daß aus einer Luke in dem westlichen Giebel des Kuhstalles Rauch quoll. Er schlug Lärm und weckte die Leute. Aber schon wenige Minuten später brachen helle Flammen durch das Strohdach.

Um das Vieh zu retten, mußte das Gebäude preisgegeben werden. Dreihundert Kühe und Färsen wurden losgemacht. Ehe die letzten herauskommen konnten, sprangen die Flammen am Dachrücken entlang wie glühende Katzen.

Ein Mann aus dem Favsinger Dorf entdeckte den Brandschein über dem Walde, als er seine Haustür schließen wollte. Gleich darauf läuteten die Kirchenglocken. Die Leute standen aus ihren Betten auf und strömten auf die Straße hinab. Als man sich aber klar darüber geworden war, daß es in Favsingholm brannte, beeilte man sich nicht damit, die Wasserwagen anzuspannen. Die Spritze des Dorfes kam jedoch schließlich in Gang, und nach und nach folgte dann auch ein Teil der Wasserwagen. Aber zu diesem Zeitpunkt war das ganze Gebäude ein prasselndes, knitterndes Feuer. Auch das Schweinehaus war in Brand geraten, und da der Wind auf die hohe, strohgedeckte Scheune an der andern Seite des Hofplatzes stand, war der ganze Wirtschaftshof bedroht.

Vorläufig schwebte die Molkerei in der größten Gefahr. Sie lag quer vor dem Platz und war von dem brennenden Stall nur durch einen Gang getrennt. Sprang das Feuer hier hinüber, so war die Scheune nicht zu retten, und trotz der Entfernung würde dann das Hauptgebäude nicht ganz außer Gefahr sein, infolge der vielen Gerüste, die es zurzeit umgaben. Deswegen wurde alles darangesetzt, die Molkerei zu retten. In dem südlichen Ende, das nach der Brandstätte zu lag, waren Segel über das Schindeldach gespannt, und oben auf dem Dachfirst saß ein Mann mit einem Spritzenschlauch und hielt die Segel beständig unter Wasser. Es waren allmählich Spritzen auch aus andern umliegenden Dörfern gekommen, eine Menge Neugierige waren herzugeströmt, außerdem ein paar Polizisten, Brandvögte und andere Leute, deren Aufgabe es ist, Verwirrung zu verbreiten. Schließlich hatten sich ein paar hundert Menschen um die Brandstätte versammelt. Aber trotz allem, was auf dem Spiel stand, zeigten die Leute keinen Eifer, an der Löscharbeit teilzunehmen, und als ein Befugnisstreit zwischen den Brandvögten und den Spritzenführern entstand, setzten die Pumpen eine ganze Zeit mit der Arbeit aus.

Daß Paul Gaardbo in dieser Veranlassung die Leitung übernahm und sein Mundwerk gebrauchte, trug auch dazu bei, daß viele die Hände in den Taschen behielten. Der Unwille der Bevölkerung hatte sich in der letzten Zeit namentlich gegen ihn gewandt, sowohl weil er ein Fremder war, als auch weil sein offener Charakter und sein bestimmtes Auftreten als eine Art Herausforderung aufgefaßt wurden. Den »Hinketeufel«, wie er rings in der Gegend genannt wurde, betrachtete man als Dihmers bösen Geist, der seine Macht über den kranken Mann mißbrauchte, um wieder eine sklavenhafte Lebensweise auf Favsingholm einzuführen, wo der Arbeitstag jetzt um vier Uhr begann, wo man statt Kaffee oder Tee des Morgens Grütze und des Abends in Milch geschnittenes Brot bekam, so wie die Kettenhunde, wo einem Medizin verweigert wurde, wenn man krank war, und wo sowohl Frauen wie Mädchen ihre Kinder ohne Chloroformmaske zur Welt bringen mußten. Jetzt hatte ein schwachsinniges Individuum sich zum Vollzieher des Volksurteils gemacht und Feuer angelegt. Einer der Molkereieleven hatte ihn zwischen den Strohdiemen gefunden, wo er sich versteckt hatte, um die Wirkung zu beobachten.

Der Mann, der auf dem Dach der Molkerei in einem Regen von Funken ritt, war Kjeld Borgen. Um sich gegen die furchtbare Hitze zu schützen, hatte er ein Tuch vor das Untergesicht gebunden. Zuweilen verschwand er ganz in dem Rauch, den der Wind über ihn hinführte. Aber er hielt stand; und diese Unerschrockenheit machte einen großen Eindruck auf die Menge, die ein paarmal unwillkürlich in laute Rufe ausbrach, wenn ein Funke seine Kleider angezündet hatte. Unten am Fuße der Leiter, auf der er hinaufgeklettert war, stand Grete, die Hand auf der Brust, und erstickte ihre Angstrufe, damit der Laut ihrer Stimme ihm den Mut nicht rauben sollte.

Auf der entgegengesetzten Seite des brennenden Gebäudes wurde gleichzeitig ein anderer Kampf ausgefochten, der ebenfalls viele müßige Zuschauer versammelt hatte. Als man das Vieh im Stall losgelassen hatte, ging das Ausrücken in guter Ordnung vor sich, weil den Tieren vom Sommer her die Gewohnheit noch in den Gliedern lag. Man trieb sie auf die Wiese hinab, wo sie eine Zeit ruhig umhergingen und an dem Gras schnüffelten. Aber von dem Augenblick an, wo der Stall in hellen Flammen stand, wurden sie unregierlich. Von dem Flammenschein geblendet, wurden sie von einer Tollheit erfaßt, von dem Willen, zu sterben, ergriffen. Brüllend rannten sie mit erhobenen Schwänzen umher, um zum Hof zurückzugelangen und sich ins Feuer zu stürzen. Obwohl sie mit Stockschlägen und Geschrei zurückgetrieben wurden, sobald sie sich näherten, durchbrachen mehrere die Absperrung und verschwanden in dem Flammenmeer.

Auf dem freien Teil des Hofplatzes – unbemerkt von den Zuschauern vor dem Molkereigebäude – stand eine einsame Gestalt in einem langen Mantel. Die Hand in der Seite, auf einen Stock gestützt, wie ein Fremder. Es war Torben. Der große Platz und die ganze Umgebung bis hinauf zu den Schornsteinrohren und den Wipfeln des Parks war fast sonnenhell beleuchtet von dem Schein der mächtigen Feuersbrunst. Es war jedoch weniger die Angst, das Haus seiner Väter in Asche gelegt zu sehen, als die boshafte Haltung der Menge, die ihn veranlaßte, sich mit einem fieberhaften Aufflackern aller Willenskräfte aufzustraffen. In gewissem Sinne stand er hier wirklich wie ein Fremder und betrachtete diesen selbstzufriedenen und schadenfrohen Haufen aus einer Entfernung von Tausenden von Meilen. Es war etwas in dieser wilden Flammenglut, das befreiend auf sein Gemüt wirkte. Er fühlte sich auf mächtigen Schwingen gehoben, und das Feuermeer leuchtete vor seinem innern Blick als glückliche Verheißung des großen Weltbrandes, auf den er gewartet hatte – die Sündflut von Feuer, in der ein verdorbenes Menschengeschlecht hinabgewirbelt werden und vergehen sollte!

Es erscholl ein Krachen, als wenn ein Baum gefällt wird. Einer der glühenden Dachsparren, dem Molkereigebäude zunächst, war mit Hilfe von Brandhaken zum Hinabstürzen gebracht worden. Gleich darauf folgten ein paar andere. Nun gelang es auch, den Giebel über das Feuer hinabzuwälzen, und der Funkenregen, der das Dach der Molkerei bedroht hatte, hörte auf.

Noch ein paar Stunden währte das Feuer, aber dank Kjeld Borgens Standhaftigkeit war eine Katastrophe abgewehrt. Ein Sparren nach dem andern sank flammend herab. Schließlich standen nur noch die kahlen Mauern des Stalles gleich einem Wall um das glühende Innere.

Nach und nach senkte sich die Finsternis wieder herab. Die ganze Nacht aber hörte man das Brüllen des obdachlosen Viehes, das draußen auf den Wiesen herumjagte.


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