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V

Als Professor Asmus Hagen am nächsten Tage bei seinem Frühstück saß, brachte ihm der Diener eine Visitenkarte.

»Es ist der Herr, der gestern hier war und seinen Namen nicht nannte. Soll ich den Herrn hereinführen?«

Der Professor besah die Karte, und ohne zu antworten, erhob er sich in freudiger Überraschung und eilte, die Serviette in der Hand, auf den Flur hinaus. Ja, da stand er wirklich!

»Endlich! – Du vielgereister Odysseus. Du hast allerdings die Geduld deiner Freunde sehr auf die Probe gestellt! Komm jetzt aber herein! Ich sitze gerade beim Frühstück. Du hast hoffentlich noch nicht gegessen.«

»Freilich – längst, aber ich kann mich zu dir setzen, um dir keine Zeit zu nehmen. An dem Schild da draußen sah ich, daß du in einer halben Stunde Sprechstunde hast. Wir können dann plaudern, während du ißt.«

»Ein Glas Wein wirst du doch trinken,« sagte der Professor, als sie sich gesetzt hatten. »Ich habe einen ganz leichten Madeira, davon kannst du ein Gläschen trinken, ohne daß es dir schadet. Ich übernehme die Verantwortung.«

»Danke, die Verantwortung behalte ich mir lieber selbst vor, und ich bin nicht im geringsten ängstlich.«

»Dazu hast du auch sicher gar keinen Grund. Du siehst ja aus wie der farnesische Herkules! Laß mich jetzt hören. Wann bist du gekommen?«

»Vor drei Tagen. Ich habe dich übrigens schon mehrmals aufgesucht, daher komme ich zu einer so ungelegenen Zeit. Aber ich wußte also, daß du jetzt zu treffen seiest.«

»Ja, ich arbeite wie ein Pferd! ... Aber laß mich nun einmal hören. Du mußt ja eine Menge zu erzählen haben. Ich habe dir mehr als einmal einen neidischen Gedanken hier von dieser Tretmühle aus nachgesandt.«

»Ein klein wenig von der Welt habe ich ja freilich gesehen. Ich bildete mir ein, daß ich in der Beziehung etwas zugute hätte. Aber meine Neugier ist jetzt völlig befriedigt, und ich freue mich, wieder daheim zu sein.«

»Dann also willkommen!« sagte der Professor und hob sein Glas, um mit Torben Dihmer anzustoßen. »Ich glaube, du bist zu einem glücklichen Zeitpunkt gekommen. Ich weiß nicht, wieweit du den unglücklichen Gang der Dinge hier zu Hause verfolgt hast, aber so viel weißt du doch sicher, daß unsere politischen Verhältnisse sich in völliger Auflösung befinden. Wir stehen wahrscheinlich vor großen Ereignissen.«

»Ich habe es gesehen. Ich fand sowohl in London als auch in Berlin dänische Zeitungen. Ein wenig aus der Sache heraus bin ich aber doch gekommen, zum Beispiel, was ist das für ein Pastor Vestrup, dessen sich ›Der Fünfte Juni‹ so warm annimmt? Das ist doch nicht etwa –«

»Ja! Das ist wirklich dein dicker Freund und ehemaliger Seelsorger. Das ist ›Dreckmads‹ in höchsteigener Person. Lieber Freund, weißt du denn das nicht! Er ist die neueste Belustigung der Stadt, und der gräßliche Kerl ist im Begriff, ein wahrer Prophet des Herrn für die Kopenhagener zu werden.«

»Aber ich begreife nicht. Wie kann ›Der Fünfte Juni‹ –«

»Ich sage dir, daß wir uns im Augenblick in der wildesten Anarchie befinden. Tyrstrup hat sich mit der Geistlichkeit verbunden, und als Gegenzug stellt nun Enslev diesen ausgestoßenen Sündenbock mit einem Märtyrerglorienschein um die Hörner dem Volk vor. Übrigens ist der Mann ja gewissermaßen ein Aufrührer. Mit dem Heldenmut des Ignoranten geht er auf seine früheren Amtsbrüder los und schlägt ihnen die Bibel ins Gesicht. Enslev hat wieder seine taktische Meisterschaft bewiesen. Übrigens wird in der allernächsten Zeit eine Generalverhandlung im Reichstag erwartet. Dann bekommen wir wahrscheinlich neue Wahlen – und einen günstigeren Augenblick, auf dem Schauplatz aufzutreten, kannst du dir nicht wählen. Du kommst mit frischen Erfahrungen von beiden Seiten des Atlantischen Ozeans heim, und wir bedürfen offenbar vor allen Dingen neuer Impulse. Tyrstrup und die andern politischen Dilettanten, von denen wir augenblicklich regiert werden, haben die Selbstregierung in Mißkredit gebracht. Mit Enslev ist nicht mehr zu rechnen. Er ist verbraucht. Falls du mir versprechen willst, zu schweigen, kann ich dir anvertrauen, daß er kaum den Winter überleben wird. Tyrstrup ist und bleibt unpopulär. Überall wartet man auf den neuen Mann, den wirklichen Staatsmann, der das gekränkte Staatsschiff wieder auf den rechten Kiel bringen soll.«

Torben Dihmer, der zurückgelehnt dasaß, die Arme auf dem Tisch und die Hände um sein Glas, sagte nach einer kleinen Pause:

»Den Tag wirst weder du noch ich erleben, Asmus!«

»Was soll das heißen?«

»Ich glaube – um im Bilde zu bleiben –, daß wir uns auf einem Seelenverkäufer befinden, der eines schönen Tages mit Mann und Maus zugrunde geht. Und das kann keine menschliche Macht verhindern. Ich finde es im Grunde ganz vernünftig, daß Tyrstrup jetzt die Männer der Kirche ans Ruder kommen läßt. Wenn ihr Ärzte einen Patienten aufgegeben habt, überlaßt ihr ihn ja auch willig dem Trost der Geistlichkeit und dem übrigen Begräbniswesen.«

»Das klingt nicht ermunternd. Willst du mir nicht einmal ganz bilderlos erklären, was du meinst?«

»Ach nein! Das will ich lieber lassen. Es ist – wie du sagst – kein erfreuliches Thema. Heute hast du auch keine Zeit, mich anzuhören. Nach etwas möchte ich dich allerdings noch fragen. Ich habe zufällig von dem Unglück gehört, das deinen Bruder betroffen hat. Verhält sich die Sache wirklich so?«

»Ja leider! Es verhält sich so!«

»Und Storeholt ist verkauft worden?«

»Ja, er hat alles verloren. Auch den Reichstagssitz, bei dem er in Wirklichkeit sein Vermögen zugesetzt hat.«

»Weißt du was, Asmus, es wundert mich, daß du nach dem Erlebnis so eifrig sein kannst, auch mich in den Hexenkessel der Politik zu stecken.«

»Nein, jetzt hör aber einmal! Du willst dich doch nicht mit einem Narren wie John vergleichen?«

»Und warum denn nicht? Wir haben wahrscheinlich denselben törichten Traum von den Segnungen der Gesetzgebung gehabt. Wir haben die allgemeine Einbildung geteilt, daß mit diesem Sicherheitsapparat von Reichsrat und Staatsrat irgend etwas zum Nutzen der Menschen ausgerichtet werden kann.«

»Den Glauben besitzt du selbst also nicht mehr?«

Torben Dihmer schüttelte den Kopf.

»Nein, das Menschenglück läßt sich nicht auf der Maschine fabrizieren.«

»Willst du damit sagen, daß du die Politik aufgegeben hast?«

»Ja.«

»Welche andern Pläne hast du denn?« fragte der Professor nach einer neuen Pause. »Denn irgend etwas hast du doch vor; wenigstens deutetest du das in deinem letzten Billett an.«

»Ich habe ja mein Gut. Da drüben bekomme ich vorläufig genug zu tun. Seit meines Vaters Tode ist es arg vernachlässigt worden. Und wenn ich von der Ausbeute reden soll, die ich von meiner Reise nach Hause bringe, so müßte das wohl in erster Linie sein, daß ich mich meiner jetzt – so wie Jeppe vom Berge – als ›Bauer und Sohn eines Bauern‹ bewußt geworden bin. An einem Abend in New York war ich ganz krank vor Sehnsucht, wieder eigenen Grund und Boden unter den Füßen zu fühlen. Aber das verstehst du wohl nicht.«

Asmus Hagen hatte den Freund mit wachsender Sorge betrachtet. Worauf seine kurzen Briefe ihn vorbereitet hatten, wurde ihm jetzt bestätigt. Er war nur scheinbar der alte Torben Dihmer. Sein Wesen war verändert. Sein Blick war unruhig und das Lächeln ohne Freude.

»Aber es kann doch nicht deine Absicht sein, dich auf Favsingholm vergraben zu wollen. Davon mußt du doch eigentlich genug bekommen haben.«

»Ich weiß nicht ... Ich könnte mir ganz gut denken, daß ich den Rest meines Lebens da drüben auf dem Gute verbrächte, und zwar ohne gerade in Begräbnisstimmung zu geraten. Wenn ich dir meine Ansicht sagen soll, so glaube ich weit eher, daß ich daheim auf Favsingholm eine Empfindung haben werde, als sei ich zur Sonne und zum wirklichen Leben zurückgekehrt von einer Reise nach dem Totenreich ... Sowohl in Europa als auch in Amerika habe ich wirklich sehr oft ein Gefühl gehabt, als befände ich mich auf einer unterirdischen Folterstätte, wo Millionen von ruhelosen Schatten auf der wilden Jagd nach eingebildetem Glück dahinjagten. – Nun, aber, das war ja das Thema, auf das wir uns nicht einlassen wollten. Und nun habe ich auch genug über mich selbst geschwatzt. Laß mich jetzt auch ein wenig von dir hören! Wie geht es dir? Du warst neulich abend auf dem großen Fest im ›Kasino‹.«

»Ja, ich ging einen Augenblick dahin. Woher weißt du das übrigens?«

»Ich war selbst da.«

»Du?«

»Ja. An dem Abend war ich gerade hier angekommen. Der Portier im Hotel hatte Billetts zu verkaufen, und als ich mich ein wenig von der Reise ausgeruht hatte, bekam ich Lust, dahin zu gehen. Mir ahnte, daß mein ganzer früherer Umgangskreis dort bei dieser Gelegenheit Revue passieren würde, und das stimmte auch wirklich.«

»Aber das habe ich ja gar nicht geahnt! Mit wem hast du denn gesprochen?«

»Mit keinem Menschen. Übrigens hat mich auch wohl niemand erkannt.«

»Das ist sehr wahrscheinlich – nach einer vierjährigen Abwesenheit und mit dem haarigen Untergesicht, mit dem du auftrittst!«

»Auf alle Fälle war es mir vergönnt, eine Stunde ganz unentdeckt in einer Loge zu sitzen und dem Tanz zuzusehen. Es war ganz eigentümlich. Ich saß inkognito da und erkannte selbst fast jedes Gesicht.«

»Welchen Eindruck hattest du denn davon?«

»Denselben wie von der ganzen Stadt. Alles scheint mir völlig unverändert und doch so sonderbar neu. Aber das verstehst du wohl auch nicht. – Ich sah übrigens auch einen Schimmer von deiner Cousine. Sie tanzte mit einem blonden Herrn, den ich nicht kannte. Du solltest wohl doch nicht zufällig wissen, wer das war?«

»Freilich, das war Karsten From – der Porträtmaler. Aber er ist vielleicht erst nach deiner Zeit modern geworden.«

»Willst du mir ausnahmsweise eine indiskrete Frage beantworten? Ist dieser Herr der neue – wie soll ich sagen – Freund deiner Cousine? Er sah fast so aus.«

»Ich weiß nichts. Aber da du mich fragst, so kann ich dir ja gern erzählen, daß von einer Verlobung gesprochen wird.«

Torben Dihmer nickte stumm. Er saß noch immer da, die Arme auf dem Tisch, und drehte an seinem halbgeleerten Glas.

»Ein Künstler also. Das hätte ich am wenigsten gedacht. Er sah übrigens eigentlich auch mehr aus wie ein Artist aus dem Zirkus. Ich hätte im Grunde ein ansehnlicheres Ergebnis einer so langjährigen gewissenhaften Prüfung erwartet.«

Der Professor zuckle die Achseln.

»Ich teile den Geschmack meiner Cousine in diesem Falle auch nicht. Sie ist ein wenig unberechenbar. Aber was soll man dazu sagen. Die Liebe hebt die Vernunft auf. Sie erkennt sie einfach nicht an. Das ist wohl gerade ihr Reiz.«

Torben Dihmer nickte wieder.

»Du hast unbedingt recht. Auf diesem einen Gebiete sind wir Verstandesmenschen glücklicherweise noch inkonsequent. – Aber jetzt kommen deine Patienten,« sagte er, als er es draußen klingeln hörte. »Dann will ich gehen. Wir sehen uns bald wieder.«

Der Professor begleitete ihn hinaus. Auf dem Wege bemerkte er, daß der Freund das rechte Bein ein wenig schwer nachzog.

»Du vergißt doch nicht, deine Pillen regelmäßig zu nehmen?« sagte er. »Du weißt doch, daß du es sofort spüren wirst, wenn du dich in dieser Beziehung nur ein paar Tage vernachlässigst.«

»Ich weiß es,« erwiderte Torben Dihmer ein wenig kurz.


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