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XI

Als Jytte einige Tage später zu ihrer Mutter hineinfuhr, fand sie sie wieder im Bett. Frau Berta sah schlecht aus und trug eine merkwürdige Gleichgültigkeit für alles zur Schau, womit Jytte sie zu ermuntern suchte. Dahingegen begann sie plötzlich und ohne allen Anlaß von Jyttes Vater und den Brüdern zu sprechen.

»Wo glaubst du, daß sie jetzt weilen?« fragte sie.

In dem Kabinett, wo die Mutter sie nicht hören konnte, klingelte Jytte Asmus Hagen an.

Asmus wußte sehr wohl, daß seine Tante Krebs hatte und daß der Zustand hoffnungslos war, aber wie die meisten Ärzte betrachtete er seine Patienten und ihre Angehörigen als unmündige Kinder, die mit leeren Worten hingehalten werden mußten, wenn sie ernste Fragen stellten. Als Jytte ihm sagte, daß es wirklich notwendig sei, etwas Ernstes zu tun, um die Mutter wieder gesund zu bekommen, versicherte er, daß kein Grund zu irgendwelcher Besorgnis vorliege.

Jytte aber war ängstlich geworden, und am nächsten Tage fuhr sie schon am Vormittag in die Stadt, um zu hören, wie die Nacht verlaufen war.

Zu ihrem Erstaunen empfing das Mädchen sie mit dem Bescheid, sie könne nicht in das Zimmer gehen, der Herr Pfarrer sei da ...

»Der Pfarrer?«

»Ja, er kommt um diese Zeit jeden Vormittag hierher. Frau Geheimrat hat gesagt, sie will nicht gestört werden, solange der Herr Pfarrer da ist.«

»Nun ja, dann komme ich später wieder. Ich habe auch noch ein paar Besorgungen zu machen,« sagte Jytte und wollte gehen, als plötzlich eine böse Ahnung in ihr aufstieg.

»Was für ein Pfarrer ist das?« sagte sie. »Wissen Sie, wie er heißt?«

»Ja, es ist Pastor Gaardbo.«

»Wie lange pflegt er hier zu sein?«

»Das ist ganz verschieden.«

»Ist es lange her, seit er gekommen ist?«

»Eine halbe Stunde.«

»Dann will ich doch lieber warten,« sagte sie und ging hinein.

Von dem Mann wollte sie sich nicht vertreiben lassen. Vielleicht hatte er sie obendrein gehört, und er sollte doch nicht glauben, daß sie ihn aus irgendeiner Furcht mied.

Sie setzte sich ins Wohnzimmer und nahm eine Zeitung. Die Tür zur Schlafstube der Mutter war geschlossen, aber sie konnte ihn deutlich da drinnen sprechen hören.

Einmal im Frühling, kurz nach ihrer Heimkehr von der Hochzeitsreise, war sie ihm wieder in der Straßenbahn durch die Bredgade begegnet; und so wie das letztemal hatte er dagesessen und sie von dem andern Ende des Wagens finster angestarrt, ohne zu grüßen. Es war ihr nun eine Befriedigung, daran zu denken, daß die Sachlage ihn diesmal zwingen würde, wenigstens höflich zu sein.

Nach einer kurzen Wartezeit tat sich die Tür zum Schlafzimmer, auf, und Johannes Gaardbo trat von dort herein.

Sie sah, daß eine leichte Röte über seine Wangen huschte, als er sie bemerkte. Im übrigen aber schien er nicht überrascht. Er war offenbar darauf vorbereitet gewesen, daß sie sich einmal hier begegnen würden.

Er blieb stehen und grüßte, näherte sich ein paar Schritte und sagte: »Ich finde, es geht Ihrer Frau Mutter heute besser. Mit Gottes Hilfe wird sie bald wieder in Gang kommen.«

Jytte antwortete nur mit einem Neigen des Kopfes, worauf er sich wieder verbeugte und ging.

Jytte blieb zurück mit einem unsicher« Gefühl, das durch sein verändertes Wesen veranlaßt war. Es hatte eine gewisse Befangenheit in seiner Haltung gelegen. Außerdem hatte es so ausgesehen, als erwarte er, daß sie ihn auffordern würde, Platz zu nehmen. Was führte er im Schilde? Trotz seiner Miene glaubte sie nicht an seine Verzeihung. Der Mann konnte sicher nicht vergessen.

Als sie in das Schlafzimmer kam, lag die Mutter mit der Hand unter dem Kinn da, als schlafe sie. Erst als Jytte fast bis an das Bett gelangt war, schlug sie die Augen auf.

»Bist du es?« sagte sie schwach und sah sie wie aus der Ferne an.

Jytte setzte sich auf den Rand des Bettes, aber es lag eine Welt zwischen ihren Gedanken, und die Unterhaltung geriet schnell ins Stocken. –

Um ein erneutes Zusammentreffen mit Pastor Gaardbo zu vermeiden, wiederholte Jytte ihre Vormittagsbesuche nicht, und da der Zustand der Mutter sich in der folgenden Zeit ein wenig zu bessern schien, während sie selbst sich auf allerlei Weise arg beschwert fühlte, schränkte sie überhaupt ihre Fahrten in die Stadt ein.

Eines Tages erhielt sie zu ihrer Überraschung Besuch von dem dicken Möller. Der asthmatische Mann kam geradeswegs aus der Stadt in einem Automobil gefahren und war sehr enttäuscht, Karsten nicht zu treffen. Er erklärte, er habe ihn mehrmals im Laufe des Tages vergeblich im Atelier aufgesucht, weswegen er geglaubt habe, Karsten sei vielleicht der Hitze wegen zu Hause geblieben. Da es sich um eine sehr wichtige Sache handele, bat er, ihm zu sagen, wo er ihn finden würde. Jytte konnte sich nicht entschließen, zu gestehen, daß sie es nicht wußte, und kam mit Ausflüchten. Nicht mit einem Wort hatte Karsten erwähnt, daß er nicht wie gewöhnlich im Atelier sei. Aber er hatte gewußt, daß sie heute nicht in die Stadt kommen würde; das hatte sie ihm ausdrücklich am Morgen gesagt.

Als sie am Abend bei Tische saßen, fragte sie, wie es ihm in der heißen Stadt ergangen sei; ob er bei der Hitze habe arbeiten können?

»Großartig! Ich habe geschuftet wie ein Sklave!«

Jytte fühlte gleichsam einen Schlangenbiß im Herzen und ward still. Dann erzählte sie von Möllers Besuch, und obwohl Karsten auf die natürlichste Weise lächelte, glaubte sie ganz bestimmt zu bemerken, daß er nervös wurde.

»Viermal ist das Untier bei mir gewesen,« sagte er. »Ich kenne ja sein Klingeln, aber ich wollte ihn nicht einlassen.«

»Warum nicht?«

»Du weißt ja recht gut, weswegen er kommt. Und jetzt finde ich, weiß Gott, daß ich genug in diese Whiskytonne hineingegossen habe.«

Jytte ließ sich einen Augenblick durch die Erklärung beruhigen. Aber noch nach Tische, als sie draußen im Garten saßen, bebte ihr Herz, und da Karsten sich offenbar anstrengte, witzig zu sein, um sie in gute Laune zu versetzen, fragte sie sich selbst: »Betrügt er mich?«

Sie hatte diese Eifersuchtsdramen, die Eheleute vor aller Welt Augen aufführten, immer gleich entwürdigend für beide Teile gefunden und sich selbst gelobt, daß die Tragikomödie ihres Vetters ihr zur Warnung dienen sollte. Vor nicht gar langer Zeit hatte ihr außerdem eine frühere Freundin, Jenny Brammer, mit zornglühenden Wangen anvertraut, daß sie mit Hilfe eines Nachschlüssels den Schreibtisch ihres Mannes geöffnet habe, um Beweise für seine Treulosigkeit zu erlangen. In ihrem Haß gegen ihn hatte sie ihr intimstes Zusammenleben preisgegeben, und zwar mit einer Roheit, daß Jytte sie bitten mußte, zu schweigen. Zwei Tage später aber erhielt sie einen strahlend glücklichen Brief von ihr mit der Erklärung, das Ganze sei ein Mißverständnis gewesen.

Am nächsten Morgen, als Karsten sich in die Stadt begab, stand Jytte dessenungeachtet hinter der Schlafstubengardine verborgen und folgte ihm mit wachsamen Augen durch den Garten. Und es wollte ihr scheinen, daß sein Gang schneller war als sonst, und daß er diese witternde Haltung hatte, die sie nur allzu gut kannte.

Den ganzen Vormittag ging sie gequält umher, und nach dem Frühstück entschloß sie sich, früher als sonst in die Stadt zu fahren und ihn im Atelier zu überraschen.

Als sie mit Hut und Umhang im Zimmer stand, hörte sie ein Automobil draußen auf dem Wege halten. Sie dachte sofort, daß es wohl wieder der dicke Möller sei. Aber als sie Asmus Hagen durch den Gang heraufkommen sah, durchzuckte sie eine Angst.

Sie eilte hinaus.

»Es ist doch nichts mit Mutter?«

»Jetzt mußt du nicht erschrecken,« sagte Asmus. »Ich war zu einem Patienten hier in der Nähe gerufen, und da meinte ich, daß ich doch gleich bei dir einsehen und dich wissen lassen wollte, daß deine Mutter heute gegen Morgen einen Anfall von recht argen Unterleibsschmerzen gehabt hat. Ich habe ihr ein paar Striche Morphium gegeben, daher muß sie jetzt lieber Ruhe haben. Du kannst aber gern hineinfahren und dich nach ihr umsehen, wenn du nur nicht zu lange bleibst.«

Auf dem Wege in die Stadt ließ er sie allmählich verstehen, daß der Zustand ernst sei. Daß die Krankheit Krebs war, sagte er jedoch nicht, und auch Jytte nannte das Wort nicht, aus Furcht, daß ihre dämmernde Ahnung bestätigt würde.

Sie fand die Mutter stark geschwächt nach den Qualen der Nacht. Die Arme lagen ohnmächtig auf der Decke ausgestreckt, und nur mit Mühe hob sie die Augenlider. Den stärksten Eindruck auf Jytte machte jedoch der angstvoll spähende Blick, mit dem die Mutter Asmus' und ihre eigene Verstellung zu durchdringen suchte, und der Ausdruck von Müdigkeit und Lebensüberdruß, mit dem sie das Gesicht abwandte, als Asmus sie munter versicherte, daß sie bald wieder in Gang sein werde.

Eine ältere Pflegerin, die der Vetter geschickt hatte, hielt sich im Krankenzimmer auf. Sie ging mit ihm hinaus, als er sich verabschiedet hatte, und Mutter und Tochter blieben eine Weile allein.

Jytte hatte sich auf den Rand des Bettes gesetzt und die Hand der Mutter ergriffen.

»Was glaubst du, daß mir fehlt?« fragte die Mutter, sobald die andern gegangen waren.

»Du hast dich wohl erkältet, liebe Mutter!«

»Hat Asmus nichts gesagt?«

»Nicht zu mir.«

»Ach nein, ich soll wohl bis zuletzt betrogen werden.«

Die Augenlider schlossen sich, und nun wandte sie sich wieder ab. Jytte wollte sie gern trösten, wußte aber nicht, was sie sagen sollte. Und jetzt schlug die Uhr im Wohnzimmer und erinnerte sie an Karsten. Eine Unruhe befiel sie. Es war fünf. Falls sie sich Hoffnung machen wollte, ihn noch zu treffen, ehe er nach dem Bahnhof ging, konnte sie nicht länger hier bleiben. Sie überlegte, ob sie ihn von hier aus anklingeln sollte, aber auf die Weise würde sie nur erfahren, ob er im Atelier war, nicht, ob er Besuch hatte.

Als die Pflegerin zurückkam, entschloß sie sich, zu gehen. Asmus hatte sie ja auch davor gewarnt, die Mutter zu ermüden.

Frau Berta sah auf und fragte verwundert: »Willst du schon wieder nach Hause?«

»Nein – aber nun mußt du Ruhe haben, liebe Mutter. Ich fahre zu Karsten und komme dann in ein paar Stunden wieder.«

Sie traf ihren Mann, eifrig beschäftigt, vor seiner mächtigen Leinwand und wurde mit einer Unbefangenheit begrüßt, die sie beschämt machte. Und als sie jetzt von ihrer Mutter erzählte und von den quälenden Gedanken, die sie sich über den Charakter ihrer Krankheit machte, befiel sie die Erschlaffung nach den Gemütsbewegungen der letzten vierundzwanzig Stunden wie eine Ohnmacht. Sie brach in ein nervöses Weinen aus und mußte sich auf sein Ruhebett legen. Karsten erschrak. Er kam mit kölnischem Wasser, um ihre Schläfen zu baden, und seine verfahrene Fürsorge rührte sie, so daß sie ihm in Gedanken herzlich Abbitte tat wegen ihres häßlichen Verdachtes.

Nun währte es nicht lange, bis Jytte an den Veränderungen in dem Gesicht der Mutter sehen konnte, daß es zum Tode ging. Als sie den Vetter fragte, bestätigte er es auch, indem er erklärte, daß eine Operation wegen des Sitzes der Geschwulst nicht vorgenommen werden könne. Dahingegen tröstete er sie damit, daß die Mutter kaum lange leiden werde.

Das ging jedoch nicht in Erfüllung. Langsam, im Laufe vieler Wochen, löste sich Frau Berta auf, und der Tod ersparte ihr seine Daumenschrauben nicht.

Jytte hielt sich während dieser ganzen Zeit hauptsächlich in der Stadt auf, und es ließ sich nicht vermeiden, daß sie und Pastor Gaardbo einander hin und wieder in den Zimmern der Mutter begegneten. Sie begrüßten einander jedoch nur im Vorübergehen. Jytte verließ das Krankenzimmer immer, wenn sie ihn klingeln hörte. Aber es gab auch Stunden, wo sie ihn mit Ungeduld erwartete und dankbar war für den Trost, den er der Mutter brachte. Während Frau Bertas schwersten Leiden war seine Nähe fast das einzige, was ihr ein wenig Ruhe verschaffen konnte. Aber wie sonderbar verändert war er auch! In diesem stillen Mann mit dem scheuen Wesen konnte sie oft schwer jenen stolzierenden Dorfapostel wiedererkennen, den sie in Storeholt getroffen und dessen Blick ihr noch vor kurzem mit einem so boshaften Verlangen, zu demütigen, entgegengeleuchtet hatte. Was konnte nur einmal geschehen sein?

Jeden Tag gegen Abend kam Karsten und holte sie ab. Unangenehm berührt von dem Medizingeruch und den Klagelauten, die aus dem Schlafzimmer drangen, schlich er verlegen in seinem pfirsichfarbenen Sommeranzug umher und war ungeduldig, fortzukommen.

Allmählich, als das Zerstörungswerk rings im Leibe der Mutter fortschritt und das Morphium seine Macht über die Schmerzen verlor, lebte Jytte in einem Fieber, das sie aus einer Gemütsbewegung in die andere warf, so daß sie zuweilen fürchtete, den Verstand zu verlieren. Sie hatte noch nie einen Menschen sterben sehen. Ihr Vater war wie von einem Blitz mitten unter seiner Arbeit zu Boden geschlagen worden, und dem Bruder Ebbe war sie wenige Stunden, ehe er sich das Leben nahm, auf der Straße begegnet. Es war bisher auch mehr der Jammer des Lebens als der des Todes gewesen, der sie beschäftigt hatte. Aber was sie in diesen Tagen erlebte, weckte einen stummen Schrei in ihr, einen Schrei des Grausens und der Rache gegen die dunklen Mächte, die ihre Mutter so schändlich leiden ließen, ehe sie aus einem Dasein erlöst wurde, das sie schon im voraus übel gelohnt hatte für alle ihre Aufopferungen. Sie fühlte ihre eigenen Lebensquellen einfrieren, als sie sah, wie der beste und liebevollste aller Menschen Tag für Tag auf der Marterbank des Todes dalag, Glied für Glied zerrissen wurde, gleichsam zur Belustigung eines wahnsinnigen und bluttrunkenen Gottes.

Trotz des schönen Wetters waren sie und Karsten jetzt wieder in die Stadt gezogen, um der Mutter näher zu sein. Bei dem zunehmenden Dunkel der Abende hielt sie es nicht länger aus vor Grauen draußen auf dem Lande, wo sie auch kein Telephon hatten. Dazu kam, daß sie wieder mißtrauisch in bezug auf Karsten geworden war, weil sie eines Tages ein silberblondes Frauenhaar auf einer seiner Jacken fand. Obwohl sie sich in dieser Zeit unwillkürlich gegen alle Eindrücke wehrte, die ihr Gemüt noch mehr aus dem Gleichgewicht bringen konnten, klingelte sie ihn regelmäßig ein paarmal am Tage an, um zu erfahren, ob er im Atelier war. Sie hatte sich nicht entschließen können, ein Polizeiverhör vorzunehmen. Sie wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, ihre Eifersucht zu verraten. Aber sie mußte beständig an ein paar Worte denken, die ihre Mutter früher ihr gegenüber häufig wiederholt hatte, daß in dem Verhältnis zu den Frauen die meisten Männer Gelegenheitsdiebe seien. Und nun gar Karsten, der einstmals ein »Professional« gewesen war! Beständig sah sie das schöne Fräulein Sölling vor sich, das sie auf Sophienlust getroffen und dessen Haar genau dieselbe blonde Farbe gehabt hatte.

Karsten seinerseits war sehr zufrieden mit seiner verfrühten Rückkehr in die Stadt, obgleich er auch hier in Verlegenheit war, was er mit seinen Abenden anfangen sollte. In den Theatern konnte er sich unter den obwaltenden Umständen nicht blicken lassen, ohne Anstoß zu erregen, und noch mehr würde ein Besuch im Tivoli oder im Zirkus den guten Ton verletzen, den zu wahren er sich sehr angelegen sein ließ.

Aber alle diese Selbstentsagung übte unverkennbar einen Einfluß auf seine Laune aus. Wenn er nach der Arbeit des Tages aus dem Atelier heimkehrte und Jytte unzugänglich und finster in der Sofaecke sitzen sah, wurde er selbst melancholisch. Nach Tisch setzte er sich in sein Zimmer, rauchte Zigaretten oder blätterte in einem Buch, während er gähnte, so daß der Stuhl zitterte.

»Gehst du fort?« fragte Jytte immer, wenn er in sein Zimmer hineinging.

Blieb er aber bei ihr, so hatten sie einander nichts zu sagen. Es war nur die Einsamkeit, vor der ihr graute, wenn er sie verließ. In Wirklichkeit sah sie ihn am liebsten nicht, denn er ging so unruhig im Zimmer umher wie ein mondsüchtiger Kater und bemühte sich offenbar zu deutlich, eine schicklich betrübte Miene aufzusetzen.

Frau Bertas Zustand war jetzt derart, daß ein Abschluß jeden Tag erwartet werden konnte. Es war Wassersucht hinzugetreten, und um dem Herz und den Lungen Platz für ihre Funktionen zu schaffen, mußte das Wasser eines Tages abgezapft werden. Drei gefüllte Eimer wurden aus dem Schlafzimmer getragen, ehe die Atemnot gehoben war.

Als Karsten an diesem Tage in der Dämmerung nach Hause kam, fand er Jytte auf dem gewohnten Sofaplatz. Ihr Aussehen beängstigte ihn. Es lag etwas Unheimliches, Versteinertes über ihr. Er setzte sich still neben sie und ließ die Hand behutsam über ihren Arm hinabstreichen.

»Kann denn die kleine Frau gar nicht mehr ein bißchen lächeln?« fragte er.

Gleichsam als erwache sie, lehnte sie überwältigt den Kopf an seine Schulter und schloß die Augen.

»Ich finde, das Ganze ist so trostlos,« sagte sie.

Karsten begann, sie nach besten Kräften zu trösten. Da erhob sie plötzlich den Kopf und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Wo bist du gewesen?« fragte sie.

»Wieso?«

»Was ist das für ein Parfüm, nach dem du riechst? Das ist nicht dein eigenes.«

Er lachte.

»Ach nein, – das ist sehr wahrscheinlich. Ich bin nämlich beim Friseur gewesen. Warum siehst du mich so an? Ist denn etwas Merkwürdiges dabei?«

Jytte erhob sich und blieb mitten im Zimmer stehen.

»Ich habe an etwas anderes gedacht,« sagte sie.

Was hast du denn nur, Jytte? Du bist übernervös. Du bekommst auch nicht genug Schlaf. Du solltest wirklich einmal ernstlich mit deinem Vetter reden und ihn bitten, daß er dir ein stärkeres Pulver verschreibt.«

Sie wandte sich nach ihm und sagte mit einer Drohung im Blick: »Das glaube ich selbst auch.«

Sie ging ins Schlafzimmer, und als sie allein geblieben war, streckte sie die Hände in die Höhe.

»Ach – hätte ich nur den Mut, zu sterben!«

Karsten blieb auf dem Sofa sitzen. Seine Miene war mutlos. Er machte sich ernste Vorwürfe über sein Verhältnis mit Fräulein Sölling. Zuzeiten hatte er fast gewünscht, daß seine Bemühungen der schönen Dame gegenüber nicht mit Erfolg gekrönt worden wären. Auf der andern Seite aber hatte er auch zu seiner Rechtfertigung sich selbst gefragt, ob ein Mann mit einer so schwierigen und launenhaften Frau, die sich obendrein im sechsten Monat befand, nicht schließlich zur Verzweiflung gebracht werden müsse.

Am selben Abend erhielt Jytte wieder einen langen Brief von Meta, die auf irgendeine Weise von der Krankheit der Mutter Nachricht erhalten hatte.

»Es ist ein entsetzlicher Schlag für Dich, liebe Jytte,« schrieb sie. »Und daß er Dich gerade jetzt treffen muß, wo Deine Mutter so viel für Dich hätte sein können! Es tut mir so schrecklich leid für Dich, daß Du nicht aus meinen Gedanken bist. Aber dann denke ich auch daran, daß der Gedanke an das Kind, das Du erwartest. Dir sicher ein großer Trost in dieser schweren Zeit sein wird, und ich bin auch überzeugt, daß Du mitten in Deinem Kummer es selbst als ein großes Glück empfindest, daß Du Mutter sein sollst. Ach, Jytte, wenn ich daran denke, daß Du ein Kind haben sollst, kann ich fast neidisch auf Dich sein. Es gibt doch keine schönere Zeit in dem Leben einer Frau, als die, wo sie ihr erstes Kind erwartet. Ich sehe Dich dasitzen und die winzig kleinen Hemdchen, Nabelbinden und die ganze Liliputgarderobe nähen, an der wir ja alle mit einer noch wunderlicheren Herzbeklemmung arbeiten, als an der Brautaussteuer im Jahre vorher. Als ich Hedwig erwartete, war ich nur zu ungeduldig, die Kleine in meinen Armen zu halten. Weißt Du wohl noch, wie wir in alten Tagen so oft darüber sprachen, wann Kinder am süßesten seien? Du warst für das einjährige Alter, wenn sie so eben anfangen, herumzustolpern und ein wenig zu sprechen. Ich fand dagegen, sie seien am süßesten im Plauderalter. Aber jetzt, seitdem ich selbst Kinder bekommen habe, glaube ich fast, daß sie mir am liebsten sind, wenn sie noch ganz klein und hilflos und gar nicht schön sind, sondern an der Brust liegen, die ganze Warze im Munde, so gierig wie ein junger Hund. Hedwigs Geburt war schlimm genug, das weißt Du, aber ich möchte gern noch einmal leiden, was ich damals litt, und noch zehnmal mehr, wenn ich den Augenblick noch einmal wieder erleben könnte, als ich sie zum erstenmal an die Brust legte.«

Es erging Jytte mit diesem Brief, wie es ihr mit den Schreiben der Freundin zu ergehen pflegte. Dieses Ammenstubengequatsch empörte sie, so daß es ihr schwer wurde, den Brief zu Ende zu lesen. Begriff Meta denn nicht, daß gerade das das Schrecklichste von allem Schrecklichen war, was sich in dieser Zeit ereignet hatte, daß sie einem armen Wesen das Leben geben sollte, in dem sich dieser ganze Jammer fortsetzen würde! Um die Unbefangenheit, mit der Meta selbst die Verantwortung übernahm, ein Kind nach dem andern in die Welt zu setzen, beneidete sie sie nicht.

Von Dihmer erzählte die Freundin auch diesmal mit einer Weitläufigkeit, die sie ihr nur verzieh, weil sie wußte, daß Meta immer noch nichts von seinem und ihrem früheren Verhältnis ahnte. Dihmer hatte nichts verraten. Es würde ihm auch nicht ähnlich gesehen haben, und sie machte sich jetzt Vorwürfe, daß sie jemals Sorge gehegt, er könne einem Dritten anvertrauen, was ein so tragisches Erlebnis für sie beide gewesen war.

In den ersten Tagen des September war die Mutter so schwach geworden, daß ihr das Sprechen schwer wurde. Es war notwendig gewesen, ihr noch einmal das Wasser abzuzapfen, das das Herz aus der Lage drängte und die übrigen Leiden durch eine qualvolle Atemnot steigerte. Hinterher hatte sie mehr Ruhe, aber die letzte Widerstandskraft des Körpers war gebrochen. Johannes Gaardbo hatte ihr vorher das Abendmahl gereicht. Nun lag sie fast immer still da mit geschlossenen Augen und hatte nicht mehr die Kraft, zu jammern.

Jytte fuhr am Nachmittag nach Hause, um einige Stunden auszuruhen. Sie hatte den ganzen Tag am Bett der Mutter gesessen und wollte dort auch in der Nacht zusammen mit der Pflegerin wachen. Als Karsten zu der gewohnten Zeit aus dem Atelier zurückkam, saß sie in einem der großen Stühle vor dem Ofen, der geheizt worden war, weil sie fror.

»Du sitzt hier im Dunkeln?« sagte er.

»Ja, aber du kannst gern anknipsen.«

»Meinetwegen nicht,« antwortete Karsten, der seine Gründe hatte, das Dämmerlicht vorzuziehen. »Es ist gerade so gemütlich. – Wie steht es in der Dronningens Tvärgade? Haben sie deiner Mutter das Wasser abgezapft?«

»Ja.«

Gerade als sie sich zu Tisch setzen wollten, wurde Karsten an das Telephon gerufen. Sein einförmiges »Ja« und »Nein« gaben keinen Aufschluß darüber, mit wem er sprach, und Jytte wollte nicht fragen. Karsten war abersichtlich nervös wahrend der Mahlzeit, und hinterher, als sie beim Kaffee im Wohnzimmer saßen, fiel ihm plötzlich ein, daß er eine Zusammenkunft mit Bjerreby in Anlaß seines Bildes verabredet habe und gleich gehen müsse.

Das war Jytte zu auffallend. Sobald sie ihn die Flurtür hatte schließen hören, stand sie schnell auf, warf ihren Mantel über und band einen Theaterschleier um den Kopf. Sie wollte nicht länger hinters Licht geführt werden.

Einige Augenblicke später stand sie spähend unten in der Haustür und erhaschte einen Schimmer von Karsten, gerade als er unter der Straßenlaterne an der Ecke der Store Kongensgade stand. Sie folgte ihm, machte aber einen großen Bogen um die Laterne herum, um nicht gesehen zu werden. Jetzt sah sie ihn drüben an der Haltestelle auf eine Straßenbahn warten. Zu Bjerreby, der ganz in ihrer Nähe auf dem Toldbodvej wohnte, wollte er also nicht... Er stieg in die erste Straßenbahn, die kam, und da gleich darauf eine andre kam, folgte ihm Jytte auf den Fersen. Jetzt wollte sie Bescheid wissen.

In der Dronningens Tvärgade fuhr sie an den Fenstern ihrer Mutter vorüber, ohne daran zu denken. Sie war nur davon erfüllt, den Wagen vor ihr und die Personen, die ausstiegen, wenn er hielt, im Auge zu behalten. Auf dem Kongens Nytorv, wo die Wagen ungefähr gleichzeitig anlangten, stieg Karsten aus und ging nach einem Droschkenhalteplatz hinüber. Kurz darauf saß er in einem Automobil auf dem Wege durch die Stadt, scharf verfolgt von einem andern Wagen, in dem Jytte verborgen saß, und dessen Lenker sie durch das Versprechen auf ein gutes Trinkgeld zu ihrem Mithelfer gemacht hatte.

In der Vimmelskaftet war ein kleiner Auflauf in Anlaß eines Hundes, der überfahren war. Jyttes Wagen mußte einen Augenblick halten, und als er seine Fahrt fortsetzen konnte, hatte der Lenker den andern aus den Augen verloren. Um aber das Trinkgeld nicht einzubüßen, wählte er aufs Geratewohl eines der vielen vorüberfahrenden Fuhrwerke als Gegenstand seiner Verfolgung, und die Fahrt ging weiter über den Rathausplatz durch die Vesterbrogade und in die Frederiksberger Allee hinein. Erst da draußen in dem dunklen Teil der Allee hielt der erste Wagen, und gleichzeitig hielt Jyttes Gefährt, ihrem Befehl zufolge, in einiger Entfernung davon. Jytte stieg schnell aus, sie war blaß und zitterte am ganzen Körper. Als sie aber statt Karstens eine ganze Familie aus dem Wagen krabbeln sah, Mann, Frau und drei, vier Kinder, wandte sie sich empört an den Automobillenker, der indessen frech versicherte, dies sei derselbe Wagen, den zu verfolgen sie ihm Befehl gegeben hatte.

Jytte war jetzt wie von Wildheit besessen und wollte nicht nachgeben. Um auf die Spur des Fräulein Sölling zu kommen, gegen die sie Verdacht hegte, hatte sie vor einiger Zeit im Wohnungsanzeiger nachgeschlagen und hier mehrere Lehrerinnen dieses Namens gefunden. Eine von ihnen wohnte im Gammel-Kongevej. Sie entsann sich noch der Nummer und beschloß, dahin zu fahren.

Im dritten Stockwerk fand sie eine Tür, die mit Visitenkarten überfüllt war, darunter auch eine mit dem Namen Herdis Sölling. Sie begriff, daß dies ein Pensionat sein müsse, und klingelte nicht. Falls Karsten ein Stelldichein mit einer Dame hatte, konnte es auf alle Fälle nicht hier stattfinden. Aber vielleicht war dies auch gar nicht die richtige. Irgendwo in der Vendersgade wohnte ein andres Fräulein Sölling. Sie entsann sich der Hausnummer nicht genau, aber sie konnte ja auf dem Wege dahin in eine Konditorei gehen und sich den Wohnungsanzeiger geben lassen.

Als sie wieder im Wagen saß, kam sie jedoch zur Besinnung und sah das Hoffnungslose ihrer Verfolgung ein. Der Wagenführer erhielt den Befehl, sie in die Dronningens Tvärgade zu fahren.

Als sie hier – erschöpft und verwirrt – auf dem Flur anlangte, eilten ihr beide Mädchen entgegen und empfingen sie mit einem verzweifelten Ausruf: »Ach, gnädige Frau! ... Wir haben geklingelt und geklingelt.«

»Was ist denn nur geschehen? Wie geht es Mutter?« fragte sie mit einer fürchterlichen Ahnung und eilte ins Schlafzimmer, ohne die Antwort abzuwarten.

In der Tür begegnete sie der Pflegerin, und im selben Augenblick wußte sie, daß die Mutter tot war.

Da drinnen am Bett stand Asmus, der noch im letzten Augenblick gekommen war. Als er die Stimme der Base draußen auf dem Gang hörte, hatte er sich erhoben, um der Toten die Augen, zuzudrücken.

Noch im Mantel warf sich Jytte über die Leiche der Mutter. Die lag mit dem Gesicht nach der Tür zugewandt, als habe sie bis zum letzten Augenblick dahin gestarrt in der Hoffnung, ihre Tochter noch einmal zu sehen.

»Ach Mutter! – Mutter! – Mutter!«


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