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Jytte kam aus dem Atelier ihres Mannes und war auf dem Wege nach der Dronningens Tvärgade, um bei ihrer Mutter einzusehen, der sie täglich einen Besuch machte. Sie hatte diesmal ein besonderes Anliegen. Lydia Bentsen hatte sie am Vormittag angeklingelt. Sie hatte in einer Zeitung gesehen, daß Karsten und sie nach Hause gekommen waren. Und nun wollte Lydia sie absolut auf einen improvisierten Ausflug mithaben in Gesellschaft von ein paar andern Freundinnen und einigen bekannten Herren. Man wollte nach dem Tiergarten hinausfahren und in der ›Eremitage‹ frühstücken, »und dann können wir ja immer sehen, was wir nachher unternehmen«. Obwohl auch Karsten eingeladen war, hatte Jytte sofort nein gesagt, worauf Lydias Ton ein wenig unangenehm geworden war. Sie neckte sie mit ihrer Tugendhaftigkeit und fragte, ob vielleicht die Geschichte mit »dem armen Dihmer« sie so erschreckt habe. Da hatte Jytte sofort abgeklingelt.
Aber nun wollte sie gründlichen Bescheid darüber haben, wie es sich mit Dihmer verhielt. Etwas mußte da ja vorliegen, und die Mutter war die einzige, die sie fragen wollte.
In der Bredgade begegnete ihr Generalkonsul Kolding und Frau. In feierlichem Tempo schritt das üppige Ehepaar Arm in Arm dahin, der Generalkonsul wie gewöhnlich den maschinengeschorenen Kopf unbedeckt, Frau Natalie in Sibyllenstil mit breitrandigem Hut, von dem ein dichter schwarzer Schleier wie eine Mamille über Rücken und Schultern herabhing. Es war ein förmlicher Aufzug.
Jytte wäre gern unerkannt vorbeigeschlüpft, aber das Känguruhlächeln des Generalkonsuls leuchtete schon aus der Ferne von Wiedersehensfreude. Sie wurde gezwungen, stehen zu bleiben und Glückwünsche in Empfang zu nehmen und verschiedene neugierige Fragen zu beantworten.
Frau Natalie legte schließlich die Hand gleichsam segnend auf ihren Arm und sagte: »Ich kann es Ihren Augen ansehen, kleine Frau, daß Sie noch nicht zu unsern Freunden gehören. Habe ich nicht recht?«
»Wie meinen Sie, Frau Kolding?«
»Ich entbehre die wahre, strahlende Lebensfreude im Blick.«
»Ach – Sie denken an das Wellersche System.«
»Nein! Nein!« rief der Generalkonsul mit Angst in der Stimme und sah verstohlen zu seiner Frau hinab. »Du großer Gott haben Sie denn den großen Streit nicht verfolgt? Wir haben vollständig mit den Wellerianern gebrochen. Meine Frau hat in unserm Blatt Weller den Handschuh hingeworfen und der verderblichen Lehre den Krieg aufs Messer erklärt. Wissen Sie das wirklich nicht?«
Jytte entschuldigte sich damit, daß sie erst vor wenigen Tagen aus dem Ausland zurückgekehrt sei, und diese Aufklärung beruhigte offenbar die prophetische Frau, auf deren Wangen die Farbe der Gesundheit und der Lebensfreude einen Augenblick der Blässe des Todes gewichen war.
Nach einer Weile nickte die Dame gnädig Lebewohl, ohne Jytte die Hand zu geben.
Jytte traf die Mutter zu Hause. Sie setzte sich, behielt aber ihre Jacke an. Diese Besuche in dem alten Heim bestanden in der Regel aus hastigen Visiten. Obwohl die Einsamkeit der Mutter und die beängstigende Veränderung, die mit ihrem Aussehen vorgegangen war, Jytte oft bewegten, sich selber anzuklagen, konnte sie dennoch in »der alten Stube« keine Ruhe mehr finden. Es wirkte auch herabstimmend auf sie, die Mutter hier Tag für Tag auf demselben Sofaplatz zu sehen, dies unendliche Strickzeug zwischen den ruhelosen Händen. Es war, als sitze sie da und warte ergeben auf den nächsten Donnerschlag des Schicksals.
Dazu kam noch etwas anderes, das für Jytte die Unterhaltung zu einem vorsichtigen Tasten zwischen Nesseln machte. Schon vor der Hochzeit hatte Karsten behauptet, ihre Mutter besuche die Erbauungsversammlungen in »Bethesda«, wo einer seiner Bekannten sie wiedererkannt haben wollte, obwohl sie einen dichten Schleier vor dem Gesicht gehabt habe. Damals glaubte Jytte es nicht. Jetzt aber machte die Mutter selbst kein Geheimnis mehr aus ihren religiösen Sorgen. Auf ihrem Nachttisch lag in der Regel irgendein geistliches Trostbuch, und statt des »Fünften Juni« hielt sie die neue Zeitung der Geistlichkeit. Ein paarmal hatte sie Jytte auch religiöse Traktate und ähnliche Drucksachen aufgedrängt, die sie sie mit nach Hause zu nehmen und im stillen Kämmerlein zu lesen bat.
Jytte erzählte von ihrer Begegnung mit Generalkonsul Koldings und fragte, was für ein großer Streit es sei, von dem sie gesprochen hatten.
»Ach, so genau kann ich dir das auch nicht sagen. Ich habe den Unsinn nicht gelesen. Die Leute sind ja ganz hysterisch geworden von all dem Gerede von Licht und frischer Luft und Bratäpfeln am Morgen und ich weiß nicht was. Neulich in der Straßenbahn hörte ich eine alte Zierpuppe versichern, die Luft auf dem Harsdorffswege sei gar nicht zu vergleichen mit der auf dem Amalienwege. Sobald sie an die Ecke komme, sagte sie, fühle sie einen Druck vor der Brust, als müsse sie ersticken. So was ist ja zum Lachen und zum Weinen.«
»Wovon handelt denn aber der Streit?«
»Ich weiß es nicht. Aber es gibt ja wirklich ganz vernünftige Leute, die Frau Natalie als eine Wohltäterin der Menschheit betrachten. Man sollte es nicht für möglich halten. Aber dies Systemgefasel ist im Begriff, für viele Menschen heutzutage eine Religion zu werden. Sie haben ja keine andere.«
Um das Gesprächsthema zu wechseln, begann Jytte von ihrem Mann zu erzählen, der sich in seinem neuen Atelier eingerichtet und zu arbeiten angefangen habe.
»Es ist so vergnüglich, zu merken, wie beschäftigt er ist. Er hat nicht einmal Zeit, zum Frühstück nach Hause zu kommen. Er läßt sich einige Speisen aus einem Restaurant schicken. Ich sehe ihn den ganzen Tag nicht.«
»Glaubst du eigentlich, daß dein Mann in dem Wettbewerb siegen wird?« fragte die Mutter.
»Ach ja, wer sollte sonst siegen? Karl May vielleicht. Der könnte auch der einzige sein.«
»Ja, Karl May. Er ist ja ein sehr angesehener Künstler. Ein Genie – sagen die Leute.«
»Hm. Aber zeichnen kann er nicht. Darin muß ich Karsten recht geben, und Porträtmaler ist er auf jeden Fall nicht, und darauf kommt es hier ja an. Deswegen kann er ja aber sehr wohl vorgezogen werden, und es sollte mir für Karsten leid tun, wenn er die große Arbeit vergebens machte. Ich denke namentlich an das Geld. Aus Ehrgeiz sich anzustrengen, hat wirklich keinen Wert.«
Hierzu sagte Frau Berta nichts, und Jytte, die während der ganzen Zeit dagesessen und darüber nachgedacht hatte, wie sie ihre Frage nach Torben Dihmer einleiten sollte, begann nun der Mutter von Meta und ihrem Mann und dem Besuch zu erzählen, den Dihmer ihnen in Jerve gemacht hatte.
Es war das erstemal seit ihrer Verlobung, daß sein Name zwischen ihnen genannt wurde. Frau Berta sah überrascht von ihren Stricknadeln auf, und als Jytte ihren fragenden Augen begegnete, beschloß sie, angriffsweise zu Werk zu gehen, um kein Mißtrauen zu erregen.
»Was meintest du eigentlich damit, was du mir einmal über Dihmer schriebst, – daß es eine traurige Wendung mit ihm genommen habe? Ist er wieder krank geworden?«
»Dann weißt du also nichts?«
Jytte fühlte, wie ihr das Herz stehen blieb.
»Was?«
»Daß Dihmer geisteskrank geworden ist.«
»Geisteskrank?«
»Ja, das ist Asmus' Ausdruck über ihn. Ich habe mein Wissen von ihm.«
Jyttes aufgeschreckte Gedanken jagten umher nach einem Stützpunkt.
»Ich begreife es nicht. Davon hat Meta kein Wort erwähnt. Sie sagte nur, Dihmer habe etwas elend ausgesehen.«
»Ach, diese Art Krankheit kann man den Leuten ja auch nicht immer gleich ansehen.«
»Wie äußert es sich denn?«
»Ich glaube in fixen Ideen. Aber ich habe Asmus nicht näher danach gefragt. Und offen gestanden, Jytte, ich meine, wir beide sollten nicht weiter auf dies Thema eingehen.«
»Warum schriebst du mir denn so, wie du es tatest? Du mußt doch eine Absicht damit gehabt haben.«
»Die hatte ich auch. Ich fand, du dürftest nicht ganz unvorbereitet sein. Es wird ja ziemlich viel über die Sache geredet, und ich glaube, sein Unglück geht vielen zu Herzen.«
»Dann spricht man wohl auch in dieser Verbindung von mir? Schließlich schiebt man wohl mir die Schuld zu?«
»Denn du weißt ja recht gut, Mutter, daß du selbst Dihme merkwürdig verändert fandest. Und du entsinnst dich doch auch daß er sich schon nach vierzehn Tagen getröstet hatte, als wir miteinander gebrochen hatten – oder wie man das nun nennen will.«
»Nun ja, darüber wollen wir, wie gesagt, nicht mehr reden Hoffentlich ist es etwas Vorübergehendes. Das glaubt Asmus wohl auch. Sein Schicksal würde sonst zu grausam sein.« –
Als Jytte nach Hause gekommen war, setzte sie sich an ihren Flügel, um zu üben. Aber das Spiel vermochte ihre Gedanken nicht zu fesseln, und nach einer Weile ging sie ans Telephon und klingelte Asmus an.
Zuerst fragte sie nach einer ihrer Bekannten, die vor einiger Zeit in seiner Klinik gelegen hatte. Dann scherzte sie ein wenig mit ihm in Anlaß ihrer Begegnung mit Generalkonsul Koldings, wovon sie ihm erzählte.
»Ist es wahr, daß Frau Natalie im Begriff ist, eine neue Religion zu stiften?« fragte sie.
»Nun ja, – sie reformiert auf alle Fälle die Wellersche Religion nach den besten konfessionellen Mustern. Ich weiß nicht, ob sie es ausdrücklich erklärt hat, aber man soll wohl ihre kalten Fußbäder am liebsten als eine Art Taufe auffassen, die zu neuer Glückseligkeit wiedergebiert.«
»Aber sie soll ja viele Anhänger haben, sogar unter recht vernünftigen Leuten.«
»Denkst du an die beiden Vettern Hildebrandt – den Etatsrat und den Professor?«
»Was ist es mit denen?«
»Die waren beide eifrige Wellerianer. Jetzt spricht der eine nicht mehr mit dem andern, weil der Professor Frau Natalie ein verschrobenes Frauenzimmer genannt hat.«
»Das ist ja genau so wie in andern Religionen,« sagte Jytte »Aber sage mir, Asmus – wie geht es Dihmer? Ich höre, er ist wieder krank geworden und lebt zurückgezogen auf seinem Gut so wie früher. Verhält es sich wirklich so?«
»Ja – er hat einen Rückfall bekommen,« erwiderte der Arzt in verändertem Ton. »Wer hat dir das erzählt?«
»Unter andern hat Mutter davon gesprochen.«
»Unter andern! ... ach so! Falls man erzählen sollte, daß seine Kur fehlgeschlagen hat, so muß ich protestieren. So verhält es sich nicht.«
»Ist es denn nicht seine alte Krankheit?«
»Freilich, das kann man wohl sagen. Torben hat aus irgendeinem Grunde die Welt in den verkehrten Hals bekommen, und das hat natürlich Einfluß auf seinen Zustand.«
»Aber du glaubst doch, daß er sich erholen kann? Mutter sagte, du meintest, es sei nur etwas Vorübergehendes.«
»Hoffentlich. – Ich habe dir übrigens einen Gruß von ihm zu bestellen.«
»Einen Gruß von wem?« fragte Jytte, die nicht glaubte, daß sie ihn richtig verstanden habe.
»Ehe Dihmer von hier abreiste, bat er mich, dir und Tante gelegentlich seinen Gruß zu bringen. Er sprach von euch beiden mit der größten Freundlichkeit.«
Jytte wagte jetzt nicht mehr, weitere Fragen zu stellen, und bald darauf klingelte sie ab.
Die übrige Zeit des Nachmittags verbrachte sie in einer Sofaecke mit einem Kissen unter dem Nacken. In Gedanken verlebte sie ihre letzte Begegnung mit Dihmer – nicht den eigentlichen Unglückstag selbst, wo sie so nervös und erregt gewesen, daß sie sich kaum entsann, was geschehen war – sondern den Abend vorher: das erste Wiedersehen mit seinen Überraschungen. Da war namentlich eine bestimmte Erinnerung, die sie im verflossenen Jahr beständig verfolgt hatte. Es war der Augenblick nach Tisch im Hotel, wo sie zusammen mit ihrer Mutter und Herrn von Auen in der überfüllten Halle gesessen und ein wenig unruhig geworden war, weil Dihmer sie verlassen hatte. Da stand er plötzlich in der Tür zu einem der Lesezimmer, mit einem Schimmer über dem Gesicht, als komme er aus einer fremden Welt ...
Sie richtete sich auf, als sie ihren Mann den Schlüssel in die Flurtür stecken hörte.
Einen Augenblick später saß Karsten neben ihr auf dem Sofa und nahm ihre Hand.
»Hast du je ein solches Wetter gesehen! Der liebe Gott schüttet seine Winterbetten tüchtig aus! – Aber Liebste, hast du denn gar nicht gesehen, daß es schneit?« sagte er, als Jytte sich nach dem Fenster umwandte. »Was hat denn die gnädige Frau beschäftigt?«
»Ach, ich habe hier gesessen und ein bißchen geschlummert.«
»Deine Hände sind so kalt.«
»Ja, ich glaube, mich friert. Aber wir wollen es schnell warm bekommen.«
Sie trat an den Ofen, und sobald sie den Rücken gekehrt hatte flogen Karstens Augen mißtrauisch im Zimmer umher.
Bei Tisch sprach er davon, daß es jetzt wohl für sie an der Zeit sei, an ihre Bürgerpflichten zu denken und ein paar Mittagsgesellschaften zu geben. Es könne sonst den Anschein haben, als wollten sie sich ganz in die Traulichkeit des häuslichen Lebens begraben ...
»Wen gedenkst du denn einzuladen?« fragte Jytte.
»Vor allen Dingen natürlich deine Mutter.«
»Und wen sonst noch?«
»Deinen Vetter – den Professor.«
»Und dann?«
»Laß mich einmal sehen ... Bjerreby zum Beispiel.«
Jytte sah überrascht auf. Sie wußte, daß Karsten den Menschen nicht ausstehen konnte. Er war ihm wohl einmal bei einem Hahnenkampf um eine Frau in die Quere gekommen. Im selben Augenblick aber dachte sie daran, daß Bjerreby der eigentliche Urheber zu dem Enslev-Bild war und in dem Richterkomitee saß
»Und wen sonst noch?«
»Kannst du nicht selbst jemand vorschlagen?« fragte Karsten.
»Am liebsten ein paar Herren, dann könnten wir die eine Gesellschaft zu einem Herrenmittag machen.«
»Ich weiß in diesem Augenblick niemand. Nenne du deine.«
»Nun ja. Was sagst du zu dem dicken Möller?«
»Wer ist das?«
»Franz Möller – der Schriftsteller.«
»Aber der ist ja ein vollständiger Lump, wie du selbst gesagt hast.«
»Ach – ja. Achtzehn Karat ist er sicher nicht. Aber er ist doch immerhin zu zeigen. Ich glaube, es wird dir Vergnügen machen, ihn kennen zu lernen.«
»Sage es doch lieber ganz offen, Karsten! Du glaubst, daß er nützlich sein kann. Ist er nicht Journalist?«
»Ja. Und er ist in die Redaktion des ›Fünften Juni‹ eintreten. Er ist sogar eine der führenden Federn des Blattes geworden. – Die Gnädige geruht zu lächeln.«
»Ich? Nicht im geringsten.«
»Es hilft nun auch nichts. Wer an dem Tanz teilnehmen will, muß auch die Musik bezahlen. Sieh nur Karl May an! Er muß auch in der Beziehung ein Künstler up to date. Er hat sein Nachrichtenwesen in Ordnung. Er kann nicht von hier nach Roskilde reisen, ohne daß die gesamte Kopenhagener Presse die Trommel rührt. Und glaubst du, daß er die Honneurs gratis hat? Aber das kommt wieder – wie der Bauer sagte, als er seine Schweine fütterte. Seine Bilder sind berühmt, noch ehe sie gemalt sind. Wenn er überall als Genie ausgerufen wird, hat das seinen Grund – weil er bezahlt, was es kostet.«
»Aber hat es denn einen Wert, ihm das Vergnügen zu neiden?« Karsten zog beide Schultern bis an die Ohren hinauf, und sein Gesicht nahm einen melancholischen Ausdruck an.
»Schritt halten – oder krepieren! Diese Losung gilt auch in der Welt der Kunst, ma chère.«
»Ja, du hast sicher recht, wie immer. Früher glaubte ich ja freilich, die Künstler seien ein Zigeunervolk, das in seiner eigenen Welt lebte und dem lieben Gott die Sorge für den morgigen Tag überließ.«
»Ja, die Illusion müssen wir bei dem Publikum erhalten.«
»Das habe ich jetzt auch begriffen. Aber sage mir doch – ist ›Der Fünfte Juni‹ überhaupt ein Blatt, das noch gelesen wird? Ist es nicht vielmehr jetzt dies neue Blatt – das Priesterblatt, wie sie es nennen?«
»Vorläufig führt ›Der Fünfte Juni‹ wohl noch an, auf jeden Fall hier in Kopenhagen. Und wo es sich um Enslevs Angedenken handelt, wird die Ansicht seines eigenen Blattes natürlich ganz besondere Bedeutung haben. Ich bin also dafür, daß wir Franz Möller einladen. Das wird dem Kerl schmeicheln, und wenn du dich nur ein wenig liebenswürdig gegen ihn zeigen willst, kannst du den ganzen Dicksack um deinen kleinen Finger wickeln.«
Jytte hatte den Standpunkt eingenommen, sich nach ihrem Mann in allem zu richten, was seine künstlerische Zukunft betraf. Er sollte keinen berechtigten Grund haben, ihr Vorwürfe zu machen, falls er in der Beziehung Enttäuschungen erlitt. Im übrigen hatte sie bemerkt, daß er seit ihrer Heimkehr auf eine etwas lächerliche Weise angefangen hatte, besorgt über sein bürgerliches Ansehen zu wachen. Sie hatte ein Gefühl, als trüge er sich mit dem Gedanken, eine Rangperson zu werden. Er hatte eines Tages ganz offen erklärt, daß es ihn schmeichele, die erhöhte Achtung zu spüren, mit der er als Schwiegersohn der Geheimrätin Abildgaard begrüßt werde, und daß das Enslev-Bild für ihn das Sprungbrett werden solle, das ihm vor der Nase von Karl May und seiner ganzen Bande Aufnahme in die Akademie verschaffen solle.
Nach Tisch, als sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt waren, nahm Jytte wieder ihren Platz in der Sofaecke ein. Sie hatten auf Karstens Wunsch die Sitte eingeführt, in Gesellschaftstoilette zu Tisch zu erscheinen. Dann konnten sie ohne Vorbereitung gleich nach dem Mittagessen ins Theater oder in ein Konzert gehen.
Als das Mädchen den Kaffee gebracht hatte, ließ sich Karsten auf dem Wolfsfell zu Jyttes Füßen nieder. Hier war sein Lieblingsplatz in dieser Schäferstunde, wo alle Lampen mit Ausnahme einer rotgelben Ampel über dem Blumengarten im Erker ausgelöscht waren. Sein Nacken sank zur Ruhe auf ihr Knie, während seine Hand das seidenbekleidete Bein streichelte. Aber Jyttes Gedanken waren heute in Favsingholm.
»Bei diesem Wetter kann es wohl nichts nützen, dich mit dem Orchesterkonzert zu locken. Aber was meinst du, wenn wir eine kleine musikalische Unterhaltung hier bei uns arrangierten? Du spielst dein Rondo, das du mir schon so lange versprochen hast, und hinterher gebe ich in aller Bescheidenheit ein paar Nummern zum besten.«
»Den letzten Teil des Programmes finde ich vorzüglich. Mich mußt du aber entschuldigen, Karsten. Ich habe in den letzten Tagen keine Zeit zum Üben gehabt. Aber singe du nun!«
»Wenn die Königin befiehlt!«
Er strich zärtlich mit der Hand über den schlanken Spann. Aber als er das Kleid in die Höhe heben wollte, um das spitzenumrandete Knie zu küssen, hielt sie ihn zurück.
»Ich mag das nicht, Karsten,« sagte sie sehr bestimmt. »Sei nun lieb und geh und hole deine Laute.«
Er erhob sich mit einem halb verlegenen, halb gereizten Lächeln, ging in sein Zimmer und blieb ziemlich lange fort.
Als er mit dem Instrument zurückkam, warf er sich in einen der beiden großen Stühle vor dem Ofen und fragte nachlässig, was er singen sollte.
»Wähle selbst, mein Freund! ... Nur nicht das von dem Tambourmajor. Das ist so gewaltsam, und ich habe ein wenig Kopfschmerz.«
»Was darf man denn der Patientin bieten? Jung Helga in dem grünen Wald?«
»Ach, das ist so furchtbar melancholisch!«
»Ja, dann weiß ich wirklich nicht. Gegen meine französischen Kabarettlieder hast du ja im Interesse der Moral Einspruch erhoben. Es ist wirklich nicht leicht, den Geschmack der Gnädigen zu treffen.«
»Dann singe, was du selber willst! Ich will dir keine Schwierigkeiten machen.«
Er stimmte die Saiten.
»Da fällt mir ein ... ich habe ja etwas Neues. Ein englisches Volkslied. ›Der Abschied‹ heißt es. Das ist freilich auch ein wenig traurig, aber die Musik ist gut.«
Nach einem Vorspiel, das ohne Übergang in die Melodie überglitt, sang er mit seinem schönen Baß, der merkwürdig groß und tief war im Vergleich zu seiner Stimme, wenn er sprach:
»Margrete! Ich habe gebaut auf dein Wort.
Ich war so sicher, so selig verblendet.
Nun scheide ich von der geliebten Braut,
Die sich von mir so treulos gewendet.
Lebwohl, Margrete!
Wohl nie war ein Mann so treu wie ich.
Ich liebte dich sinnlos, ach, dir galt mein Sehnen!
Doch du betrogst mich mit Lügensinn,
Mit falschem Lächeln und heuchelnden Tränen.
Lebwohl, Margrete!
Lebwohl, denk manchmal zurück an den Freund,
Der den Frieden gefunden im Schattenlande,
Der lieber verweilt in der Toten Reich,
Als ohn' dich an des Lebens sonnigem Strande.
Lebwohl, Margrete!
Lebwohl, mein Lieb, mein Schmerz, meine Qual!
Reich zum letzten Kuß mir den Mund, den süßen!
Und ich will dich segnen, geliebte Maid!
Will flüstern, wenn schon die Augen sich schließen:
Lebwohl, Margrete!«
Das düstere Nachspiel, in dem man gleichsam ferne Kirchenglocken vernahm, endete mit einem gebrochenen, wilden Klang. Als Karsten aufsah, um Jytte zu fragen, wie ihr das Lied gefallen, erschrak er über ihre plötzliche Blässe. Sie saß mit zurückgelehntem Nacken da und hatte die Augen geschlossen.
»Liebste – was hast du nur? Bist du krank?«
Statt zu antworten, legte Jytte den Kopf auf ihren Arm.
Karsten erhob sich langsam. Einen Augenblick stand er stumm da, die Hand auf der Stuhllehne, und betrachtete sie. Dann näherte er sich ihr mißtrauisch.
»Fehlt dir etwas? Oder was hast du? ... So antworte doch!«
Er packte sie an der Schulter.
»Ach Karsten ... ich bin guter Hoffnung!«
Es folgte ein langes, verlegenes Schweigen.
»Glaubst du wirklich? ... Es ist wohl nur eine Einbildung?«
»Nein, nein, nein! ... Ich weiß es ganz sicher ... es ist zum Verzweifeln!«
Obwohl Karsten fast jedes andere Geständnis vorgezogen haben würde, versuchte er doch, ein paar ermunternde Worte zu sagen.
Da aber erhob sich Jytte heftig.
»Du meinst ja nicht ein Wort von dem, was du sagst!« rief sie und ging in ihr Schlafzimmer.
Karsten folgte ihr nicht. Die Laute in der einen Hand, stand er da und strich sich mit der andern über die Haarwellen der Stirn. Das Unglück, dem er seit ihrem Hochzeitstage mit Angst und Beben entgegengesehen hatte, war nun eine Tatsache. Er hatte sich bisher trunken in der Glückseligkeit der Ehe herumgetummelt, wie ein Schaf im Buchweizenfelde. Und nun diese Donnerbotschaft! Wirklicher Familienvater zu werden! Sein Heim in eine Ammenstube mit Kindergeschrei, Saugflaschen und Geruch von Windeln verwandelt zu sehen! ... Jytte, seine Königin, dahinwatscheln zu sehen mit einer Figur wie eine Rokokokommode! ...