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Frau Berta saß am nächsten Tage allein in der Wohnstube, als das Mädchen mit einem Brief kam. Er war von dem Diener des Ministerpräsidenten gebracht, der Befehl hatte, auf Antwort zu warten.
Sie dachte, es sei die Einladung, und war höchlich verwundert, als sie zwei eigenhändig von dem Minister beschriebene Seiten vorfand; noch mehr aber überraschte sie der Inhalt. Tyrstrup bat sich eine Unterredung mit ihr unter vier Augen aus, und zwar so schnell wie möglich.
»Was konnte das nur sein?«
Sie trat an den Schreibtisch und schrieb hastig die Antwort auf eine Visitenkarte und steckte diese in einen Briefumschlag. Eine halbe Stunde später hielt eine Droschke vor dem Hause, und Tyrstrup stieg aus.
Frau Berta, welche die Zeit voll Unruhe und Spannung zugebracht hatte, nahm ihn selbst im Flur in Empfang und führte ihn ins Wohnzimmer. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, wurde ihr sofort klar, daß etwas Ernstes vorgefallen war. Tyrstrup sah sich um und fragte mit gedämpfter Stimme: »Es ist wohl kein Grund zu der Annahme, daß uns hier jemand hören könnte?«
»Nein, ich bin allein – aber wir können in das Boudoir gehen, da sind wir jedenfalls sicher.«
»Sie werden wahrscheinlich den Zweck meines Besuches ein wenig sonderbar finden,« begann er, als sie Platz genommen hatten. »Ich komme nämlich, Sie um einen ungewöhnlichen Dienst zu bitten. Es handelt sich nicht um persönliche Angelegenheiten. Ich rechne deswegen darauf, daß Sie auf alle Fälle meine Bitte ohne Mißtrauen aufnehmen werden. Die Sache ist die: Ich erhielt vor einigen Stunden ein Schreiben von Enslev durch Direktor Zaun ... ein Schreiben, das er um jeden Preis zurücknehmen muß. Aber nun liegen die Verhältnisse in diesem Augenblick ja leider so, daß keine von den Mitgliedern der Regierung oder irgendeiner unserer Freunde in unserer Partei das Vertrauen des Alten besitzt. Die beiden letzten Male, als ich ihn selbst aufsuchte, wollte er mich nicht empfangen, und ich kann mich einer erneuten Abweisung nicht aussetzen. In diesem Notzustand dachte ich an Sie, Frau Abildgaard, Sie haben ja immer einen großen Stein im Brett bei Enslev gehabt. Ich glaube, daß Sie zurzeit eine der wenigen sind, der er freundliche Gefühle bewahrt hat. Er hat wohl auch nicht die große Treue Ihres Mannes gegen ihn vergessen – und die große Geduld. Ihnen wird er daher nicht mißtrauen.«
»Sie machen mich ganz verwirrt, Tyrstrup! Und Sie irren vollständig. Ich habe nicht den allergeringsten Einfluß auf Enslev. Als ich ihn im Sommer traf, nannte er mich geradeheraus einen Verräter.«
»Trotzdem, Frau Abildgaard. Sie wird er auf alle Fälle empfangen. Und er wird Sie auch anhören. Und ich bitte Sie, zu bedenken, daß es sich darum handelt, eine Katastrophe abzuwehren, die unberechenbare Folgen haben kann.«
»Aber was liegt denn vor? Was steht in dem Schreiben?«
»Ja – hier kommt nun die Schwierigkeit für mich. Ich habe nämlich kein Recht, Ihnen das zu sagen. Der Brief ist an die Parteileitung gerichtet und mir, als dem stellvertretenden Vorsitzenden, überbracht. Aber ich darf doch wohl hoffen, liebe, gnädige Frau, daß Sie mich nicht imstande halten, ein Vertrauensverhältnis zu mißbrauchen. Falls ich nicht vollkommen sicher wäre, daß Sie meinen Standpunkt in dieser Sache in allem billigten, wäre ich natürlich nicht zu Ihnen gekommen. Um was ich Sie bitten soll, ist im übrigen nur, daß Sie zu Enslev gehen und ihn in meinem Namen ersuchen, noch einmal die Folgen von ... von dem Schritt zu erwägen, den zu tun er sich also entschlossen hat, um uns zu treffen. Es ist traurig, es sagen zu müssen, aber Enslevs Unbeherrschtheit hat ja mit den Jahren in bedauernswerter Weise zugenommen. Sie äußert sich zuweilen derartig, daß man unwillkürlich daran denken muß – was jetzt wohl auch ganz klar erwiesen ist –, daß einige Tropfen Zigeunerblut in seinen Adern fließen. Aber ich kann trotzdem nicht glauben, daß er, wenn er sich der Verantwortung voll bewußt wird, sich nicht bedenken sollte, die Ruhe und Wohlfahrt des Landes aufs Spiel zu setzen, um ein persönliches Rachegefühl zu befriedigen – oder was es nun sein mag, das ihn zu einer so ungeheuerlichen Übereilung bewogen hat.«
Frau Berta saß da, den Zeigefinger unter dem Kinn, und sah mutlos aus.
Sie hatte in den letzten Jahren oft gewünscht, die Kraft eines Mannes zu besitzen und die Fähigkeit, zu den Massen zu reden. Sie wollte da auf alle Märkte hinausschreien, daß die Zeit aus den Fugen sei und zur Vernunft gebracht werden müsse. Sie wollte namentlich die Jugend anrufen, um sie zur Selbstbesinnung zu wecken. – Und jetzt, wo es sich nur darum handelte, zu einem alten Freund zu gehen, um ihm zur Vernunft zu reden, stellten sich sofort alle möglichen Bedenken ein.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll, Tyrstrup! Meine Ansicht über Enslev kennen Sie. Daß es ein Unglück für ihn selber wie für das ganze Land ist, daß er sich nicht in seinem ›Fredsholm‹ zur Ruhe gesetzt hat, darüber haben wir früher gesprochen, und in dem Punkt sind wir ganz einig. Aber wir haben Leute in der Partei, deren Botengänger ich nicht sein möchte. Am allerwenigsten, wenn es sich um Enslev handelt.«
»Ich verstehe, an wen Sie denken, aber gerade der Einfluß dieser Männer wird in einer kriegerischen Lage ungeheuerlich wachsen, folglich handeln Sie auch in dieser Beziehung nicht gegen Ihre eignen Wünsche, wenn Sie sich dieser Mission unterziehen. Es ist von einer gewissen Seite der Partei zu heute abend eine Privatversammlung einberufen, und ich habe versprechen müssen, dort zu erscheinen. Hier werde ich gezwungen sein, Enslevs Demonstrationen zu verkünden, falls er nicht vorher zur Vernunft gebracht werden kann. Ich muß Sie daher leider bitten, ohne Zögern zu handeln.«
»Eine Versammlung? Ich habe bemerkt, daß Gjärup in der letzten Zeit sehr tätig gewesen ist. Das hat nichts Gutes zu bedeuten... Und eine Privatversammlung? Das klingt wunderlich! Fast wie eine Verschwörung. Und Sie haben versprochen, zu erscheinen?«
»Ich habe meine Gründe.«
Ihre Augen begegneten sich unwillkürlich; und als der Ministerpräsident darauf die seinen niederschlug, legte Frau Berta die Hand auf seinen Arm und sagte mit wehmütiger Vertraulichkeit:
»Es ist wirklich ein Glück, Tyrstrup, daß ich Sie so genau kenne, sonst würde wohl auch ich anfangen, bange vor Ihnen zu werden. – Sie sind ein mutiger Mann! Man sollte fast glauben, daß Sie nicht wüßten, was die Leute von Ihnen denken. Sie gehen so ruhig unter uns umher, als seien Sie es gar nicht, den man für einen etwas gefährlichen Herrn hält, eine ziemlich zweideutige Persönlichkeit, die am liebsten das Mäntelchen nach dem Winde trägt.«
»Es sollte mir wohl schwer werden, das nicht zu bemerken,« erwiderte er mit seinem müden Lächeln. »Sehe ich mich doch täglich in dieser Figur in den meisten Blättern dargestellt. Aber wenn es nur gelingen könnte, das Land glücklich über die Krise dieser schweren Zeit hinwegzubringen, so will ich mich nicht beklagen. Eine etwas nachsichtigere Beurteilung meines Charakters und meiner Fähigkeiten könnte ich mir freilich der Sache wegen wünschen. Unter diesen Verhältnissen wird es immer schwieriger für mich, die blutdürstigen Köpfe innerhalb unsrer eignen Fraktion zu regieren. Gjärup ist nicht der einzige, der mit einem Messer im Ärmel herumgeht. Enslevs Striger Rede rächt sich jetzt. Aber ich glaube, daß wir uns augenblicklich an einem Wendepunkt befinden. Geht die Partei unbeschädigt aus dieser Prüfung hervor, so wird der Sammlungsgedanke siegen, und wir dürfen dann wieder auf eine reiche und glückliche Zukunft hoffen.«
Er hatte sich erhoben und ihre Hand ergriffen.
»Dann wollen Sie also zu Enslev gehen, nicht wahr? Ich setze jetzt alle meine Hoffnungen auf Sie.«
»Ich habe keinen großen Glauben daran, daß ich etwas auszurichten vermag ... aber ich habe nicht den Mut, nein zu sagen. Ich will mein Bestes tun, das verspreche ich Ihnen!«
»Haben Sie Dank!«
An der Tür wandte er sich um und sagte:
»Darf ich Sie nur noch einmal daran erinnern, daß die Sache Eile hat. Bis sechs Uhr muß ich die Antwort haben und werde mir gestatten, Ihnen zu der Zeit meinen Diener zu senden.« –
An Enslevs Tür wurde Frau Berta zuerst von Mamsell Jensen mit dem Bescheid abgewiesen, der Herr empfange nicht. Als sie aber ihre Karte hineinschickte, wurde sie sofort eingelassen.
Enslev war versuchsweise aufgestanden. Er saß im Schlafrock, ein Plaid über die Beine, am Fenster seines Arbeitszimmers in der Sonne. Er hatte sogar eine seiner großen Zigarren im Munde, und der Rauch umwallte ihn in bläulichen Wirbeln. Als sie ihn so friedlich in der Sonne dasitzen sah, wie einen alten Rentier, blieb Frau Berta einen Augenblick stehen. Der Gegensatz zwischen diesem Anblick und ihren eigenen unruhigen Gefühlen verwirrte sie. Es war so unfaßlich, daß dieser kleine, weißhaarige und hilflose Mann Enslev war, der Tyrann, vor dem Freunde und Feinde in einem ganzen Menschenalter gezittert hatten und dessen Ja und Nein noch in seinem Alter eine Macht besaß, die das Schicksal des Volkes lenkte.
Er wollte aufstehen und ihr entgegengehen, aber sie hinderte ihn daran und bat ihn, sitzen zu bleiben. Dann rollte sie sich selbst einen Stuhl durch das Zimmer und setzte sich ihm gegenüber.
»Wie Sie sehen – Sie finden mich halb im Negligé,« sagte er. »Mein Arzt erlaubt mir nicht, Besuch zu empfangen. Mit Ihnen habe ich also eine Ausnahme gemacht. Es ist so selten, daß ich das Vergnügen habe, Sie zu sehen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Enslev, daß Sie mich hereinkommen ließen. Es war sehr liebenswürdig von Ihnen. Ich habe ja gehört, daß Sie leider wieder unwohl gewesen sind.«
»Nichts von Belang. – Aber ich möchte Sie gleich bitten, mir eine Vergünstigung zu gestatten. Wollen Sie mir erlauben, die Rücksicht auf die Anwesenheit einer Dame außer acht zu lassen und mit dem Rauchen fortzufahren? Diese gute Zigarre hatte ich gerade angezündet, als Sie kamen, und da es die erste nach dreitägiger Enthaltsamkeit ist, werden Sie verstehen – – –«
»Es bedarf keiner Entschuldigung. Es freut mich, daß der Tabak Ihnen schmeckt. Das ist ja immer das sicherste Zeichen, daß sich ein Mann wohlbefindet.«
»Sie sind zu gütig, Frau Abildgaard!... Aber ich danke Ihnen.«
Sein Blick und sein Ton machten Frau Berta unsicher. Sie hatte sich unterwegs auf das vorbereitet, was sie sagen wollte, fühlte nun aber auf einmal alles schwanken. Um ihre Gedanken zu sammeln, sprach sie eine Weile über gleichgültige Dinge, bis Enslev, der verstummt war, sie auf einmal unterbrach.
»Soll ich Ihnen den Übergang erleichtern?«
»Wie meinen Sie?«
»Ich weiß, weswegen Sie zu mir gekommen sind.«
»Sie wissen es?«
»Ja. Das heißt, ich habe es erraten. Als man mir Ihre Karte brachte, war ich mir gleich darüber klar, daß Sie als Gesandtin hierher kamen, als außerordentliche Bevollmächtigte. Sie sehen mich so erstaunt an, aber es ist kein Grund, meinen Scharfsinn zu bewundern. Tyrstrup hat allmählich selbst seine Dachsnatur enthüllt. Es sieht ihm so ähnlich, daß er eine Dame überredet, seine unangenehmen Botengänge zu übernehmen.«
»Sie haben keine Berechtigung das zusagen, Enslev. Ich weiß, daß Tyrstrup Sie zweimal aufgesucht hat, aber Sie haben ihn nicht empfangen wollen.«
»Ganz recht. Mit einem Feind verhandele ich nicht unter vier Augen, sondern nur in Gegenwart von Zeugen und am allerliebsten vor der Öffentlichkeit. Ich teile Tyrstrups Vorliebe für diese kleinen Tete-a-tetes und die liebevollen Überredungen in Sofaecken nicht. – Also: Sie sind hier in Veranlassung des Briefes, den ich dem Ministerpräsidenten geschickt habe. Dann hat er Ihnen auch wohl den Inhalt des Briefes mitgeteilt?«
»Nein, dazu glaubte er sich nicht berechtigt.«
»Welch ein Feingefühl! Ja, Tyrstrup ist der edle und rechtschaffene Mann bis in die Fingerspitzen! Die personifizierte Apotheose der Bravheit!... Übrigens weiß ich nicht, was diese Geheimniskrämerei bezwecken soll. Morgen können doch alle meinen Brief im ›Fünften Juni‹ lesen. Darin teile ich übrigens nur mit, daß ich infolge der mehr oder weniger gut maskierten politischen Reaktion, die jetzt die Macht in der Partei hat, bitte, mich von der Ehre zu entbinden, ihr Vorsitzender zu sein.«
Frau Berta nickte vor sich hin und sagte: »Ich habe mir wohl gedacht, daß es das sein müßte.«
»Ja. Und gleichzeitig teilte ich mit, daß ich beschlossen habe, aus der Partei auszutreten.« Das wurde ganz leichthin gesagt, aber Frau Berta war es, als wenn der Himmel einstürze.
»Das haben Sie nicht getan, Enslev! Das können Sie nicht wollen! Austreten ... aus der Partei, die Sie selber mitgeschaffen haben. Der man nun ein ganzes Menschenalter hindurch Ihren Namen gegeben hat!«
Enslev antwortete nicht. Und um zu unterstreichen, daß er unzugänglich für Beeinflussung in dieser Sache war, lehnte er sich hintenüber in den Stuhl und paffte kräftig seine Zigarre. Es blieb eine ganze Weile still.
»Enslev, einstmals sah ich der Zeit, in der wir jetzt leben, als einem goldenen Zeitalter des Friedens und der Menschenliebe entgegen, das zu erleben ein großes Glück sein würde. Ich kann mich noch entsinnen, daß Sie selber einmal in einer prächtigen Tischrede meine Kinder beglückwünschten, weil sie unter dem Zeichen der Freiheit zur Welt gekommen seien, zu einem Zeitpunkt, wo die dänische Jugend – wie Sie sich ausdrückten – ›die ersten reifen Früchte von dem Baum der Erkenntnis in seiner freien Entfaltung pflücken könnten‹. Welch Glück für die Meinen daraus entsproß, darauf will ich hier nicht weiter eingehen. Aber ich muß oft daran denken, wie Sie jetzt in Ihrem innersten Innern das Ergebnis der Entwicklung wohl beurteilen mögen. Es war ja doch ein ganz anderes Glücksland, von dem Sie in der Begeisterung Ihrer Jugend träumten – und auf das zu hoffen Sie so viele andere bewogen.«
Enslev hatte sie mit seinem wildesten Hohn im Blick angehört.
»Die Entwicklung!« wiederholte er spöttisch. »Wenn Sie an den feigen und lumpigen Verrat denken, dessen Zeuge wir jetzt sind, so haben Sie natürlich recht. Von einem goldenen Zeitalter solcher Erbärmlichkeit habe ich damals ›nicht geträumt‹ – wie Sie sich so echt weiblich ausdrücken. Nicht in meinen unheimlichsten Phantasien haben mir frömmelnde Meerkatzen von Propst Brobergs Kaliber als Ergebnis der Entwicklung vorgeschwebt. Ich war damals bestrebt, ein schlummerndes Volk zu wecken, und es zu dem freiesten und männlichsten in der Welt zu machen. Ich wollte versuchen, in diesem kleinen Greisenlande eine neue Jugend zu schaffen ... Aber es widerstrebt mir, mehr darüber zu reden. Nur das will ich Ihnen sagen, Frau Abildgaard, was ich am allerwenigsten erleben zu müssen geglaubt habe. Nämlich, daß Sie, die mit meinem vieljährigen Freund und politischen Mitarbeiter verheiratet waren, es für passend halten würden, sich meinen Feinden zur Verfügung zu stellen, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo alles feige Lumpengesindel im Lande sich gegen mich zusammenrottet. Ich hätte darauf schwören mögen, daß ein solcher Undank unmöglich wäre, und er ist mir eine bittere Enttäuschung.«
Er hatte während dieses Ausbruches die halbausgerauchte Zigarre in den Aschbecher geworfen, als errege sie ihm plötzlich Übelkeit.
Frau Berta schüttelte verneinend den Kopf.
»Sie irren, Enslev. Sie werden nie erleben, daß ich die Botengänge Ihrer Feinde gehe. Aber Sie sind reichlich mißtrauisch gegen Ihre Feinde geworden. Das habe ich Ihnen übrigens schon früher gesagt. Erinnern Sie sich noch der Unterredung, die wir im Sommer miteinander führten? Es war am Tage nach der großen Striger Versammlung. Sie ließen mich damals hören, was Sie mein Schwarzsehen in bezug auf die Entwicklung nannten, und als ich versuchte, Ihnen meine Besorgnisse zu erklären, wandten Sie mir das taube Ohr zu. Deswegen dachte ich hinterher, daß ich die Verhältnisse vielleicht wirklich zu schwarz gesehen habe. Aber was ich seitdem erlebte, hat mich nicht beruhigen können. Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß wir einer fürchterlichen Katastrophe entgegengleiten. Mit meinen persönlichen Sorgen und Leiden will ich Sie – wie gesagt – nicht belästigen. Nur eins möchte ich erwähnen. Unsere Unterredung fand ja auf Storeholt statt, und wie Sie vielleicht wissen, ist jetzt Haus und Hof und alles, selbst die alten Zimmereinrichtungen, in fremde Hände gekommen, und das Heim meiner Kindheit ist für mich verschlossen. Es war ein Verkauf im letzten Augenblick, um Pfändung und Zwangsauktion zu verhindern. Ich schiebe meinem Neffen nicht die ganze Verantwortung für das Elend zu. Ich weiß sehr wohl, daß es schon zur Zeit meines Bruders – und vielleicht schon früher begann.«
»Es ist also eine alte Geschichte,« sagte Enslev ungeduldig. »Ich weiß nicht, warum Sie mir das alles erzählen.«
»Ach ja, denn ich finde, daß diese traurige Geschichte von einem alten Familiengut, das seit mehr als hundert Jahren das Heim meiner Familie und gewissermaßen ein Heiligtum für sie gewesen ist, und das jetzt durch leichtsinnige Sorglosigkeit und Verschwendung in die Hände eines Mannes wie Großhändler Söholm gelangt ist – ich finde, daß diese traurige Geschichte ein Sinnbild unsers ganzen selbstverschuldeten Elends ist. Glauben Sie mir, Enslev – ringsumher im Lande sind viele, die in diesen Zeiten das bedrückende Gefühl der Heimatlosigkeit haben wie ich ... viele, die da sitzen und frieren bei dem unheimlichen Gedanken, was die Zukunft uns bringen wird!«
»Wer ist denn dieser Söholm?« fragte Enslev, um von dem Thema fortzukommen. »Ist er nicht Kaffeehändler? Und ist er nicht der Schwiegervater Ihres Neffen?«
»Er ist ein ganz gewissenloser Mensch, der keinen andern Lebenszweck hat, als Geld zu verdienen. Sie sprachen vorher von der Jugend und was Sie von ihr erwartet hatten. Wollen Sie mir aber sagen, wie soll die junge Generation zu Verantwortungsgefühlen erweckt werden, wenn Leute von dieser Art unangetastet umhergehen dürfen und sogar von der Gesellschaft geehrt, ja als Vorbilder für die Jugend aufgestellt werden? Ist es zu verwundern, daß Hoffnungslosigkeit und tötende Gleichgültigkeit sich wie eine ansteckende Krankheit gerade unter den Ehrlichsten und Besten von ihnen ausbreiten? ... Und nur einer hier im Lande hat die Macht, zu helfen ... ein einziger kann vielleicht das Volk zur Selbstbesinnung wecken und ein nationales Unglück abwenden.«
»Und das ist also Tyrstrup?«
»Nein – das sind Sie! Sie sind der einzige hierzulande, dessen Worten alles lauscht, – der einzige, dessen Rede mit wirklicher Autorität und Kraft zu dem ganzen Volke dringt. Tyrstrup weiß es selbst sehr wohl, daß er der Aufgabe allein nicht gewachsen ist ... Und wenn Sie gegen ihn gehen, wo soll er da seine Bundesgenossen suchen? ... Aber wenn Sie nur wollten, Enslev, dann könnten Sie mit einem Federstrich vielem von dieser wilden Gesetzlosigkeit, die jetzt ringsumher in unsrer Gesellschaft triumphiert, ein Ende machen ... zum Beispiel in unsrer Presse ... und am allermeisten in Ihrer eigenen Zeitung! Ja, ich muß es so sagen, wie ich es meine. Sie haben da eine Mitverantwortung, und ich begreife nicht, daß Sie die noch tragen wollen.«
»Ach was, Unsinn! Zwanzig Jahre habe ich das nun hören müssen. Aber das macht keinen Eindruck auf mich. Ich kenne den dänischen Freisinn und weiß, was ich tue. Da lauern überall in den Ecken so viel lichtscheue Bakterien, die von den geistigen Krankheiten der Vergangenheit stammen. Auf die wirkt die jugendliche Respektlosigkeit des ›Fünften Juni‹ wie eine nützliche Desinfektion. Sie ist nur – was sich jetzt deutlich zeigt – nicht kräftig genug gewesen.«
»Vielleicht! Hat sie aber nicht auch Lebenskeime getötet, Enslev? Wo ist unsre Jugend geblieben? Hat ein junger Mann in heutiger Zeit noch andere Gedanken als seine eigene Karriere und dann Zerstreuungen und Vergnügungen? Wie soll das enden? Sie geben sich jetzt den Anschein, als sähen Sie gar nicht. Aber ich glaube Ihnen nicht. Dazu sind Sie zu klug. Ich glaube auch, daß auch Sie manchmal mit Sorge daran denken, wie das enden soll. Möchten Sie doch die Vergangenheit vergessen und alle alte Bitterkeit um unsrer Zukunft willen! Haben wir nicht Zank und Streit genug in diesem Lande gehabt? Versöhnen Sie sich mit Tyrstrup! Er ist nicht der, für den Sie ihn halten. Wenn Sie mir doch glauben wollten! Schließen Sie Frieden mit allen, die das Gute wollen, was Sie im übrigen auch denken und glauben mögen! Tun Sie das, Enslev! Und die Nachwelt wird Ihren Namen segnen.«
Von ihrer Begeisterung hingerissen, war sie vor ihm auf die Knie gesunken und hatte seine Hand ergriffen. Enslev fühlte sich einen Augenblick gegen seinen Willen ergriffen, und als sie seine Unsicherheit bemerkte, fuhr sie fort, mit flehender Leidenschaft auf ihn einzudringen, so daß er schließlich die Hand mit Gewalt zurückreißen mußte.
»So stehen Sie doch auf! ... Dies hier ist ja töricht. Ich bitte Sie, innezuhalten. Sie wissen ja nicht, was Sie selbst sagen. Sie nehmen sich die Freiheit, hier bei mir einzubrechen, um mir politische Ratschläge zu erteilen! Sie finden es passend, mir meine Verantwortung vorzuhalten, mir Pflichten vorzuschreiben. Können Sie denn nicht selbst einsehen, wie lächerlich Ihr Auftreten ist?«
Frau Berta hatte sich erhoben. Verwirrt und beschämt wandte sie sich ab, als sie sah, daß sie ohnmächtig war.
Und Enslev schonte sie nicht. Er sagte, er wisse natürlich sehr wohl, daß in dem langen Kampf gegen die Unterdrückung von oben und den Zwang der Einfältigkeit von unten manches Wertvolle verloren gegangen sein könne. Wer aber hatte ihr versprochen, daß die Freiheit ohne Opfer errungen werden könne? Er nicht! Überhaupt könnten wohl nur Frauen sich einen politischen Kampf wie einen Krieg mit Stecknadeln vorstellen. Oder glaubte sie, daß er selbst unverwundet davongekommen sei? Daß nicht auch er mit Verlust an persönlichem Glück habe zahlen müssen? ...
Frau Berta sah sich nach der Tür um und wünschte, sie sei wieder fort. Sie hatte es klingeln hören und fürchtete, mit Besuch zusammenzutreffen.
»Jetzt will ich lieber gehen,« sagte sie. »Ich mache Sie nur noch erzürnter – und das war nicht die Absicht mit meinem Kommen.«
Sie reichte ihm die Hand, und Enslev wurde wieder versöhnlicher gestimmt.
»Ihnen zürne ich nicht, aber es tut mir leid, daß Sie sich zu dieser politischen Sendung, die Sie selber nicht verstanden, haben mißbrauchen lassen. Sie stehen für Tyrstrup ein – sagen Sie. Aber was für einen Wert hat er? Er ist ja nur eine Gliederpuppe, eine Paradefigur in den Händen von Gjärup und der übrigen Bande, die seit dreißig Jahren auf der Lauer liegen, um mir zu Leibe zu kommen ...«
»Sprechen Sie jetzt nicht mehr, Enslev. Ich weiß ja nun, daß mein Gang vergebens war. – Ich will Ihnen Lebewohl sagen!«
Er wollte aufstehen, um sie zur Tür zu geleiten. Im selben Augenblick aber kam die kleine Mamsell Jensen mit einer Visitenkarte herein, und ehe Enslev seinen Kneifer herausgeholt hatte, um den Namen zu lesen, war Frau Berta gegangen.
Draußen im Vorzimmer begegnete Sie Redakteur Samuelsen, der, offenbar nervös, sie mit seiner unverändert lächelnden Liebenswürdigkeit begrüßte. –