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IX

In Finsternis und grauem Nebel begegneten sich zwei Männer auf der Dorfstraße und gerieten in eine Unterhaltung.

Der eine, dessen Mondgesicht mit dem Doppelkinn von der Glut einer Zigarre beleuchtet wurde, war der kleine dackelbeinige Jörgen Mosegaard, Mitglied des Amtsrats und Sparkassendirektor, seit vielen Jahren auch selbstverständlicher Wortführer und Tischredner bei allen Versammlungen in der Umgegend. Der andere, der eine Laterne an einer Schnur trug, war Pastor Johannes Gaardbo. Er kam von einem Krankenbesuch bei einer armen Familie, die in einer Hütte weit draußen am Gemeindeanger wohnte.

Die beiden Männer hatten noch nicht lange miteinander gesprochen, als sie zu einem Ereignis kamen, über das zurzeit alle im Lande sprachen: Enslevs Bruch mit seiner Partei und seine offene Kriegserklärung an die Kirche.

Jörgen Mosegaard äußerte sich mit seiner gewohnten weitläufigen Vorsicht über die Sache. Jedesmal, wenn er die Zigarre aus dem Munde nahm, entrollte er in singendem Ton eine Reihe langgestreckter Redensarten, die weder ja noch nein bedeuteten. Er war ein Mann mit den offenen Armen des Fünen. Nicht mit seinem guten Willen schloß er irgendeinen von seiner Freundschaft aus. Gerade dieser umfassenden Nächstenliebe verdankte er seine vielen, hohen Vertrauensposten.

»Nun werden wir ja sehen, wie sich das alles entwickeln wird und muß und soll. Denn es ist ja so, daß es bald offenbar werden muß, was im großen und ganzen Enslevs wahre Absicht ist. Die Situation muß sich ja bald klären. Das glaube ich persönlich ganz bestimmt.«

»Ich wollte doch meinen, daß man in bezug auf seine Absicht nicht im unklaren sein kann,« antwortete der Pfarrer. »Solange er den Kopf noch über der Erde hat, soll kein anderes Gesetz hier im Lande gelten als sein Wille. Er duldet niemand über sich und niemand neben sich. Nicht einmal den lieben Gott selbst.«

»Na, Gaardbo – na, na! Hüten wir uns vor Übertreibung! Solche harten Worte haben gewiß keinen Zweck. Ich bin ja nun der Ansicht, daß sich alles schließlich ausgleichen läßt und zum Glück und Segen für unser liebes kleines Vaterland werden wird. Wenn wir uns nur nicht ereifern, die Zeit abwarten und das Ganze auf natürliche und zuverläßliche Weise sich entwickeln lassen. Das ist meine persönliche Ansicht.«

Seine Lippen rundeten sich, um die Zigarre wieder aufzunehmen, die einige Augenblicke, wie ein Spund, seine Beredsamkeit hemmte. Während er paffte, sagte der Pfarrer:

»Auf alle Fälle ist es jetzt zu spät, das Ärgernis abzuwenden. Eins aber steht fest. Die Leute hier im Kreise, die im Sommer die Wahl des Jägermeisters durchsetzen halfen, haben die Mitverantwortung in bezug auf das Unglück, das der alte Ränkeschmied noch über das Land bringen kann. Und das wird ihnen nicht vergessen werden.«

Die Glut der Zigarre leuchtete wieder in Jörgen Mosegaards Gesicht auf, das während der letzten Worte des Pfarrers einen verschlossenen Ausdruck annahm. Wie die meisten Großbauern der Gegend hatte auch er bei der Wahl im Sommer die Parole Enslevs befolgt und für Jägermeister Hagen gestimmt. Er hatte es freilich einmal Pastor Gaardbo gegenüber bestritten; dieser aber hatte sich zuverlässige Nachricht darüber verschafft.

Als der kleine Gemeindekönig jetzt wieder seine Worttonne laufen ließ, sagte der Pfarrer Gute Nacht und ging auf dem aufgeweichten Wege mit seiner Laterne weiter.

Bald darauf saß Jörgen Mosegaard bei seinem guten Freund und Nachbar, dem alten Ole Jensen, und erzählte von seiner Begegnung mit dem Pfarrer.

»Er ist ein wenig gar zu klippsch mit dem Mund geworden, dieser junge Mann. Er sprach von Enslev, daß es ganz empörend war, ihn anzuhören. Na – ich sage ja nichts dazu. Gaardbo hat auf allerlei verschiedene Weise sich um die Armenpflege in der Gemeinde verdient gemacht. In der Beziehung achte ich seine Verdienste und erkenne sie aus vollem Herzen an.«

Am Ende des Tisches saß die Bäuerin mit einer Hornbrille und einem Strickstrumpf. Über die feine Mahagoniplatte, in der sich eine vergoldete Hängelampe spiegelte, sah sie verstohlen und ein wenig ängstlich zu ihrem Mann hinüber, der in einem Lehnstuhl am Kachelofen saß. Ole Jensen war ein Bauer von der alten Schule und hörte nicht gern Pastor Gaardbos Namen nennen. Ihn ärgerten die vielen »Veranstaltungen« des Pfarrers, die den Frieden in der Gemeinde gestört hatten.

Das Gespräch glitt dann auf den Bruder des Pfarrers über, den Distriktsarzt in Jerve, über den immer so viele Geschichten in Umlauf waren. Die Frau erzählte, daß der »unkluge Kerl« neulich einem Mann in Sanderum eine Medizin verschrieben und nachher zu ihm gesagt haben sollte, es wäre nichts weiter gewesen als klares Wasser. Das wäre doch ein schändliches Benehmen! Bei dem reichen Hans Rasmussen in Jerve habe er verlangt, daß die Familie das ganze Jahr hindurch einen Tag in der Woche fasten solle. Hatte man je so was Fürchterliches hierzulande gehört seit der katholischen Zeit?

»Ja, sie sind beide gleich große Narren,« sagte der Alte mürrisch und stand auf, um eine Partie Karten zu spielen.

Währenddessen war Pastor Gaardbo nach seinem leeren Pfarrhof am andern Ende des Dorfes heimgelangt. Als er auf der Diele stand, steckte seine Haushälterin, das nervöse Fräulein Martinsen, den Kopf durch die Tür zum Küchengang und ließ ihn in gekränktem Tone wissen, daß Dachdecker Sören und noch ein anderer Mann in seinem Zimmer säßen und über eine halbe Stunde auf ihn gewartet hätten.

Die beiden Männer erhoben sich schweigend, als er eintrat. Er reichte ihnen die Hand, sah aufmerksam erst den einen und dann den andern an und sagte: »Ihr seht ja aus, als wenn ihr mit einer Neuigkeit kämet. Da ist etwas geschehen.«

Der Dachdecker bestätigte dies.

Der Pfarrer nahm die Lampe und trug sie vom Pult auf den Tisch vor dem Sofa.

»Setzen wir uns hierher! .. Dann laßt mich hören.«

Als die beiden Männer auf dem Sofa Platz genommen hatten, zog der Dachdecker eine zusammengefaltete Zeitung aus der Brusttasche unter seinem großen Bart. Schweigend reichte er sie dem Pfarrer über den Tisch. Es war eine Nummer eines der kleinen Kopenhagener Schmutzblätter mit der Mitteilung von dem Unglück, das Jägermeister Hagen betroffen hatte.

In einem Artikel auf der ersten Seite mit der riesenhaften Überschrift »Vom Reichstagssaal in die Gummizelle« waren sowohl der Auftritt auf der Treppe vor Herrn Frandsens Wohnung, der Kampf des Jägermeisters mit dem Schutzmann, als auch der Volksauflauf bei seiner Fortführung nach dem Hospital dramatisch ausgemalt mit einer Weitläufigkeit, als handle es sich um eine weltgeschichtliche Katastrophe. Am Schluß des Artikels hieß es:

»Besonders zu beklagen ist der Schwiegervater des Reichstagsabgeordneten, der bekannte Großhändler L. K. Söholm, der, wie verlautet, mit sehr bedeutenden Geldopfern Herrn Hagens längst schwankenden Kredit gestützt und ihm erst kürzlich sein fünensches Gut ›Storeholt‹ abgekauft hat. Namentlich aber wird sich das Mitgefühl um des kranken Mannes grundlos verdächtigte Gattin scharen, deren schöne distinguierte Erscheinung in der letzten Zeit in unserm höheren Gesellschaftsleben berechtigtes Aufsehen erregt hat.«

»Das ist ja ganz schrecklich,« sagte Pastor Gaardbo mehrmals während des Lesens. »Aber ist das auch wirklich wahr? In unsern eigenen Zeitungen hat ja kein Wort davon gestanden.«

Mit ausgestrecktem Zeigefinger machte der Dachdecker ihn darauf aufmerksam, daß das Blatt das letzte Neue aus der Hauptstadt sei. Der Molkereiverwalter hatte es aus Odense mitgebracht. Übrigens habe er das »Volksblatt« angeklingelt, und die Mitteilung sei ihm bestätigt worden.

»Daß es solch ein Ende mit ihm nehmen sollte!« sagte der Pfarrer mit einem Kopfschütteln und las weiter.

Plötzlich aber ließ er das Blatt sinken und sah zu den beiden Männern hinüber, die mit gespannten Mienen seinen Ausdruck beobachteten, während er las, und nicht allein die Augen, sondern auch die Gedanken begegneten sich jetzt.

Eine Weile herrschte Stille. Niemand von ihnen sprach. Endlich begann der Dachdecker:

»Wissen Sie wohl noch, Pastor Gaardbo, was Sie mir damals an dem Abend im Sommer sagten, als der Jägermeister gewählt wurde? Wir wollen den Mut nicht verlieren, sagten Sie. Das nächste Mal schaffen wir der Sache des Herrn Genugtuung. Dann wetzen wir die Scharte aus, sagten Sie. – Aber niemand von uns hat gewiß gedacht, daß ›das nächste Mal‹ so schnell kommen würde. Aber so ist nun einmal der Wille des Herrn.«

»Amen!« ertönte es von den Lippen seines bisher mauerstummen Begleiters, eines alten Mannes mit einem finstern Gesicht.

Der Pfarrer nickte stumm.

Sie sprachen dann von den Aussichten für die neue Wahl. Der Dachdecker war überzeugt, daß es ihnen gelingen würde, diesmal den Kreis zu erobern. Die Freundesschar der Kirche war in den letzten Monaten infolge von Enslevs Herausforderung stark gewachsen, und die Schande, die der Jägermeister jetzt über seine Wähler gebracht hatte, würde sicher auch vielen die Augen öffnen, die diesen Sommer noch dem alten Banner gefolgt waren.

Man verabredete, daß baldmöglichst eine Versammlung von den Vertrauensmännern des Freundeskreises einberufen werden sollte, und der Dachdecker und sein Begleiter brachen darauf auf, um die große Neuigkeit weiter in der Gemeinde zu verbreiten.

Als Pastor Gaardbo seine Gäste hinausbegleitet hatte und zurückgekommen war, blieb er mit bewegtem und verzücktem Ausdruck neben dem Pult stehen. Weit stärker, als er es sich den Freunden gegenüber hatte merken lassen, war er entflammt bei der Aussicht, in die Feuerlinie zu kommen, wo Christus und seine Feinde jetzt zu dem entscheidenden Kampf zusammentreffen sollten.

Nach dem Tode seiner Braut hatte er lange eine Scheu vor den zehntausend Augen der großen Öffentlichkeit gehabt. Hier in seinem Pfarrhause hatte er sich seine eigene stille Welt gebildet, weit weg von allem, was ihn früher beschäftigt hatte. Eine Welt des Entbehrens freilich, aber ausgefüllt von glücklichen Erinnerungen, die die Leere bevölkerten. Seit dem Sommer aber mit seiner Liebesenttäuschung und der Wahlniederlage hatte sich sein Gemüt in Gärung befunden.

... Er erhob den Kopf. Er hatte eine ferne Automobilhupe gehört und erkannte den Laut. Es war sein Bruder, der auf der Landstraße vorüberfuhr.

In seiner erhobenen Gemütsstimmung folgte er dem Laut, die Hände über das Gesicht gelegt. Seit zwei Monaten hatte er nicht mit dem Bruder gesprochen. Zuweilen hatte er in der Ferne seinen Wagen gesehen, war aber absichtlich einer Begegnung aus dem Wege gegangen. Jedoch der Gedanke, daß sie sich vielleicht jetzt trennen sollten – und zwar unversöhnt –, machte sein Herz überströmen.

»Ach Paul – Paul! Warum willst du die Stimme der Wahrheit nicht hören?«

 

Draußen auf der breiten Landstraße rollte der Kreisarzt Gaardbo seinem Heim zu. Gleich einer Zauberlaterne warf sein kleines Fuhrwerk einen riesigen Lichtkegel vor sich her und zeigte eine Reihe tagesheller Bilder der Landstraße mit ihren entblätterten Pappeln, ihren Steinhaufen und Wasserlachen. Der Nebel war weggetrieben. Der Abend war hell und still. Hoch oben unter dem Sternenhimmel jagten einige dunkle Wolken in rasender Fahrt dahin, wie der Rauch von einem Weltenbrand irgendwo in der Ferne.

Als der Doktor an dem Dorf vorüberfuhr, hatte er den Blick nach dem Pfarrhaus gewandt und Licht in den Fenstern des Bruders gesehen. Seine Gedanken waren noch bei ihm. Unwillkürlich sah er zur Kassiopeja hinauf, dem Sternenbilde, das sie als Knaben am meisten geliebt hatten. Hier hatte ja Tycho de Brahes verschwundener Stern gestrahlt, und sie träumten damals beide davon, große Astronomen zu werden, die ebenso wie ihr berühmter Landsmann neue Himmelskörper entdecken würden. An kalten Winterabenden standen sie draußen im Schnee und studierten das leuchtende Weltengewimmel mit Hilfe einer Sternenkarte, bis ihr Vater es ihnen eines Tages verboten hatte mit den Worten, das seien Dinge, mit denen man sich um seines Seelenfriedens willen am liebsten nicht befassen solle.

Draußen hinter dem großen flachen Land im Osten tauchte ein Lichtschein auf. Es war der Mond, der im Begriff war, über den Horizont emporzuklettern. Aber jetzt wurde die Aussicht durch die Wälder bei Storeholt verdeckt, und gleich darauf trat das Herrenhaus selbst in die Erscheinung, am Ende einer Allee, strahlend von Licht vom Keller bis zum Dach.

»Ei, ei, die neue Herrschaft ist offenbar angekommen!«

Das große weiße Hauptgebäude hatte in den letzten Monaten öde dagelegen. Am Tage drang jedoch allerlei Handwerkerlärm von dort heraus. Großhändler Söholm hatte eine große Kraft eingesetzt, um den vernachlässigten Betrieb wieder in Gang zu bringen. Die Scheune hatte ein neues Dach erhalten, die Ställe eine vollzählige Besetzung, und es war viel von einem mächtigen Motorpflug geredet, der täglich eine Anzahl neugieriger Zuschauer versammelte.

»Der Kaffeekönig ist mit seinem ganzen Hof in Storeholt angelangt,« erzählte er, als er nach Hause kam und Meta allein im Wohnzimmer, an der Nähmaschine sitzend, antraf.

»So,« erwiderte sie abwesend.

Der Doktor nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie.

»Nun, Mütterchen, wie geht's denn?«

Frau Meta erwartete ihre Entbindung, und infolgedessen war sie ruhelos damit beschäftigt, ihr Haus zu bestellen. Sie fand immer, daß da so viel zu ordnen und zu bereden war, ehe sie sich mit gutem Gewissen der Zeit der Wochenpflege hingeben konnte. Sie, die sonst immer so gefaßt gewesen war, fühlte sich diesmal beängstigt und auch körperlich mehr beschwert als während der früheren Schwangerschaften. Sie dachte, daß es vielleicht diese schweren Herbsttage sein könnten, die diese Unruhe in ihr erzeugten. Ihre andern Kinder hatte sie im Sommer und im Vorfrühling geboren. Diese schnell zunehmende Winterfinsternis und der Anblick der unaufhörlich fallenden Blätter machten sie mutlos.

»Ich habe eine Überraschung für dich,« sagte sie.

»Eine Überraschung?«

»Ja, einen Brief.«

Mit einem geheimnisvollen Lächeln, das der Doktor nicht deuten konnte, zog sie einen großen Briefumschlag unter dem Nähkasten hervor. Plötzlich aber besann sie sich und legte ihn wieder hin, während ihr Gesicht ernsthaft wurde.

»Erst etwas andres, Paul. Ich muß einmal ernsthaft mit dir reden. Niemand weiß ja, wann wir wieder Gelegenheit dazu haben werden.«

Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und schwieg eine kleine Weile.

»Willst du mir sagen, Paul – denkst du gar nicht daran, zu einem Verständnis mit deinem Bruder zu gelangen?«

»Mit Johannes? Darüberhaben wir ja schon gesprochen. Ich will jetzt nichts wieder von der alten Geschichte hören.«

»Das mußt du aber, Paul; ich bekomme keine Ruhe, ehe ihr euch nicht ausgesöhnt habt. Es ist ja doch zu unsinnig, wie ihr beide nun zwei ganze Monate einander gegenübergestanden habt.«

»Ja, ja! – Was war das für ein Brief vorhin?«

»Nein, jetzt sollst du mich anhören,« sagte sie, indem sie seine Hand ergriff und in ihrem Schoß festhielt. »Du meinst natürlich, daß du dein möglichstes getan hast, indem du ihm schriebst und ihn um Entschuldigung batest.«

»Freilich.«

»Bedenke aber doch, Paul, wie unsinnig du ihn gekränkt hast!«

»Das war seine eigene Schuld. Er hat mich herausgefordert, das weißt du.«

»Du sagtest doch selbst, als du nach Hause kamst, daß du dich über dein Benehmen schämtest.«

»Nun ja, ich war heftig geworden. Den Fehler habe ich nun einmal, und das weiß Johannes am besten. Als Knaben – und übrigens auch als Studenten – gerieten wir uns oft in die Haare und waren doch gute Freunde deswegen. Aber Johannes ist nicht mehr so, wie er in alter Zeit war – das ist die Sache!«

»Er meint wohl, daß ihr beide diesen Dingen entwachsen sein solltet.«

»Aber warum hat er mir nicht auf meinen Brief geantwortet? Ich schlug ihm vor, wir wollten die dumme Geschichte vergessen, und jeder sollte die Hälfte der Schuld auf sich nehmen. Seitdem sind jetzt zwei Monate vergangen, und ich habe kein Wort von ihm gehört. Wie nennst du das?«

»Das hat mich natürlich auch verwundert. Aber warum fährst du nicht eines schönen Tages zu ihm und reichst ihm die Hand zur Versöhnung? Darauf wartet er doch sicher nur. Hättest du das gleich getan, so wäre das Ganze längst klipp und klar gewesen. Ihr seid beide gleich große Kinder. Keiner von euch kann sich entschließen, den ersten Schritt zu tun, und doch könnt ihr einander nicht entbehren. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie Johannes dir fehlt? Du weißt wohl selbst gar nicht, lieber Paul, wie deine Stimmung in der letzten Zeit gewesen ist. Und ich bin überzeugt, daß es Johannes genau so ergeht.«

Der Doktor, der im Zimmer auf und nieder gegangen war, blieb stehen und schüttelte mißmutig den Kopf. »Ich wollte, du hättest recht, Meta! Aber du irrst.«

»Wieso? Ich verstehe dich nicht, Paul! Ich habe zuweilen ein Gefühl, daß da etwas ist, was du mir nicht sagen willst. Was ist das?«

»Ich habe es dir ja gesagt! Johannes ist nicht mehr der, der er war. Seit er Pfarrer geworden ist und den langen schwarzen Kittel angezogen hat, ist er ein andrer Mensch geworden. Wie so viele seines Standes hat er sich zu einem dieser unheimlichen Doppelwesen entwickelt, die wie zusammengewachsene Zwillinge zwei selbständige Dasein ohne gemeinsames Bewußtsein führen. Erinnerst du dich noch, wie sich Johannes damals um eine Anstellung bewarb, um sich verheiraten zu können, und die allererste Pfarre erhielt, um die er sich bemüht hatte? Es war ja unmöglich, nicht an Oheim Tyges Einfluß zu denken. Und doch hat er immer behauptet, er habe keine Ahnung davon gehabt und würde niemals eine Pfarre von des Oheims Gnaden angenommen haben. Und er glaubt das selbst – so ist er geworden!«

»Ach, pfui, Paul! Du solltest dich wirklich schämen. Ich begreife nicht, was über dich gekommen ist, daß du so über deinen eigenen Bruder sprechen kannst! ... Ich möchte fast wünschen, daß wir nie hierhergekommen wären, denn ich finde das hier so häßlich.«

Ihre Worte machten ihn verstummen, und als er sah, daß sie weinte, schämte er sich wirklich.

Er setzte sich wieder zu ihr und legte den Arm um ihre Taille.

»Ja, es war häßlich von mir. Aber jetzt lassen wir Johannes in Frieden und reden von etwas anderm.«

Aber seine Liebkosungen vermochten ihren Tränen nicht Einhalt zu tun.

»Ich kann nichts dafür, Paul ... Sobald du fort bist, befällt mich eine solche Angst, und ich finde, alles ist so unheimlich, seitdem du und Johannes euch erzürnt habt. Es vergeht kein Tag, ohne daß die Kinder fragen, warum Onkel Johannes nicht kommt. Und ich weiß nicht, was ich ihnen antworten soll. Du selbst gehst umher und siehst aus, daß einem angst und bange vor dir werden kann.«

»Ja, ich bin ein großer Schlingel! Aber nun will ich dir versprechen, daß ich morgen am Tage zu Johannes gehen und ihm eine Versöhnung anbieten will. Ich will ihm sagen, daß er um deinetwillen die Geschichte vergessen muß. Bist du nun zufrieden?«

Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn. »Gott sei Dank! Jetzt finde ich wirklich, daß alles so ist, wie es sein soll! ... Und nun sollst du auch deinen Brief haben.«

In einem offenen Briefumschlag lag ein Heft einer bekannten Kopenhagener Monatsschrift, in der ein Abschnitt der »Lebenslehre« des Doktors aufgenommen war, an der er noch immer arbeitete. Es war das erstemal, daß etwas von ihm gedruckt worden war. Daher hatte man das Heft mit großer Spannung erwartet.

»Ich gratuliere!« sagte sie und küßte ihn wieder. »Ich habe es natürlich nicht lassen können, hineinzusehen. Es sieht wirklich sehr nett aus.«

Eine Stunde später packte sie ihre Näharbeit zusammen, um zu Bett zu gehen. Sie war plötzlich sehr blaß geworden und preßte Augen und Mund fest zusammen.

Der Doktor, der ihre Unruhe bemerkt hatte, sprang auf.

»Meldet das Kind sich?«

Sie nickte.

»Du Liebe, Liebe,« sagte er und strich ihr über das Haar, während sie sich frierend an seine Brust schmiegte. »Du arme Kleine!«

Als der Schmerz vorüber war, richtete sie sich auf and küßte seinen Mund.

»Mein süßer Mann! Nun bekommst du eine Weile Ruhe und Frieden vor mir. Ich weiß sehr wohl, daß ich dir zur Last gewesen bin. Jetzt soll es aber besser werden. Ich begreife nicht, was es sein kann, aber ich bin ganz ruhig. Fühle einmal mein Herz! – Aber geh jetzt und wecke die Mädchen. Die Kinder müssen aus dem Zimmer heraus, und –«

Sie mußte wieder innehalten, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Mit einem Kälteschauer sank sie an seine Brust und umfaßte krampfhaft seinen Arm.

»Komm – du mußt dich legen!« sagte er.

Den Kopf an seine Schulter gelehnt, flüsterte sie ihm halb bewußtlos vor Schmerz zu: »Ich verspreche dir, Paul, ich werde tapfer sein!«


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