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X

Um vier Uhr morgens brachte Frau Meta bei vollem Bewußtsein einen zappelnden Jungen zur Welt, und die Freude im Hause war groß. Die Ungeduld der Kinder war nicht zu bändigen. Schon am Vormittag durften sie hineinkommen und das neue Brüderchen begrüßen, das in Windeln gewickelt neben der Mutter lag.

In seinem Glück dachte der Doktor auch an Johannes und vergaß auch nicht, was er seiner Frau versprochen hatte. Trotzdem schob er die Einlösung des erzwungenen Versprechens von einem Tag zum andern auf, und währenddessen trat etwas Unerwartetes ein. Frau Meta wurde plötzlich krank, sie bekam Fieber, und das Kind mußte ihr weggenommen werden.

Am Abend in der Dämmerung saß er mutlos an ihrem Bett. Es war der fünfte Tag nach der Entbindung, und das Fieber war im Steigen. Meta war in einen leichten Schlummer versunken. Hin und wieder sprach sie in den Fieberphantasien vor sich hin.

Die Tür ging leise auf. Eins der Mädchen kam herein und sagte, es sei jemand da, der mit dem Doktor reden wolle. Er erhob sich mechanisch und ging hinaus. Auf dem Wege zu seinem Zimmer am entgegengesetzten Ende des Hauses blieb er plötzlich stehen und stutzte. Er hatte die kleine Hedwig auf der Diele ausrufen hören: »Ah! Onkel Johannes!«

Das ist nicht möglich! – dachte er überwältigt und wünschte fast, daß es nicht wahr sei. Im selben Augenblick hörte er die Stimme des Bruders.

Der Pfarrer stand da draußen, umringt von den Kindern, die aus dem Kinderzimmer herausgestürmt waren. Als der Doktor die Tür öffnete, war der Bruder im Begriff, seinen klatschnassen Regenrock an einem Haken aufzuhängen. Ohne sich umzuwenden, reichte er ihm die Hand und sagte:

»Es steht wohl nicht gut hier?«

Der Doktor ergriff seine Hand, und als sie ins Zimmer gekommen waren, stellte er sich vor den Bruder hin, beide Hände auf seine Schultern gelegt.

»Johannes! ... Daß du gekommen bist! ... Wie soll ich dir das danken?«

»Ich mußte hierher, als ich hörte, wie es stand,« erwiderte der Pfarrer, der jedoch noch immer dem Blick des Bruders auswich. »Erzähle mir jetzt alles!«

»Also du weißt es? Meta ist sehr krank. Es kam so plötzlich. Sonst wäre ich zu dir gekommen und hätte dir die Geburt unseres kleinen Jungen mitgeteilt.«

Sie nahmen Platz, und der Doktor begann von der Krankheit seiner Frau zu erzählen. Um den Bruder nicht zu erschrecken, sprach er recht zuversichtlich, aber mehrmals trieb seine innere Unruhe ihn durch das Zimmer, wo er mit hastigen Schritten auf und ab ging.

Der Pfarrer beobachtete ihn schweigend, mit einem nachdenklichen, zuweilen abwesenden Ausdruck.

Sie sprachen auch ein wenig über den kleinen Jungen und die andern Kinder, und der Doktor fragte den Bruder, was er selbst während der langen Zeit, daß sie einander nicht gesehen, erlebt hatte.

»Ich habe von dem Unglück gehört, das über den Jägermeister gekommen ist,« antwortete er. »Und hier soll eine Wahl stattfinden, nicht wahr? ... Ich habe mehrere Tage lang die Zeitungen nicht gelesen, aber so viel weiß ich doch, daß du dich wieder aufstellen lassen willst.«

Statt zu antworten, begann der Pfarrer von dem Brief zu sprechen, den er seinerzeit von ihm erhalten hatte.

»Du hast dich vielleicht gewundert, daß ich nicht früher darauf geantwortet habe, aber das hatte seine bestimmten Gründe.«

»Das ist ja jetzt ganz gleichgültig, Johannes! Ich verlange keine Erklärung. Nun bist du ja selbst gekommen, und das werde ich dir nie vergessen. Laß jetzt die Vergangenheit ruhen! Ich habe mich selbst über die dumme Geschichte geschämt – das kannst du mir glauben.«

»Ich möchte dir doch gern den Grund meines Schweigens erklären,« antwortete der Pfarrer. »Es ist doch am besten, soweit wie möglich neuen Mißverständnissen vorzubeugen. Du schriebst in deinem Brief, daß ich bei der Gelegenheit der herausfordernde Teil gewesen sei. Das kann ich dir indessen nicht einräumen, aber darauf will ich kein weiteres Gewicht legen. Es hat ja so wenig zu bedeuten, was der zufällige Anlaß zu dem Streit gewesen ist. Dahingegen mußt du begreifen, lieber Paul, daß, was die tieferliegende Ursache betrifft – –«

Der Doktor hemmte seine Rede.

»Jetzt kein Wort mehr, Johannes! Ich meinerseits habe unsern Streit vergessen – das kannst du auch tun. Er war nichts Besseres wert!«

Bei diesen Worten war es, als erlösche ein Licht in den Augen des Pfarrers. Er saß eine Weile da und sah vor sich nieder, ohne zu reden.

»Ja, ja, Paul! Ich will also nicht wieder auf die Sache zurückkommen. Ich wünsche keinen neuen Streit zwischen uns zu entfachen. Aber –«

»Nein, jetzt reden wir nicht weiter darüber!« unterbrach ihn der Doktor und humpelte nach der Tür. »Verzeih! ich will nur den Mädchen Bescheid sagen. Denn du bleibst doch über Nacht hier?«

»Vielen Dank, aber ich will euch in keiner Weise hier im Hause stören. Ich bin nur gekommen, um zu hören, wie es hier steht. Ich muß sogar bald weiter.«

»Aber warum denn nur? In dem Wetter!«

Der Pfarrer erklärte, er sei mit seinem Nachbar, Niels Jensen, hierher gefahren. Der habe etwas bei dem Dorfschulzen hier in Jerve auszurichten gehabt. Sie hätten sich verabredet, auch zusammen wieder zurückzufahren.

Der Doktor schlug den Blick nieder. Der erwähnte Niels Jensen war einer seiner ärgsten Feinde, der ihn öffentlich der Pflichtversäumnis angeklagt hatte. Johannes hatte sich aus diesem Grunde den Mann früher vom Leibe gehalten.

»Niels Jensen? ... Aber was ist das für eine verrückte Verabredung? Du mußt doch wissen, daß ich dich mit Freuden nach Hause fahren würde. Ich will sofort zu dem Dorfschulzen schicken.«

Der Pfarrer erklärte aber wieder, und diesmal mit großer Bestimmtheit, daß er nicht stören wolle.

Eine kleine Weile noch saßen die beiden Brüder da und hielten eine Art Unterhaltung über allerlei, was ihnen zufällig einfiel, im Gange. Die Pausen wurden aber immer länger, die Entfernung zwischen ihren Gedanken wuchs von Minute zu Minute.

»Ich habe keinen Bruder mehr,« sagte der Doktor zu sich selbst. »An diesen unfaßlichen Gedanken muß ich mich gewöhnen.«

Beim Abschied reichte der Pfarrer ihm wieder die Hand.

»In ein paar Tagen sehe ich wieder vor. Bis zu der Zeit ist Meta hoffentlich über die Krisis hinweggekommen. Grüße sie vielmals von mir!«

Der Doktor begleitete den Bruder hinaus. An der Tür stand der Pfarrer noch eine kleine Weile still, die Hand zögernd auf dem Türdrücker.

»Ich will doch nicht von dir fortgehen, ohne dir gesagt zu haben, Paul, daß ich mit einer kleinen Hoffnung hierhergekommen bin, nun besser über das reden zu können, was früher – und auch das letzte Mal – die Ursache zu unserm Streit war. Ich hatte geglaubt, daß du in diesen für dich so schweren Tagen, so voll Angst und Sorge –«

»Das habe ich sehr wohl verstanden,« antwortete der Doktor. »Aber jetzt mußt du am liebsten gehen, Johannes! Ich weiß ja alles, was du sagen willst. Ich habe es so oft gehört, und es macht gar keinen Eindruck auf mich.«

»Das ist ja deine gewöhnliche – ein wenig flotte Art –, diese Dinge abzufertigen. Es ist überhaupt einer deiner Fehler, Paul, daß du nicht Geduld hast, zu hören, was andere zu sagen haben. Alles, was du nicht selbst sagst, findest du so vollständig überflüssig.«

»Das ist ganz einfach nicht wahr.«

»So! Das ist also nicht wahr,« sagte der Pfarrer sanftmütig. »Es ist – wie gesagt – nicht meine Absicht, abermals Streit anzufangen. Ich will dir nur, ehe ich gehe, eine Frage stellen. Ich stelle sie dir in deiner Eigenschaft als Arzt. Was würdest du von dir selber denken ... was würdest du von der ganzen großen, leidenden Menschheit sagen, falls du im Besitz eines Heilmittels wärest, das in all den grenzenlosen Leiden des Lebens helfen, das die Schwachen aufrichten, die Mutlosen stärken, all den Armen, die dasitzen und im Schatten des Todes frieren, Licht, Freude und Frieden bringen könnte ... Ich frage dich: Falls du im Besitz eines solchen Heilmittels wärest, und falls man da – statt deine Hilfe anzunehmen – sie mit Überlegenheit abweisen würde, vielleicht mit einer Bemerkung, daß man ihrer nicht bedürfe. Was würdest du dazu sagen?«

»Ich würde sagen, daß man gut daran tat, nicht an Wunderkuren zu glauben.«

Der Pfarrer sah ihn einen Augenblick mit dem offenbar feindlichen Aufblitzen in den Augen an, das der Doktor früher dort getroffen hatte. Dann wandte er sich stumm um und ging hinaus.

An der Wand über dem Arbeitstisch des Doktors hing zwischen andern Familienbildern das im ganzen Lande bekannte Doppelbild seiner Großeltern, der alten Schmiedeleute aus Enslev. Als er den Bruder hinausbegleitet hatte und in sein Zimmer zurückgekommen war, flog sein Blick unwillkürlich zu diesem Bilde hinüber. Er hatte von seinem Großvater zufällig allerlei erfahren, was nicht mit der Familientradition übereinstimmte, geschweige denn mit dem Idealbilde, das die meisten der Lebensschilderer des Oheims von dem Stammvater der Familie gezeichnet hatten. Der alte Enslever Schmied hatte offenbar nicht zu den Musterkindern in seinem Heimatsdorf gehört. Ein älterer Bauer aus Enslev, den er einmal in einem Eisenbahnabteil getroffen, hatte ihm erzählt, der Alte habe auf seinem Sterbebett die Mächte der Finsternis angerufen und du zu dem Teufel gesagt. Daß es an seinem Begräbnistage zwischen den Kindern im Trauerhause selber zu einem Streit gekommen war, das beruhte jedenfalls nicht auf einer Fabel. Er entsann sich, daß sein eigener Vater einmal in seinen Schwermutsanfällen etwas darüber verraten hatte.

Seit jenem Tage war ein Menschenalter vergangen, und der üppige Schmiedenachwuchs aus Enslev hatte sich über das ganze Land verbreitet. Unter den verschiedensten Namen saßen sie ringsumher in Pfarrhöfen und Doktorwohnungen, in Kontoren und Läden, fast überall wohlangesehene und auch gutgestellte Leute. Aber es war, als hause der böse Zwietrachtsgeist, der sein ärgerniserregendes Spiel um den Sarg des Großvaters getrieben hatte, noch überall in der Familie. Schon als Kind hatte er das empfunden, wenn er und Johannes zusammen den Vater nach Kolding begleiteten zu den regelmäßigen Besuchen bei ihrem ältesten Oheim, dem Kanzleirat. Das Tabakskollegium der beiden Alten unten im Kontor, wo er zum ersten Male seinen großen Oheim hatte nennen hören, diese wunderlich verblümten Gespräche, bei denen sie sich wieder und wieder mit einem Augenzwinkern an die Gegenwart der Kinder mahnten, stand noch lebhaft in seiner Erinnerung. Er entsann sich des unheimlichen Gefühls, des Druckes von etwas Geheimnisvollem und Feindlichem, das er immer von diesen Besuchen heimbrachte.

Er hatte früher geglaubt, das Ganze sei nichts weiter als der Unfriede, der so natürlich in einem kleinen Zaunkönignest entsteht, wenn die Vorsehung einen jungen Kuckuck von der Größe des Oheims darin aushecken läßt. Nachdem er aber die Wahrheit über seinen Großvater erfahren hatte, war ihm eingefallen, daß die Unverträglichkeit in der Familie ein ererbtes Schicksal sein könne. War da irgendein dunkles Familiengeheimnis, über dem die Schwermut seines Vaters brütete, und das die Augen des frömmelnden Kanzleirats hinter der goldenen Brille so böse aufblitzen machte? Namentlich nach Rosaliens tragischem Tode hatte ihn diese Vorstellung von einem unabwendbaren Fluch verfolgt, der auf der Familie ruhte und beständig neue Opfer erheischte.

Daß der Tod des jungen Mädchens nicht die Folge eines Unglücksfalles, sondern – wie Jytte Abildgaard mit ihrem visionären Scharfblick geahnt hatte – ein Selbstmord war, das wußte als einziger in der Welt nur Doktor Gaardbo. Er war an jenem Tage durch ein Eiltelegramm nach Kolding gerufen und hatte auf eigene Hand eine Untersuchung vorgenommen. Dem Bruder zuliebe hatte er das Ergebnis verschwiegen, da er überzeugt war, daß die Wahrheit ihn töten würde. Selbst Meta hatte er nicht gewagt, sein Wissen anzuvertrauen, damit sie nicht durch ein unüberlegtes Wort das Mißtrauen des Bruders wecken sollte. Aber er hatte sich in diesen Monaten manchmal selbst gefragt, ob es jetzt nicht doch seine Pflicht sei, Johannes die Wahrheit zu erzählen, ehe dieser neues Unglück heraufbeschwor. Mehr und mehr betrachtete er seinen Bruder als einen kranken Menschen, einen Unglücklichen, der gleich andern Männern des Unfriedens in der Familie Schaden an seiner Seele genommen hatte. – –

Es wurde an die Tür geklopft. Das Mädchen kam mit dem Bescheid, daß Frau Meta erwacht sei und ihn gern sehen wollte.


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