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12.

Das Schicksal Ottos erregte allgemeine Theilnahme in der »Gesellschaft«. Er war auf der Wahlstatt des Sports gefallen, die ganze vornehme Welt empfand es daher als eine Verpflichtung, ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Eine dichte Menschenmenge umlagerte die Villa Berry, angelockt von dem glänzenden Schauspiel, das hier zu erwarten war, begierig zu sehen, wie der sonst vom Geschick so begünstigte Mann, der Berry, dem Zeit seines Lebens alles so herrlich geglückt war, diesen harten Schicksalsschlag trage. Man sprach von »Helios«, dem vielen Gelde, das mit ihm verloren worden war, dem Pech des Grafen Maltiz, des Verlobten der jungen Berry.

»Was, des ›Verlobten‹?« ließ sich da eine Stimme hören. »Abgedankt ist er, bankerott, aus ist's mit ihm!«

Von Mund zu Mund ging die Neuigkeit; man lachte darüber, man freute sich, diese Bevorzugten, oft Beneideten auch einmal tüchtig heimgesucht zu sehen, und fand einen Trost darin für den eigenen drückenden Kummer.

Der Sarg, blumenbedeckt, von acht Soldaten getragen, erschien unter dem Portal. Offiziere in glänzender Uniform gingen zur Seite, dahinter kam der Vater, Kommerzienrath Berry, festen Schrittes.

Alle Köpfe reckten sich nach ihm. »Der Berry!« flüsterte es bis in die hintersten Reihen.

Die strengen festen Züge des Kommerzienrathes verriethen nichts von dem, was in ihm vorging – so wie jetzt blickte er auch bei seinem Rundgang durch die Fabrik oder wenn man zu ihm in sein Bureau gerufen wurde, zu Lob oder Tadel. Nur die festgepreßte Unterlippe zuckte manchmal schmerzlich und die Festigkeit des Schrittes schien nicht ganz ungezwungen zu sein.

Neben Berry, in gleicher Linie mit ihm, während alle übrigen Beamten der Fabrik erst in einem Abstand folgten, ging Hans Davis. Diese Anordnung gab reichlichen Gesprächsstoff für die Zuschauer, unter denen sich viele Arbeiter der Fabriken befanden. Was war dieser junge Mann, daß er bei solchem Anlaß zur Linken Berrys gehen durfte wie ein Angehöriger der Familie? »Ein Monteur der Fabrik« das reichte doch nicht zu. Des Kommerzienraths Liebling, der die neue Lokomotive erdacht hatte – aber das gab ihm doch noch nicht die Rechte eines Familiengliedes! »Der Nachfolger des Grafen – er bekommt das Mädel und den ganzen Mammon,« lief es plötzlich durch die Reihen, und niemand wußte, woher die Kunde stammte. Jetzt war Hans Davis der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – dieses unverschämte Glück!

Oben am Fenster standen zwei Damen in Schwarz, die Mutter und die Schwester des Toten. Ehe der Zug sich in Bewegung setzte, wandte sich Davis um und schaute hinauf. Dann schweifte sein Auge über die Köpfe der Menge – eigentlich war dort sein Platz. Unfaßbare Laune des Schicksals, die ihn hierher, an diesen Platz gestellt!

Da blieb sein Blick auf einer kleinen Gestalt haften, eine blaue Bluse, eine wohlbekannte braune Schirmmütze, jetzt ein Gesicht – Holzmann! Hans fühlte das unruhige, nie sich ganz öffnende Auge des Mannes höhnisch auf sich gerichtet, er glaubte, am Halse dieses Menschen noch die rothen Male zu erblicken, die seines Vaters Hände hinterlassen hatten. Was suchte Holzmann hier? Hatte ihn bloß die Neugierde hergeführt? Richtig – er hatte sich ja schon vorgestern nach dem Leichenbegängniß erkundigt. Aber hatte der Verbrecher, der immer seine dunklen Pläne verfolgte, nicht noch weiter gefragt – ob alle Beamten und Arbeiter mit zur Beerdigung gehen, ob das Gerüst noch da sei … Ein Verdacht blitzte in Hans auf. Und von einem gemeinsamen Geschäft hatte Holzmann und widerwillig auch der Vater gesprochen – wenn dieses gemeinsame Geschäft ein Einbruch wäre, wenn der Vater, um den Sohn loszukaufen, sich Holzmann zum Helfer angeboten hätte!

»Eine für mich unentbehrliche Kraft« hatte Holzmann den Vater genannt, und der Vater kannte die Baulichkeiten, die Kassenräume bei Berry! Und doch, es konnte ja nicht sein, der Vater hatte ihn ausdrücklich versichert, daß das Geschäft ein »ehrliches« sei.

Inzwischen war der Zug am Kirchhof angelangt, und Hans wurde gewaltsam aus seinen trüben Gedanken herausgerissen, als er sich mit einem Male vor dem offenen Grabe fand. Der Geistliche trat vor und hielt die Trauerrede, dann wurde der Sarg hinuntergelassen in die Erde – die bunten Uniformen, die Waffen der Soldaten glitzerten im vollen Sonnenlicht, auf den Grabhügeln rings umher stand die gaffende Menge, das bunte Schauspiel des Lebens an der Stätte des Todes.

Das Begräbniß war zu Ende. Der Kommerzienrath trat noch einmal an die Gruft und warf dem Sohne eine Handvoll Erde ins Grab – seine Kräfte waren erschöpft. Er verlangte nach seinem Wagen und lud zum neuen Staunen seiner Umgebung Davis ein, an seiner Seite Platz zu nehmen. Hans selbst war überrascht: soweit war Herr Berry in seiner Vertraulichkeit noch nie gegangen. Sah er in ihm den Ersatz für das, was er von seinem Sohne erhofft hatte?

Berry lehnte ermattet in der Ecke, mit geschlossenen Augen. Hans fühlte sich tief bewegt von dem Anblick. Was hatte der Mann gelitten diese letzten Tage über, und was wartete seiner noch, wenn er selbst vor ihn hintrat mit seiner Enthüllung!

»Die Verlobung Claires mit dem Grafen ist gelöst,« begann Berry unerwartet. »Es war dem Manne um mein Geld, nicht um mein Kind zu thun. Claire ist schwer getroffen. Nicht daß sie den Grafen liebte – ich weiß nun, daß ganz andere Beweggründe sie zur Einwilligung in die Verlobung bestimmten. Aber sie hat mit Entsetzen in den Abgrund der Lüge und Heuchelei gesehen, an dessen Rand sie sich begeben – ein Abscheu hat sie erfaßt vor dem schalen Getriebe der vornehmen Welt, eine Scham vor sich selbst; sie könnte leicht verbittert werden für ihr ganzes Leben. Sie kann jetzt doppelt einen Freund brauchen, an dem sie sich wieder aufrichtet, der ihr beweist, daß nicht alles Lüge ist auf dieser Welt. Und Sie sind dieser Freund, Hans, sind es von jeher gewesen. Sie haben sich aus falscher Bescheidenheit zurückgezogen von Claire, seit sie die Verlobte des Grafen war. Ich wunderte mich bei Ihrer sonstigen Energie, Ihrem Selbstbewußtsein, daß Sie so willig in den Schatten traten.« Sein Blick ruhte forschend auf Hans. »Oder hatten Sie einen anderen zwingenden Grund?«

»Ja, ich hatte einen solchen Grund,« erwiderte Hans fest.

»Und welchen? Ich verlange Offenheit, verlange Wahrheit nach so vieler Lüge, die ich erfahren.«

Hans fühlte, jetzt war die Zeit gekommen, die Last abzuwerfen, jetzt oder nie! Entschlossen begann er: »Ich liebe Claire –«

»Und fanden den Muth nicht, diese Liebe zu gestehen?«

»Ich hatte den traurigen Muth, dies zu thun, gestern hatte ich ihn. Aber ich fand nicht die Kraft, zugleich zu gestehen, warum ich so lange zögerte, warum dieser Muth eine Feigheit, ein Verbrechen ist, selbst jetzt noch, wo ich weiß, daß Claire mich liebt.«

Berry machte eine hastige Bewegung, die höchste Erregung malte sich in seinen Zügen.

»Aber jetzt will ich alles gestehen, rückhaltlos. Mein Vater – er ist nicht bloß ein armseliger Arbeiter, er ist … ein Verbrecher, ein Dieb, auf den die Polizei fahndet, der Sklave eines Genossen im Verbrechen, dessen Schweigen ich bezahle, der jede Stunde meinen Namen öffentlich brandmarken kann. Ich war zu feig, offen zu bekennen, und zu schwach, zu verzichten, so war ich nahe daran, den Frieden Ihrer Tochter, Ihrer Familie nicht weniger aufs Spiel zu setzen als dieser Graf. Ich wollte schweigen, mein Glück heimtückisch rauben, das Stillschweigen dieses Schurken weiter erkaufen. Jetzt wissen Sie alles, auch daß ich nicht der Mann bin, den Sie suchen.«

Berry schwieg, als Hans geendet hatte. Der Wagen fuhr schon durch die Allee, die zur Villa führte, an der Stelle vorbei, wo einst Marie Davis den Tod gefunden hatte.

»Und Claire liebt Sie also? Sie gestand Ihnen, daß Sie ihr Herz besitzen?« fragte Berry nach einer Weile.

Hans nickte stumm.

»Wo, wann that sie das?«

»Gestern Abend. Sie wollte einen Krankenbesuch machen, da traf ich sie auf dem Fabrikhof.«

Berrys Gesicht verrieth keine Überraschung. »Sie haben ihr keinerlei Andeutungen über den wahren Sachverhalt gemacht?«

»Ich wollte ihr alles sagen, allein ich konnte es nicht. Nur von einem Verhängniß sprach ich, das zwischen uns liege. Heute noch aber wollte ich reden.«

»Das ist schlimm, daß Sie so gesprochen haben,« entgegnete Berry, in dem ein Plan zu reifen schien. »Jedenfalls darf Claire nicht mehr erfahren, ich mache Ihnen das zur Pflicht. Verzichten Sie darauf, meine Tochter heute noch zu sehen, Ihr Geständniß abzulegen; ich werde Claire darüber verständigen. Wozu einen düsteren Schatten werfen auf ihr ganzes künftiges Leben und sie unnütz beschweren?«

»Unnütz beschweren, jetzt unnütz, das sehe ich ein,« wiederholte Hans tonlos. »Seien Sie außer Sorge, ich werde Fräulein Claire nicht sprechen. Ich verlasse heute noch Ihr Haus, die Stadt –«

»Sie bleiben!«

»Unter Claires Augen, ohne Hoffnung – unmöglich, für mich und Claire unmöglich!«

»Sie bleiben!« klang es noch befehlender.

In Hans regte sich ein Gefühl der Empörung über diesen kurzen Befehl, die einzige Antwort, die ihm auf die Enthüllung seiner Qualen geworden. Das war wieder der alte harte Berry! Schon lag ein herbes Wort auf den Lippen des jungen Mannes, da hielt der Wagen vor der Villa, Berry öffnete den Schlag. »Glauben Sie denn, ich opfere zum zweiten Male das Glück meines Kindes?« sagte er beim Aussteigen. »Kommen Sie morgen früh acht Uhr auf mein Bureau, ich will doch sehen, ob ich mit Ihrem ›Verhängniß‹ nicht fertig werde!« Mit herzlichem Drucke reichte er Hans die Hand und eilte die Treppe hinauf.

Sprachlos, fassungslos blieb Hans zurück. Er wiederholte die letzten Worte Berrys, zerlegte sie, forschte nach einem verborgenen räthselhaften Sinne – aber wie er sie auch wendete, sie waren nicht mißzuverstehen, sie bedeuteten die Erfüllung seiner Wünsche! Die Fesseln, an denen er vergeblich seit Jahren gezerrt, sie sollten fallen wie durch ein Wunder. Frei sollte er sein und frei werben dürfen um Claire! Wie betäubt von all den Eindrücken eilte er in seine Wohnung – er mußte allein sein mit seinem Glücke!

Es waren selige Stunden, die er in der Stille seines Zimmers verträumte, indem er sich mit glänzenden Farben seine Zukunft ausmalte, und doch konnte er nicht recht froh werden dabei. Was war es nur, was im tiefsten Grunde seiner Seele sich regte und eine reine Freude nicht aufkommen lassen wollte? Er hatte doch nun nichts mehr zu fürchten, weder den Vater noch diesen Holzmann … Ein Schauer überlief seinen Körper. Daß er das hatte vergessen können, dieses verdächtige »Geschäft«! Warum hatte er dem Kommerzienrath nicht wenigstens ein Wort der Warnung gesagt! Wenn es schon begonnen hätte, das Verbrechen, wenn es eben jetzt beginnen würde!

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Er lachte sich aus, schalt sich einen Träumer, einen Grillenfänger, der das alles zu seiner eigenen Qual erfinde – er arbeitete nicht mehr, wie es sein Körper früher gewohnt war, das viele Studieren, das ständige Sitzen und Grübeln machte das Blut schwer, das war es! Aber die Unruhe wollte nicht weichen. Endlich ertrug er es nicht länger, er eilte hinaus in die Nacht, fort in den Park, sich wie ein Dieb in den Schatten der Hallen drückend.

Leise schlich er um die Villa herum. Kein Licht brannte mehr, auch bei Claire nicht.

Die Nacht war finster, nur schwach hoben sich die Umrisse des Hauses gegen den Himmel ab. Er horchte gespannt – kein Laut! Erleichtert athmete er auf und wollte sich schon entfernen – da zuckte ein schmaler Lichtstreif blitzartig über das Gerüst, nur einen Augenblick, dann war wieder alles dunkel wie zuvor. Er wartete nichts regte sich. Also Einbildung seiner erregten Phantasie! Da – wieder zuckte es auf! Es kam vom ersten Stockwerk von rechts; auf der linken Seite lagen die Zimmer der Berryschen Familie, rechts waren gegenwärtig die Bureaus und die Kassenräume untergebracht, da das Erdgeschoß umgebaut wurde. So leise als möglich schlich er sich an das Gerüst, ein schwaches Geräusch drang von oben herunter. Mochte es sein, was es wollte, er durfte nicht länger zögern! Entschlossen stieg er die Leiter empor. Da knarrte ein Brett – einige Schritte vor ihm, dicht neben den Fenstern des Kassenraums, schien sich etwas zu bewegen.

»Wer da?« flüsterte Hans.

Keine Antwort, der dunkle Punkt stand regungslos still und verschwand dann plötzlich in der Nacht. Mit einem Sprung stürzte Hans nach vorwärts. Ein leises Zischen ertönte, eine dunkle zusammengekauerte Gestalt erhob sich vor ihm und huschte gegen die nächste Leiter. Mit einem Griffe hatte er sie erfaßt. Der Fremde rang lautlos mit seinem Angreifer, umfaßte ihn schlangengewandt und suchte ihn gegen den Rand des Gerüsts zu drängen. In diesem Augenblick zuckte wieder der Lichtstrahl auf, er traf gerade die Kämpfenden. Ein unterdrückter Aufschrei ertönte aus zwei Kehlen – Hans hatte Holzmann erkannt, dieser ihn.

»Laß' los!« keuchte der Verbrecher unter der Umklammerung des Gegners. »Er ist ja bei der Arbeit da drinnen – Narr!«

»Wer – der Vater?« Ein betäubender Schreck durchzuckte Hans, unwillkürlich erlahmte der eiserne Griff seiner Hände.

Holzmann ersah blitzschnell den Vortheil und rückwärts geneigt riß er sich mit der Kraft der Verzweiflung los. Aber die Wucht war zu groß, er verlor das Gleichgewicht, taumelnd griff er nach einer Stange des Gerüsts, doch ohne sie zu erhaschen … ein Schrei, und er stürzte in die Tiefe.

Athemlos lauschte Hans. Da flüsterte eine wohlbekannte Stimme hinter ihm: »Für Dich, Hans, für Dich wollte ich's thun – verzeih', wenn Du kannst! Und nun leb' wohl, ich geh' übers Wasser!«

Hans wandte sich um – ein dunkler Körper sprang zurück und schwang sich an einem Stützbalken des Gerüstes hinab … der Vater!

Im linken Flügel wurde es hell, ein Fenster öffnete sich, es war das Claires. Sie beugte sich heraus und horchte ängstlich. Hans bewegte sich nicht, sein Gehirn versagte den Dienst, er wußte nicht mehr, was thun.

Da tönte vom Hofe her ein lautes Stöhnen – Claire rief entsetzt um Hilfe.

Nun eilte Hans am Haus entlang, auf Claire zu. »Um unserer Liebe willen, sei still, Claire! Es ist keine Gefahr mehr … ich hörte Verdächtiges … ein Einbrecher … wir rangen und er stürzte hinab!« brachte er athemlos hervor.

»Hilfe, Hilfe … haltet den anderen, den alten Davis … er hat's nicht besser verdient als ich!« klang es in diesem Augenblick deutlich von unten herauf, von Schmerzensrufen unterbrochen.

Hans sank in die Knie. »Mein Verhängniß! Hörst Du es, Claire? Er spricht die volle Wahrheit!«

»Sein Vater – sein Vater – ein alter Dieb, ein Schuft!« tönte es aus der Nacht herauf.

Leute mit Lichtern kamen, durch den Lärm geweckt; Herr Berry selbst trat halb angekleidet aus dem Hause.

Hinter Claire erschien die Gestalt der Mutter im Zimmer, das ganze Haus war wach.

»Hörst Du es, Claire? Er spricht die volle Wahrheit!« wiederholte Hans, auf nichts achtend.

»Und das soll uns trennen – ein blindes Verhängniß? Nein, Hans, ich lasse Dich nicht, allen Dämonen zum Trotz, die sich zwischen uns drängen!« Sie klammerte sich fest an ihn.

Aus dem Zimmer rief es entsetzt: »Claire! Claire!« Zitternd am ganzen Körper sah die Mutter ihr Kind aus dem Fenster gebeugt, von den Armen eines Unbekannten umschlungen.

»Frei! Frei!« jubelte Hans und stürzte ungestüm davon.

Die Leute, die sich unten versammelt hatten, wußten sich den ganzen Auftritt nicht zu deuten. Der sterbende Mann, der offenbar vom Gerüst gefallen war, war schon still geworden, als sie kamen, und Berry hatte ihn ins Haus schaffen lassen. Die Scene mit Claire war ihnen durch das Gerüst verdeckt, sie hatten nur unverständliche Stimmen gehört, die bei dem allgemeinen Lärme nicht auffielen. Und jetzt erschien zu alledem noch Hans Davis unter ihnen, verstört, die Kleider beschmutzt und zerrissen, und fragte athemlos nach Berry. Man stellte von allen Seiten Fragen an ihn, er beantwortete sie nicht und verschwand eilig im Hauseingang, nachdem man ihm gesagt hatte, der Kommerzienrath sei in einem kleinen Raume zu ebener Erde, wohin man den Sterbenden gebracht habe.

Hans folgte dem Lichte, das aus einer halb geschlossenen Thür fiel, und trat in das Zimmer, wo Holzmann lag, den Stempel des Todes im Gesicht; Berry stand vor ihm. Ein wildes Lächeln zuckte um die Lippen des Verbrechers, als er Hans erblickte.

»'s hat doch nicht gelangt zum Vertuschen … er weiß alles, der Herr Berry … Gesegnete Mahlzeit zu der Suppe, Herr Davis!«

Hans blickte auf den Kommerzienrath, dessen finsteres Antlitz ihn das Schlimmste befürchten ließ. »Herr Berry,« sagte er düster, »man entrinnt seinem Schicksal nicht. Ich werde Ihnen die Räthsel dieser Nacht morgen erklären, soweit es der freche Mund dieses Gesellen nicht schon gethan hat.«

Berry machte eine abwehrende Bewegung. »Es sind mir keine Räthsel. Es handelt sich jetzt nur um eines. Ich habe Licht im Zimmer meiner Tochter gesehen. War sie Zeugin dieser Scene?«

»Ja … und ich sprach – sie weiß alles!«

»Und sie war gebrochen?«

»Sie schwor, auszuharren bei mir, allen Dämonen zum Trotz.«

»Wohl ihr! Sie hat die Feuerprobe bestanden, der ich sie nicht auszusetzen wagte. Komm', Hans, auch uns soll diese Nacht nicht trennen.« Er breitete die Arme aus, und Hans warf sich ihm wortlos an die Brust. Da ertönte vom Bette her ein wilder Aufschrei – Holzmann hatte geendet.

»Komm', mein Sohn,« sagte Berry, »Dein Verhängniß ist tot. Morgen beginnt ein neues Leben, über das die Vergangenheit keine Macht haben soll.«

* * *

Das Gericht hatte die Untersuchung über den Einbruch bei Berry bald wieder eingestellt. Hans hatte den Hergang wahrheitsgetreu zu Protokoll gegeben, nur den Namen des zweiten entflohenen Einbrechers hatte er verschwiegen. Trotz aller Nachforschungen war über dessen Person und Verbleib kein Anhalt zu gewinnen. Viel hatte zur raschen Erledigung der Sache auch der Einfluß des Kommerzienraths beigetragen, der dringend gebeten hatte, ihn und die Seinigen, die von dem vorhergegangenen Familienunglück schwer genug getroffen seien, mit allen Weiterungen zu verschonen, die ja diesem Thatbestand gegenüber doch eigentlich zwecklos seien.

In der Stadt liefen eine Zeitlang die verschiedensten Lesarten um über die Ereignisse jener Nacht, dann verschwand der willkommene Gesprächsstoff, der alle Kreise beherrscht hatte, spurlos in dem rastlosen, aus unergründlicher Tiefe immer Neues zur Oberfläche tragenden Lebensstrom der Großstadt.

Erst nach einem Jahre wurde man wieder nachhaltiger an die alte Geschichte erinnert, als im Berryschen Hause die Hochzeit Claires mit Hans Davis standfand. Man hatte viel Wichtiges und Unwichtiges darüber zu reden. »Eine rührende Illustration zu den Leitartikeln, die gegenwärtig die Presse des ganzen Landes füllen – die Einigung des Kapitals mit der Arbeit!« spottete man in den Kreisen, welche nachgerade dem Kommerzienrath die Schuld beimaßen, daß eines der angesehensten Glieder der Gesellschaft, Graf Maltiz, ruiniert und mit Hinterlassung einer ungemein standesgemäßen Schuldenlast nach Amerika geflohen war. »Wieder einmal ein Beweis, diese Hochzeit, daß das Kapital doch nicht so hartherzig ist, wie man täglich hören muß, daß der richtige Mann den Weg zur Anerkennung und sogar zu glänzendem Lose noch immer sich bahnen kann!« so hieß es bei anderen.

Die beiden aber, um die sich alle diese Gespräche drehten, Hans und seine Gattin, bekümmerten sich nicht um die Welt und ihre Meinung; still, ganz der Arbeit und sich selbst gewidmet, lebten sie in dem einfachen Hause, das der Kommerzienrath für den neuen Direktor seiner Werke, Hans Davis, seiner Villa gegenüber hatte bauen lassen. Die Ketten eines dunklen Verhängnisses – sie waren zerrissen, aus ihnen hatten die beiden Glücklichen mit starker Hand eine neue ewige Fessel geschmiedet – die Fessel inniger Liebe und Treue.


Druck von Alexander Wiede
in Leipzig.

 


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