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6.

Otto Berry hatte sein heißersehntes Ziel erreicht, er stak glücklich in der schmucken Uniform eines Kavalleristen. Seine Eitelkeit überwand die für seinen verzärtelten Körper großen Anstrengungen des Dienstes, sie half ihm auch über die schmerzliche Wahrnehmung hinweg, daß durchaus nicht, wie er gehofft, ein müheloses Genußleben für ihn begonnen hatte. An Stelle des Schlenderns in kleidsamer Uniform, des Säbelklapperns und Kaffeehaussitzens, wovon er geträumt, galt es zunächst, einer eisernen Disciplin, hohen körperlichen und geistigen Anforderungen zu genügen und manchmal dachte er wohl reuevoll daran, daß dagegen ein Leben im Comptoir an der Seite des nachsichtigen Vaters die reinste Spielerei gewesen wäre. Aber in einem Punkte hatte er sich doch nicht getäuscht, und das versöhnte ihn mit allem anderen: in der gesellschaftlichen Bevorzugung seines neuen Standes. Der Offizierssäbel war das Symbol einer überlegenen Kaste; die höchste Arbeitskraft, ergraute Weisheit, Charakter, und Talent, alles stellte der schmale Stahl in Schatten. Was Wunder, daß Otto in seinem aufs Äußerliche gerichteten Sinn es kaum erwarten konnte, bis auch ihm das ersehnte Reich sich öffnete. Einstweilen mußte er sich wohl oder übel mit der bescheidenen Rolle begnügen, die ihm seine kürzlich erfolgte Ernennung zum Fähnrich gestattete.

Es hatte einer sehr nachdrücklichen Aufforderung des Papas bedurft, um ihn in dieser Stimmung zu veranlassen, bei dem Mahle, das den Fabrikbeamten gegeben wurde, zu erscheinen, und er hatte seine Zusage an die Bedingung geknüpft, einige Kameraden mitbringen zu dürfen. Abgesehen von der Mama, welche er durch diesen vornehmen Zuwachs – es waren Träger hochadliger Namen – geradezu zu Dank verpflichtete, hoffte er auch, dem Vater zu imponieren und ihn versöhnlicher zu stimmen. –

Hans machte zu dem Essen sorgfältig Toilette; er fühlte, daß von diesem ersten Auftreten als selbständiger Mann seine Zukunft abhängig sein könne. Frau Berry schrieb gewiß ihrer Tochter über den Abend nach Paris – wenn es dann hieß, er habe sich schlecht ausgenommen in der vornehmen Gesellschaft! Die Röthe stieg ihm ins Gesicht bei dem bloßen Gedanken. Er war nicht eitel, schon die strenge Arbeit ließ ihn nicht dazu kommen, aber heute zum ersten Male verdrossen ihn seine schwieligen derben Hände, von denen der Ruß der Arbeit nicht weichen wollte, heute betrachtete er sich zum ersten Male lange im Spiegel. Das rastlose Vorwärtsstreben, die Sorge um den Vater, die Erfahrungen in der »Fackel« gaben ihm ein älteres Aussehen, als ihm an sich zukam. Ein dunkler Bartanflug ließ die weiße Farbe seines Gesichts um so lebhafter hervortreten. Das schwarze Auge blickte scharf mit frühem männlichen Ernste, die Stirn war umrahmt von kurzlockigem, glänzend schwarzem Haar. Hans konnte nicht für schön gelten, dazu waren seine Züge zu derb und unregelmäßig, aber er hatte schon jetzt einen männlichen Charakterkopf, der durch seine gehaltvolle Kraft auffallen mußte.

Frau Berry war sichtlich überrascht, als der junge Mann in den Salon trat; sie hatte ihn seit Claires Abreise nur selten und dann nur oberflächlich gesehen, und so war er ihr immer noch als Kind, als der Spielgenosse ihrer Tochter in Erinnerung. Heute früh erst hatte sie einen Brief von Claire erhalten, in dem sich diese angelegentlich nach Hans Davis erkundigte; sie hatte sich gefreut über die Gutherzigkeit des Kindes, das mitten im Pariser Leben des armen Knaben gedachte; jetzt beim Anblick des jungen Mannes schoß ihr plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Es war doch eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit gewesen, die beiden jungen Leute so lange wie Kinder unbeachtet miteinander verkehren zu lassen! Wie leicht hätte das schlimm ausfallen können … oder war es schon schlimm ausgefallen? Hatte Claire aus tiefer liegenden Gründen als aus Gutherzigkeit sich so angelegentlich nach dem alten Kameraden erkundigt? Aber nein, das war ja die reine Unmöglichkeit, Unsinn! Ein Monteur, der Sohn eines Arbeiters, und Claire Berry! Trotzdem sie sich auf diese Weise zu beruhigen suchte, wollte doch der thörichte Gedanke, der sie verfolgte, nicht weichen. Aber sie war nicht gewohnt, sich von halben Befürchtungen lange quälen zu lassen, und beschloß, der Sache rasch auf den Grund zu kommen. Sie war noch allein mit Hans, der sich in seiner freudigen Unruhe fast allzu pünktlich eingestellt hatte, so konnte sie ungestört ihren Zweck verfolgen. Scheinbar harmlos begann sie von der Kindheit ihres Pflegebefohlenen zu reden, von einzelnen Ereignissen daraus, die in enger Beziehung zu Claire standen.

Hans, dessen Herz bei diesem vertraulichen Gespräch und den alten Erinnerungen höher und höher schlug, hatte Mühe, seiner Aufregung Herr zu bleiben. Er war sich bewußt, wie viel er durch ein unvorsichtiges Wort verrathen könne, und widerstand daher lange der Versuchung, sich nach Claire zu erkundigen. Endlich vermochte er doch die langersehnte Frage nicht mehr zurückzuhalten.

»Wie geht es Fräulein Claire?« Er fühlte, daß er glühend roth wurde, und schlug vor dem forschenden Blicke der Kommerzienräthin verwirrt die Augen nieder.

Frau Berrys Befürchtungen regten sich mit verdoppelter Macht. Mit bewußter Grausamkeit gegen Hans, dessen Frage so herzlich geklungen hatte, erwiderte sie daher leichthin:

»Gut geht es ihr, nur zu gut! Sie vergißt darüber fast ihre Heimath, ihre Eltern. Sie schreibt wenig und, wenn es geschieht, sichtlich zerstreut, mitten aus der Hochfluth des Pariser Lebens heraus. Gott, ich gönne es ihr von Herzen, sie soll ihre Jugend genießen! Aber sie wird nicht mehr zu kennen sein, wenn sie wieder kommt.«

»O, das glauben Sie gewiß nicht, Frau Kommerzienrath!« erwiderte Hans in einem schmerzlichen Tone.

»Je nun, die Welt ist nun einmal nicht für Kinder da,« entgegnete sie, »und Claire war ein Kind, ein rechtes Kind, das nie ernst zu nehmen war – immer seinen Einfällen folgend, wie damals, als sie ein lebendiges Menschenkind, das jetzt in Gestalt eines jungen Mannes vor mir sitzt, gegen einen Automaten eintauschen wollte.«

Die Räthin sprach nachlässig, scheinbar gleichgültig mit dem Fächer spielend. Doch Hans fühlte deutlich genug die Absicht heraus, ihm den Abstand zwischen Claire und ihm zu zeigen.

»Der Automat liegt längst in der Rumpelkammer, vergessen, werthlos, ein toter Mechanismus; das Menschenkind aber lebt, fängt erst an, recht zu leben, und wird alles dran setzen, nicht auch in die Rumpelkammer geworfen zu werden,« versetzte er. Seine Schüchternheit war verschwunden; an der Räthin war es jetzt, vor diesen flammenden Augen den Blick zu senken.

In diesem Augenblick betrat Herr Berry den Salon. Hans verneigte sich ehrfurchtsvoll und bedankte sich, noch erregt von dem Gespräch, in überstürzten Worten für seine Beförderung und Einladung.

Herr Berry betrachtete mit Wohlgefallen den jungen Mann. »Na, Emilie, was sagst Du zu unserem Schützling, sieht er nicht besser aus als mancher Kavalier?« rief er in bester Laune. »Hast Du ihm die Grüße Claires schon ausgerichtet? Sie erkundigt sich in jedem Briefe nach Ihnen, Herr Davis?«

Hans rächte sich durch einen vielsagenden Blick auf die Kommerzienräthin, die ihren Ärger nicht verbergen konnte; ein triumphierendes, spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Das Klirren von Säbeln unterbrach die für die Räthin peinliche Scene. Otto trat ein, von zwei Kameraden begleitet.

»Graf Troste« – »Baron Sina,« stellte er die beiden Herren seinen Eltern vor, mit Absicht Hans völlig übersehend.

»Herr Davis, Monteur in meiner Fabrik« – übernahm in auffälliger Weise Herr Berry die Vorstellung seines Schützlings.

»Ah, Sie auch hier? Gar nicht bemerkt – pardon!« schnarrte Otto in den eben üblichen militärischen Nasenlauten, die er bereits bewundernswerth beherrschte. Eine leise aufsteigende Röthe ließ dabei auf seiner Stirn eine kleine Narbe erscheinen, die Hans wohl kannte.

Inzwischen hatten sich die eingeladenen Beamten im Vorzimmer versammelt, und der Kommerzienrath bot seiner Frau den Arm, um die neuen Gäste zu begrüßen.

Man begab sich zu Tisch. Hans kam auf Anordnung des Herrn Berry mitten unter die Fähnriche zu sitzen, und Otto fand das so unpassend, daß er sich entschuldigen zu müssen glaubte. »Ich sagte es Euch ja voraus – sehr gute Weine, aber etwas gemischte Gesellschaft für heute,« flüsterte er den Kameraden so laut zu, daß Hans es hören mußte.

Ein Gefühl der Verachtung stieg in diesem auf gegenüber dem feigen Benehmen des einstigen Spielgenossen, gegenüber diesen Herren, die demnach nur den guten Weinen des Herrn Berry zuliebe gekommen waren.

Das allgemeine Gespräch drehte sich anfangs selbstverständlich um geschäftliche Ereignisse. Die neuen großen Bestellungen von Lokomotiven, die der Staat für seine Bahnen in den Berryschen Werken gemacht hatte, beschäftigten die Gemüther; jeden Tag fand man Verbesserungen in der Einrichtung und Vertheilung der Arbeit, machte man neue Erfahrungen in Bezug auf Material und Bauart.

Hans hielt sich bescheiden zurück, obwohl ihm das Besprochene wohl bekannt war und er lebhaften Antheil an der ganzen Sache nahm; handelte es sich doch um seine Lieblinge, die Maschinen, deren geheimste Regungen er belauschte!

Otto unterhielt sich unterdessen angelegentlich mit den Fähnrichen über die jüngsten Vorgänge auf dem Gebiet der Kunst, des Theaters, des Rennplatzes; er sprach über alles in demselben überlegenen, geringschätzigen Tone, nur bei der Erörterung der Rennen erwärmte er sich etwas und nahm eine respektvolle, der »Wichtigkeit« des Stoffes angemessene Haltung an.

Er that sich nicht wenig zu gute darauf, in diesen Dingen schon völlig bewandert zu sein, und wurde nur dann etwas in seinem Selbstgefühl gestört, wenn ihm bei einer nach seiner Meinung besonders gelungenen Behauptung sein Vater einen ironischen, fast verächtlichen Blick zuwarf, der einen schmerzlichen Ausdruck gewann, sobald er auf Hans hinüberschweifte, welcher auf einzelne Fragen des Direktors treffende, ernstes Studium verrathende Antworten gab.

Es handelte sich um die überaus wichtige Verkuppelung der Triebräder, um eine Erhöhung des Adhäsionsgewichts, von welchem die Zugkraft der Maschine allein abhängig ist. Hans hatte diesem Gegenstand schon lange seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt und war auf rein empirischem Wege zu einer neuen Idee gelangt, deren Ausführung ihm zwar noch nicht ganz klar war, die aber an sich durchaus nicht außer dem Bereich der mechanischen Möglichkeit lag. Der Direktor und Herr Berry wechselten vielsagende erstaunte Blicke und hörten den Auseinandersetzungen des jungen Mannes mit sichtlichem Eifer zu.

Da fiel der Name »Claire« in der Unterhaltung der anderen Partei … Hans wurde zerstreut, verlor die Klarheit – die Triebräder und Kurbelstangen verwirrten sich plötzlich, eine gewaltigere Kraft war auf sein Gedankenbild gestoßen und zertrümmerte es.

»Claire bewegt sich mitten in den schöngeistigen Kreisen von Paris, verkehrt mit den Größen der Kunst und Litteratur – ich beneide sie darum! Ihre Briefe beschämen mich geradezu, ich ersehe daraus, wie weit wir zurück sind. Das gute Kind wird sich schwer wieder in die hiesigen Verhältnisse finden« – bemerkte eben Frau Berry.

»Allerdings, wenn sie hier nur von Maschinen-Verkuppelungen hört, oder wie das Zeug heißt, dann wird sie wohl auf und davon laufen, und das Heimweh nach Paris ist ihr dann nicht zu verübeln,« entgegnete Otto spitzig.

»Und doch bin ich überzeugt, daß Fräulein Claire sich für dieses Zeug lebhaft interessieren wird, sobald sie weiß, daß es von größter Wichtigkeit werden kann für das Haus ihres Herrn Vaters,« rief Hans, fortgerissen von seiner Erregung.

»Bravo Davis! Sie haben meinen Herrn Sohn gut abgeführt!« Eine starke Gereiztheit klang aus diesen Worten des Kommerzienraths.

»Abgeführt?« fragte Otto, und die Narbe auf seiner Stirn brannte hochroth. »Ich merke nichts davon und kann Herrn Davis gegenüber wohl auch nie in diese Lage kommen!«

Die Entgegnung sollte scherzhaft sein, aber aus dem leichten Gesprächston klang tiefe Gereiztheit.

»Ich freue mich wirklich,« setzte er dann zu seinem Vater gewendet hinzu, »wenn Claire wiederkommt, sie wird ein anderes Leben bringen und eine andere –«

Er stockte.

»Gesellschaft, meinst Du? Sprich' es nur aus!«

»Nicht gerade, aber mehr Abwechslung, meine ich. Und das wird Dir selbst gut thun, Papa, und Dich erheitern. Ein Kreis von Kavalieren, Künstlern, Schriftstellern, kurz das, was man ›Welt‹ nennt, wird sich hier versammeln. Oder willst Du Claire etwa zum weiblichen Leiter Deiner Werke heranbilden, zu einer Lokomotivenbauerin? Dafür ist Paris eine schlechte Schule!«

»Weder das eine noch das andere wird ausschließlich geschehen. Warum soll sich nicht beides vereinigen lassen, der Verkehr mit dem, was Du ›Welt‹ nennst, und die Pflicht? Ich bin unter strenger Arbeit aufgewachsen, mitten im Gewoge der Fabrikthätigkeit, ich kenne daher den beglückenden Einfluß der Kunstgenüsse auf den Menschen zu wenig, um entscheidend darüber sprechen zu können; doch glaube ich daran. Aber jedenfalls ruht das wahre Glück, die echte Befriedigung nicht in solch schöngeistiger Beschäftigung allein, die doch immer nur ein Genießen ist, sondern in praktischer Arbeit, in dem Schaffen greifbarer Werthe … Sie mögen lächeln, meine Herren, über diese Anschauung, sie veraltet nennen –« fuhr er fort, indem er sich zu den Kameraden seines Sohnes wandte, deren Lippen sich wirklich verrätherisch kräuselten – »aber dies ist nun einmal meine Überzeugung. Ich bin daher auch kein besonderer Freund der Künstler, Dichter, Musiker von Fach – was diese schaffen, das sind in meinen Augen keine greifbaren Werthe; sie sind für mich mehr oder minder Drohnen.«

»Demnach bist Du auch ein abgesagter Feind aller Kavaliere?« fiel Otto gereizt ein.

»Wenigstens kein Verehrer von ihnen – wenn sie nichts weiteres sind,« war die mit starker Betonung gegebene Antwort.

Jetzt verlor Otto vollends die Ruhe. »Aber Papa! Was sollen sich die Herren hier denken? – Papa meint es nicht so, Troste –«

»Gewiß meine ich's so; aber die Herren können und werden sich nicht dadurch getroffen fühlen, sie sind ja mehr als Kavaliere – sind die Beschützer dessen, was wir hervorgebracht haben, vor fremden Angriffen, und so lange diese Beschützer nöthig sind und mit Aufopferung und Pflichttreue ihrem Beruf nachkommen, wird jeder vernünftige Mensch sie ehren –«

Man war allgemein froh über diese Wendung des allen peinlich gewordenen Gesprächs. Nur Otto beruhigte sich nicht, er fühlte den Hieb und wandte sich in seinem Zorne gegen Hans, der nach seiner Meinung allein die Schuld an dieser Erörterung trug.

Wenig schlagfertig wie er war, suchte er vergeblich nach einem verletzenden und an diesem Orte möglichen Worte. Dadurch noch mehr gereizt, griff er zum nächsten besten, zu einer zufälligen Beobachtung, die in gar keinem Zusammenhang stand mit dem eben Gesprochenen.

»Sagen Sie einmal, Sie künftige Leuchte unter den Maschinenmenschen, was Sie jeden Sonntag in der äußersten Westvorstadt, in der Kleegasse – Verzeihung, meine Herren, daß ich diesen Namen hier nenne – zu suchen haben? Ich hatte bereits zweimal das Vergnügen, Ihnen auf dem Wege zur Kaserne dort draußen zu begegnen – einmal kamen Sie eben heraus, einmal gingen Sie eben hinein. Machen Sie da auch Studien über Triebräder, Verkuppelungen und dergleichen – was?«

Hans wechselte die Farbe, das Messer zitterte in seiner Hand und Herr Berry stutzte sichtlich. »Ein Spaziergang führte mich hinaus – ich verirrte mich –« erwiderte Hans unsicher und verwirrt.

Allen fiel sein Benehmen auf, Otto staunte selbst über die unerwartete Wirkung seiner Worte; alles, was er gehofft hatte, war, den Verhaßten durch seine hämische Äußerung in Verlegenheit und vielleicht für einen Augenblick in eine schlimme Beleuchtung zu bringen; nun ermuthigte ihn dessen Unruhe, weiter zu gehen; daß Papa auch jetzt wieder für seinen Schützling Partei nehmen würde, war nicht zu befürchten, denn eine wohlbekannte Falte erschien auf der Stirn des Kommerzienraths, als er erwartungsvoll zu Hans hinübersah. Der aber schien gar nicht kampfbereit und blickte ängstlich vor sich hin.

»Zweimal verirrt man sich doch nicht so leicht an derselben Stelle,« warf Otto nachlässig hin, »vollends ein Maschinist wie Sie, der sich in dem Gewirr unzähliger Schrauben und Triebräder zurechtfinden muß. Wenn Sie keine bessere Erklärung finden können –«

»Ich suche keine, da ich Ihnen keine Rechenschaft über die Verwendung meines Sonntags abzulegen habe.«

Er betonte das »Ihnen« stark mit einem Blicke auf Herrn Berry, durch den dieser bewogen wurde, so nachdrücklich das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu leiten, daß sein Sohn gezwungen war, zu folgen. Aber trotz der Bemühungen des Kommerzienraths wollte keine unbefangene Stimmung mehr aufkommen; der Zwiespalt zwischen Vater und Sohn war zu offenbar hervorgetreten, und das Bewußtsein dieser Spannung wirkte bedrückend.

Am unglücklichsten war Frau Emilie, die sich alle Mühe gab, durch gesteigerte Liebenswürdigkeit den übeln Eindruck zu verwischen, den »leider« die Ansichten ihres Mannes auf die beiden Kameraden des Sohnes hatten machen müssen. Sie kannte ihren Gemahl nicht mehr, ein fremder Geist sprach aus ihm. Wer hätte heute in ihm den Nachkommen der Marquis von Berry erkennen sollen! Wie der nächste beste Volksredner hatte er gesprochen, und gerade heute mußte das sein in Gegenwart adliger Gäste, wie sie sonst in ihrem Hause sich nicht einfanden! Zum ersten Male während ihrer Ehe fühlte sie, die Tochter eines verarmten, aber altadligen Geschlechts, in ihrem Familienstolz sich verletzt.

Erleichtert athmete sie auf, als ihr Gatte früher denn gewöhnlich die Tafel aufhob und die Gäste sich rasch entfernten; weiß Gott, was am Ende noch alles hätte zum Vorschein kommen können! Otto verabschiedete sich mit seinen Kameraden.

»Ich muß noch ein paar Stunden in guter Gesellschaft zubringen, Mama, das wirkt reinigend,« sagte er. »Wir gehen noch ein wenig in den Klub.«

Frau Emilie seufzte.

»Ich finde es ganz begreiflich, mein Sohn, es war ein schrecklicher Abend.«

»Hoffen wir auf Claire, sie wird unsere Bundesgenossin sein und durch Papas Pläne sehr bald einen Strich machen. Was ich dazu thun kann, soll geschehen.«

Mit einem Handkuß nahm Otto Abschied von der Mutter, die bedenklich und besorgt aufathmend das Haupt schüttelte, als sei ihre Hoffnung auf Claire nicht eben zuversichtlich. – –

»Folgen Sie mir, Herr Davis!« sagte Berry zu Hans, als sich dieser empfehlen wollte. In tiefer Erregung kam Hans der Aufforderung nach. Die widersprechendsten Gefühle stürmten durch seine Brust. Nun wird der Kommerzienrath Rechenschaft verlangen über seinen Aufenthalt in der Kleegasse, und wenn er die Wahrheit erfährt, wird er sicher seine Hand zurückziehen, den Schuldigen entlassen – der ganze Zukunftstraum ist zertrümmert. O diese Ketten, an die ihn das Schicksal geschmiedet, an denen es ihn willenlos herumzerrte – sollten sie denn ewig klirren? Waren sie nicht zu zerreißen mit starker Hand? Was war zu thun? Frei bekennen und die Folgen muthig tragen oder feige lügen und ein andermal vorsichtiger sein – so stand die Wahl.

Die Minute, die verging, bis er im Arbeitszimmer Berrys stand, dünkte Hans eine Ewigkeit.

»Setzen Sie sich!« begann der Kommerzienrath, als er in dem dunklen Raume Licht gemacht hatte.

Es galt also ein längeres Verhör. Aber Herr Berry sah nur sehr nachdenklich, nicht erregt aus – das gab Hans seine Fassung zurück.

»Sie sind ein guter Zeichner, Herr Davis, wollen Sie mir morgen Ihren Gedanken über die vorhin erwähnte Verkuppelung bei den Lokomotiven genau aufzeichnen? Er interessiert mich, und ich werde ihn von einem Ingenieur auf seine Verwendbarkeit prüfen lassen.«

Hans konnte seine Überraschung über diese unerwartete Wendung nicht verbergen.

Berry lächelte.

»Beruhigen Sie sich, ich werde dafür sorgen, daß Ihnen die Ehre und der Ertrag der Erfindung zugute kommt, wenn etwas an der Sache ist. Aber geben Sie sich keiner überstürzten Hoffnung hin, unter hundert scheinbar sehr geistreichen Problemen der Art zeigt sich vielleicht nur eines praktisch verwerthbar. Immerhin ist es für einen jungen Mann Ihres Alters und Ihrer Vorbildung schon sehr viel, wenn er überhaupt auf neue Ideen kommt. Und ich weiß das sehr wohl zu schätzen.«

»Ich werde mein Möglichstes thun, die Zeichnung zu machen, obwohl ich selbst noch nicht ganz im klaren bin, aber etwas ist daran, das fühle ich bei der Montierung einer jeden Maschine von neuem,« erwiderte Hans beglückt.

»Gut.«

Berry stand auf.

»Nun zu etwas anderem. Was hatten Sie an den beiden Sonntagnachmittagen in der Kleegasse zu suchen? Es ist das doch ein sonderbarer Aufenthalt. Sprechen Sie offen!«

Hans zuckte zusammen und hol jetzt plötzlich den Kopf, den er, im Nachdenken über die zu entwerfende Zeichnung, gesenkt hatte. Da fiel sein Blick auf ein Gemälde über dem Schreibtisch – Claire als Mädchen, eine Puppe unter dem Arme, das liebe etwas trotzige Gesichtchen von blonden Locken umwallt; so hatte er sie in frühester Erinnerung. Sein Auge blieb starr daran haften, als habe er die Frage überhört.

Berry entging es nicht, er wartete ruhig, doch mit einer gewissen Spannung in den Zügen.

»Ich war bei meinem Vater!« klang es dann fest aus dem Munde von Hans; sein Blick ruhte noch immer auf dem Bilde, als spreche er nur zu Claire.

»Ich wußte es. Gut, daß Sie die Wahrheit gesagt haben. Ich will Ihnen nicht vorhalten, was zu thun Ihre Pflicht gewesen wäre, ich will Ihnen einfach die Last abnehmen, mit der Sie doch nicht fertig werden können. Gehen Sie nächsten Sonntag wieder hin und bestellen Sie Ihren Vater für Montag früh acht Uhr zu mir aufs Bureau – es ist ja nicht anzunehmen, daß ihn jemand erkennt. Ich werde für ihn auf eine Weise sorgen, daß er Ihren Weg nicht weiter zu kreuzen braucht, verbitte mir aber dann jede weitere Gefühlsseligkeit von Ihrer Seite. Es giebt Nothwendigkeiten im Leben, die grausam zu sein scheinen und es manchmal auch sind, mit denen man aber rechnen muß.«

Hans war erschüttert. Dieser Mann häufte mit kalter Miene und dürren Worten Wohlthat auf Wohlthat. Jetzt fielen sie ja – die Ketten, die sich von Tag zu Tag enger um ihn geschlungen hatten, nun war er frei!

»Herr Kommerzienrath, wie soll ich Ihnen danken!« stammelte er verwirrt.

»Mit einer guten Zeichnung vorderhand. Gehen Sie nur rasch daran, die Sache hat Eile! Gute Nacht, Herr Davis!« Berry kehrte sich um und machte sich über seine Papiere. Hans war entlassen, kurz wie immer, als habe sich nichts weiter ereignet.

Mit einem Gefühl der Erlösung wanderte Hans durch die stille Nacht nach Hause; das gefährliche Geheimniß war weggewälzt von seiner Brust; wenige Tage noch und er sollte zum letzten Male die »Fackel« betreten. Daß sich der Vater weigern würde, der Aufforderung Berrys zu folgen, war ja doch undenkbar. Jetzt bot sich dem Unglücklichen endlich die Möglichkeit, herauszukommen aus seiner jetzigen Umgebung und zugleich zu menschenwürdigerer Arbeit zu gelangen, und damit mußte der böse Geist von ihm weichen, vor dem Hans zitterte, mußten jene wilden Anfälle aufhören, die den Verbitterten auf die Bahn des Verbrechens zu reißen drohten.

Vergeblich suchte Hans den Schlaf; seine Gedanken kehrten immer aufs neue zu seiner Erfindung zurück, deren Bild ihn unausgesetzt verfolgte. Zuletzt kleidete er sich wieder an, holte Reißbrett, Lineal und Feder hervor und begann beim Scheine der Lampe zu zeichnen, zu rechnen. Nie war sein Geist so frei, so klar gewesen. Rasch entfernte er den Aufriß einer Lokomotive, der vor ihm lag, er störte nur seine rege Phantasie, die alles, was hier in starrer Ruhe vor ihm stand, in lebendiger, ineinandergreifender Bewegung erblickte.

Stunden verrannen. Endlich verlangte die Natur ihre Rechte. Das Zimmer um ihn her verschwand. Aber noch im Traume sah er die arbeitende Maschine. So wie er sich's gedacht, paßten die einzelnen Theile ineinander, Rad an Rad, Kurbel an Kurbel. Und plötzlich griffen die Räder und Kurbeln ineinander, in rasender Eile sich vorwärts bewegend. Es brüllte und stampfte und dampfte dahin, über das weiße Papier hinaus, hinaus aus der Stube, an der Stadt vorbei, durch Wälder und Felder, über Brücken und Dämme, durch finstere Tunnels – und er selbst stand auf der Maschine, die Steuerung in der Hand, jauchzend über die stürmische Fahrt. Nun blitzte ein Meer von Lichtern durch die Nacht, die Maschine sauste mitten hinein, mitten durch eine dunkle schreiende Menschenmasse, über große Plätze, durch breite Straßen, bis vor einen mächtigen Palast – da hielt sie mit einem Rucke. Unter dem Portal stand eine vornehme Dame, ganz in Weiß, Blumen im Haar, vom Lichte umstrahlt, und er sprang hinab von der qualmenden Maschine, stürzte in ihre ausgebreiteten Arme, in die Arme Claires! Und alle jubelten und jauchzten umher – nur das Pfeifen der Maschine tönte schrill dazwischen. Eben wollte er zur Lokomotive zurück, die gellende Pfeife abzustellen, da erwachte er, den Zirkel noch in der Hand.

Verstört hob er den Kopf, der auf dem Reißbrett geruht hatte, auf der vollendeten Zeichnung. Im Dämmerschein des Morgenlichts, das zum Fenster hereinfiel, hoben sich sauber und klar in der Mitte des weißen Papieres die Linien der Maschine ab. Allein Hans achtete nicht weiter darauf, nur die Bilder seines Traumes suchte er sehnsüchtig festzuhalten. Im Fabrikhof erwachte schon das Leben – die Arbeit rief! Er löste die fertige Zeichnung ab, legte sie in einen Umschlag und übergab sie dem Mädchen, das ihm sein bescheidenes Frühstück brachte, mit der Weisung, das Paket noch diesen Morgen ins Bureau des Herrn Kommerzienraths zu bringen. Dann ging er ernst und ruhig wie immer hinüber in die Monteurwerkstätte.

* * *

Am nächsten Sonntag machte sich Hans früher als sonst auf den Weg zur Kleegasse. Er konnte den Augenblick nicht mehr erwarten, wo er seiner Sorge ledig sein würde, und eine gewisse Unruhe beschlich ihn, ob sein Vater auch willfährig sich erweisen würde. Zugleich trat der Vorgang mit Holzmann am vorigen Sonntag wieder in allen Einzelheiten vor sein Auge und steigerte seine Qual.

Ohne das Wirthszimmer zu betreten, begab er sich auf einer Hintertreppe sofort hinauf zur Kammer des Vaters. Sie war heute verschlossen. Er pochte ungeduldig an die Thür – keine Antwort! Also nicht zu Hause! Vielleicht war er unten in der Wirthschaft.

Das Schanklokal war überfüllt, ein wüster Lärm herrschte an allen Tischen und über dem ganzen Raume lag ein dicker Dunst von Branntwein und Tabaksrauch. Noch nie war ihm der Ort so abstoßend erschienen. Forschend hielt er Umschau, aber auch hier war der Gesuchte nicht zu erblicken.

Da wurde er von der Wirthin bemerkt. »Warten Sie einen Augenblick!« rief sie ihm zu. Aus einer Schublade am Schenktisch holte sie einen beschmutzten zusammengefalteten Zettel, den sie ihm mit einem neugierigen Blicke übergab. Ohne die Frau weiter zu beachten, entfaltete er das Papier und las bei der grauen trüben Beleuchtung mit klopfendem Herzen die unbeholfene Schrift.

 

»Ich will Dir nicht weiter im Wege stehen, und das Kommandieren vertrage ich auch nicht, darum verschwinde ich. Die Stadt ist ja groß. Freu' Dich, so viel Du willst, mir ist auch wohler so. Wir passen nicht zusammen. Vielleicht glückt's mir auch einmal, dann werde ich mich vielleicht melden. Bis dahin adieu! Sei gescheit und sorge für Deinen Vortheil, alles andere ist fauler Witz, ich pfeife drauf.

J. D.«

 

Als Hans zu Ende gelesen hatte, schwamm vor seinen Augen alles durcheinander in einem brausenden Nebel, aus dem fahle Lichter leuchteten. Mühsam faßte er sich. Ein Gedanke stieg in ihm auf – er rief die Wirthin, die sich mittlerweile entfernt hatte. »Erinnern Sie sich noch des Mannes, welcher vorigen Sonntag bei Davis und mir war?« fragte er erregt.

»Freilich erinnere ich mich, der Holzmann war's,« entgegnete die Frau.

»Ganz richtig, Holzmann heißt er. War dieser Holzmann während der Woche öfters bei Davis?«

Die Wirthin sah ihn mißtrauisch an. »Ich mag das Spionieren nicht,« sagte sie dann gehässig. »Ich merke die Sache schon lange: mich wundert nur, daß er's so lange ausgehalten hat, der Davis, er ist sonst nicht so. Und so durchsichtig wie Sie ist mir noch keiner von der Sorte vorgekommen. Sie sind einmal nicht der Rechte zum Aushorchen für die Zwei; lassen's die Händ' davon und mir meine Ruh'!« Mit einem verächtlichen Blicke ging sie zu ihren Gästen.

Es blieb für Hans nichts anderes übrig, als sich zu entfernen. Die letzten Worte der Wirthin beschäftigten ihn nachhaltig. »Für die Zwei« hatte sie gesagt – kein Zweifel, der Vater war die Woche über mit Holzmann zusammengewesen, auf seine Veranlassung hatte er diesen Schritt gethan. Nun war er wohl ganz in der Macht dieses Schurken, der ihn nur allzugut für seine Zwecke zu benutzen wußte. Und er selbst? Aufs neue preßte ihn die Kette, von der er eben gelöst zu sein meinte.

Herr Berry zuckte die Achseln, als ihm Hans die Mittheilung brachte, und schaute ihn mit einem sonderbaren mitleidigen Blicke an. »Sie sehen, ich thue, was ich kann. Sollten Sie je etwas Näheres von Ihrem Vater erfahren, so verschweigen Sie es mir nicht … Die Zeichnung hat mich sehr interessiert, Sie werden noch davon hören. Lassen Sie sich inzwischen durch diese Wendung der Angelegenheit mit Ihrem Vater, so ärgerlich sie ist, nicht in Ihrer Arbeit stören!« sagte er nachdenklich und gab das Zeichen der Entlassung.

Hans stieg langsam die Treppe hinab. Zu ebener Erde lagen die Kassenräume. Es war gerade Zahltag, die Thüren gingen beständig auf und zu, das Klirren des auf die Marmorplatte hingeworfenen Geldes drang heraus und rief ihm die verdächtigen Worte Holzmanns ins Gedächtniß zurück. Nun wird sie der gewissenlose Mensch dem Vater alle Tage vorsprechen, in den finsteren häßlichen Höhlen unter der Erde und zuletzt – – einem plötzlichen Instinkt folgend, ging Hans in das Kassenzimmer; wenn man ihn nach seinen Wünschen fragte, konnte er sich ja Kleingeld einwechseln.

Riesige eiserne Schränke standen in dem vergitterten Raume, sie machten einen sicheren Eindruck. Seine Blicke prüften die Wände, sie waren offenbar von Eisen oder mit Stahlplatten beschlagen – trotz des Anstriches entgingen ihm die runden Köpfe der Schrauben nicht. Die Fenster waren vergittert und hatten eine Vorrichtung für dichten Verschluß. Außerdem war ein eigener Nachtwächter da. Das Gelingen eines Einbruches schien also unmöglich ohne das Einverständniß und die Hilfe eines treulosen Angestellten, und wie sollte ein solcher zu haben sein?

Beruhigter verließ er das Lokal; niemand hatte in dem herrschenden Durcheinander auf ihn acht gegeben. Seine Besorgniß schwand mehr und mehr – der Vater hatte am Ende recht, daß er die Sprache dieser Menschen nicht verstehe und Dinge fürchte, die nur in seiner Einbildung beständen. Sein jugendlicher Sinn half ihm rasch über die letzten Bedenken hinweg, und bald füllte ihn sein neuer Wirkungskreis ganz aus und der Gedanke: Empor zu Claire!


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