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4.

Das war eine schlaflose Nacht für Hans nach diesem Abschied von Claire. Er schmiedete seinen Lebensplan; die Flammen der Hochöfen leuchteten ihm dazu, und die unzähligen Laute der Arbeit um ihn her, zu einem riesigen Accord vereinigt, stimmten seine Seele feierlich.

Hier unter ihren Augen, in ihrer nächsten Nähe mußte ihm der Weg zur Höhe gelingen – gelang er doch auch anderen! Der Direktor war in der Werkstatt aufgewachsen und ein einfacher Monteur gewesen; Herr Berry selbst sollte sich noch vor zwanzig Jahren als armer Ingenieur mühsam durchgeschlagen haben. Und dann die berühmten Männer, die Erfinder, von denen er schon oft gelesen – alle fast waren sie arme, schlichte Leute gewesen! Und in dieser Welt von Dampfmaschinen, Schrauben, Hebeln, Kurbeln, Rädern und Rädchen lagen noch viele werthvolle Geheimnisse verborgen, die nur der glücklichen Hand warteten, die sie enthüllte. Dazu bedurfte es keines langwierigen Studiums der ihm unzugänglichen Wissenschaft, nur eines durchdringenden Auges, praktischen Sinnes und vor allem der warmen Liebe zu diesem ewig wandelbaren Märchenwesen »Maschine« – und diese Liebe erfüllte ihn von Jugend auf, sie war mit ihm groß geworden. Schon mit seinen Kinderaugen hatte er das geheimnißvolle vielgestaltige Leben der Maschinen beobachtet, schon als Knabe hatte er, zusammensetzend und zerlegend, die allgemeinsten Gesetze ihres Daseins fast spielend kennengelernt. Warum sollte ihm nicht gelingen, was vor ihm anderen gelungen war, denen nicht eine Claire so unvergeßliche Worte zugerufen hatte!

Im nächsten Frühjahr sollte er aus der Gewerbeschule austreten, dann wollte er Herrn Berry um eine Stellung in den Werken bitten, so gering und niedrig sie auch wäre. Dann war er ein Mann, der sein Brot selbst verdiente – das war schon etwas, aber freilich noch lange nicht das, was Claire, die vornehme Dame, meinte. Zwei Jahre – er wünschte jetzt trotz seiner Sehnsucht, daß sie erst in zehn zurückkäme, dann wäre er seiner Sache sicher gewesen!

Die Wangen brannten ihm bei dem geistigen Vorwärtsdrängen; bald überkam ihn trotz allen Selbstvertrauens ein überwältigendes Gefühl seiner Ohnmacht, und verzweifelt gab er sich der Hoffnungslosigkeit hin; bald riß ihn seine erregte Phantasie mit fort und spiegelte ihm abenteuerliche Glücksfälle vor, die ihn mit Sturmeseile emporheben sollten. Schlief er ermattet ein, so weckte ihn ein gelles Lachen – des Vaters verstörtes Gesicht blickte ihn drohend an. Bittere Reue über seine fühllose Abweisung wollte ihn erfassen – aber Claire und seine Zukunft! Und wie der Wüthende ihn an der Kehle gepackt hatte – das waren Mördergriffe … vielleicht hatte er schon einmal … Hans wagte den Gedanken nicht auszudenken und verbarg sein schweißbedecktes Gesicht unter der Decke.

Endlich graute der Morgen. Hans machte sich über seine Bücher, kein Augenblick durfte versäumt werden – ein neues hastiges Leben begann.

Frau Merk trat ein. Seit Hans durch seine weitere Ausbildung ihrem persönlichen Dienste entzogen war, ließ sie den Herrn Studenten, wie sie ihn spöttisch nannte, bei jeder Gelegenheit ihren Unwillen fühlen. Ihre Züge verriethen eine hämische Freude, das bedeutete für ihn irgend etwas Unangenehmes.

»Na, was sagte ich gestern, das gnädige Fräulein ist fort nach Paris, Knall und Fall, ohne Abschied. Das muß seinen Grund haben. Vielleicht erfährst Du etwas darüber; der Herr Kommerzienrath schickte gestern noch herüber, Du solltest Dich heute nachmittag um fünf Uhr in seinem Bureau einfinden. Ich glaube, der Wind hat sich gedreht. Nimm Dich in acht!« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer.

Hans versprach sich nichts Gutes von dieser ungewohnten Bestellung. Entweder handelte es sich um seine Zusammenkunft mit Claire, die Herrn Berry verrathen worden war, oder um den Vater, der sich an den Kommerzienrath drängte, nachdem der Sohn ihn abgewiesen hatte. Ließ Herr Berry ihn jetzt fallen, so zerplatzten die Pläne dieser Nacht und all die kühnen Hoffnungen wie Seifenblasen; nichts war er dann als der hilflose Sohn eines Arbeiters – eines Verbrechers, den von Claire für immer eine unausfüllbare Kluft trennte.

Das Herz schlug ihm fast hörbar, als er sich um die bestimmte Stunde zum Bureau begab. Er mußte lange im Vorzimmer warten und hatte Zeit, über seine Vertheidigung nachzudenken. In jedem Falle fühlte er sich im Recht. Claire war seine Jugendfreundin, dieser Herr Berry selbst hatte ihn ja einst der Tochter geschenkt, und jetzt sollte ihr und ihm jedes Wort des Abschieds verboten sein? Konnte denn wirklich dieser Mann ihn verschenken und dann wieder in den Winkel werfen wie sein einstiges Ebenbild, den Automaten? Und wenn es das andere galt, das Zusammentreffen mit seinem Vater – war denn er an dessen Verkommenheit schuld oder nicht vielmehr dieser stolze Berry, der dem Verzweifelten das Letzte nahm, das ihn vielleicht noch gehalten hätte, seinen Sohn – einer Laune seiner Gattin, seines Kindes zuliebe, nicht aus Barmherzigkeit.

Ein dumpfer, unerklärlicher Groll sammelte sich plötzlich in seinem Innern an gegen den Mann, in dessen Hand seine Zukunft lag. Die trotzige Lust, hinzutreten vor den Gefürchteten, Mächtigen und ihm das alles offen zu sagen, erfaßte ihn …

»Hans Davis!«

Er zuckte zusammen, ein Diener hatte seinen Namen gerufen. Er wußte selbst nicht, wie es kam, aber bei diesem Rufe tauchte mit einem Male Claires Bild vor ihm auf, und sein Zorn verflog – die trotzig gefaltete Stirn glättete sich, der kühn aufgerichtete Körper sank in sich zusammen. In demüthiger Haltung betrat er das Zimmer des Kommerzienrathes und verneigte sich tief.

Herr Berry sah ihn lange forschend an; Hans hielt den Blick tapfer aus.

»Ich habe ernste Dinge mit Ihnen zu reden, Hans,« begann dann Berry in kühlem Tone. »Setzen Sie sich!« Mit einer kurzen Handbewegung wies er auf einen Stuhl. »Claire ist heute früh abgereist nach Paris.« Er verwandte die Augen keine Sekunde von Hans, der jetzt heftig erröthete. »Sie wird zwei, vielleicht auch drei Jahre dort bleiben. Eure Lebenswege trennen sich von nun an, darum fand ich es auch für gut, daß ein Abschied unterbleibe. – Sie wissen, daß Sie Verpflichtungen gegen mich haben, und die Bestimmungen, die ich nun treffe, sollen Sie in die Lage versetzen, ihnen nachkommen zu können. Ich werde Sie von morgen an im Werke beschäftigen, und zwar sollen Sie sofort eine bezahlte Stellung einnehmen. Ich habe meine strengen Ansichten. Sie sind dem Arbeiterstand entsprossen, auf diesem Boden sollen Sie auch wachsen – das Umsetzen taugt nichts. Sind Sie der rechte Mann, so können Sie sich trotzdem emporschwingen.«

Die Augen des Jünglings leuchteten auf, eine dunkle Röthe stieg ihm ins Gesicht bei den letzten Worten.

»Sie treten morgen als Gehilfe in die Monteurabtheilung; wie ich höre, haben Sie Geschick für das Maschinenwesen, und dort ist die beste Schule. Ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren und erwarte, daß Sie Ihre Pflicht thun, schon aus Dankbarkeit für das, was Ihnen erwiesen wurde. Außerdem wird es sich empfehlen, daß Sie sich weder Ihren Kameraden noch Ihren Vorgesetzten gegenüber auf Ihr Verhältniß zu mir berufen –«

»Das habe ich auch bisher nie gethan!« warf Hans ein.

»Ich rechne darauf,« fuhr Berry ruhig fort, »in Ihnen einen treuen Diener des Hauses Berry zu erziehen, der sich von allen, uns Arbeitgebern feindseligen Bestrebungen fern hält! Sie sind ja ein lebendiges Beispiel, daß der Vorwurf der Härte, der Ungerechtigkeit, des Eigennutzes, der Bedrückung, den man immer wieder gegen uns schleudert, eine gemeine Lüge ist. Beherzigen Sie das! Haben Sie gegen meine Verfügung etwas einzuwenden?«

Hans stand wortlos da – seine Befürchtungen hatten sich in das Gegentheil, in die Erfüllung seines heißesten Wunsches verwandelt; er schämte sich seiner aufrührerischen, undankbaren Gedanken im Vorzimmer. Jetzt erschien ihm Herr Berry wirklich als Wohlthäter. Thränen traten ihm in die Augen, und in überströmendem Gefühl ergriff er die weiße Hand, die vor ihm auf der Stuhllehne lag, und küßte sie.

»Nichts, nichts mehr hab' ich zu sagen,« stammelte er, »als daß ich nie vergessen werde, was Sie an mir gethan haben – daß ich Ihnen Ehre machen werde.«

Bei diesem unverfälschten Ausdruck der Hingebung zuckte doch auch durch das unbewegliche Gesicht des Kommerzienraths etwas wie Rührung, aber nur einen Augenblick – dann waren seine Züge wieder gemessen wie zuvor.

»Morgen also, Hans,« sagte er, ihm zunickend zum Zeichen der Entlassung. Dann aber, wie in plötzlicher Eingebung, setzte er rasch hinzu: »Noch etwas – Sie haben von Ihrem Vater nichts mehr gesehen oder gehört?«

Hans hatte das Gefühl, als bohre sich der Blick der grauen Augen in seinem Gesicht fest. Wußte Berry etwas oder war die Frage nur eine zufällige? Durfte er diesen Mann, der eben seinen innigsten Wunsch erfüllt hatte, belügen? Und war es nicht unklug, ihn zu belügen? Der Kommerzienrath hatte ja die Macht, ihn zu schützen vor dem Vater, dessen Griffe er noch immer am Halse spürte.

Herr Berry wartete die Antwort nicht ab. »So schlimm es klingt, ich muß Sie warnen vor diesem Manne. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich einmal, wenn Sie sich eine Existenz gegründet haben, an Sie drängt, Forderungen an Sie stellt. Er ist tief gesunken und würde Sie nachhaltig bloßstellen. Ich könnte sogar den Umgang eines meiner Angestellten mit einem solchen … Individuum gar nicht dulden. Ich meine nur, wenn es wirklich so wäre, verstehen Sie mich? Verpflichtungen haben Sie ja keine gegen ihn.«

Hans war glücklich, daß Berry keine Antwort auf seine Frage verlangt hatte, er würde die ganze Wahrheit gestanden haben; so schwieg er und empfahl sich demüthig, als ein nochmaliges gnädiges Kopfnicken ihm sagte, daß er endgültig entlassen sei. Im Parke schoß Otto mit einem Revolver auf die Scheibe. Hans vergaß in seiner Freude allen alten Groll, alle Gespanntheit, die zwischen ihnen herrschte, eilte auf ihn zu und erzählte mit gerötheten Wangen, daß er von morgen an ein Angestellter der Berryschen Werke sei und als Monteurgehilfe eintrete.

Otto ließ sich dadurch in seinem Sport nicht stören.

»Das ist sehr hübsch – Herr Davis« – bis jetzt nannten sie sich beim Vornamen – »aber Sie werden begreifen –« Ein neuer Schuß krachte. »Sehen Sie einmal nach der Scheibe, ich denke, die Kugel sitzt zu hoch – Sie werden begreifen, daß dies unsere Stellung zu einander bedeutend – aber hören Sie denn nicht, Sie sollen nach der Scheibe sehen!« fuhr er Hans an, der starr über die unerwartete Wirkung seiner freudigen Meldung dastand.

»Das ist mein Dienst nicht, Herr Otto,« entgegnete Hans scharf; in seinen Augen zuckte es verdächtig.

»… bedeutend ändern muß,« fuhr Otto fort, ohne scheinbar von den Worten des alten Spielgenossen Notiz zu nehmen. »Bis jetzt waren Sie nichts als ein Anhängsel unseres Hauses, an dessen Vertraulichkeiten man sich einmal gewöhnt hatte; jetzt sind Sie ein Bediensteter, ein Arbeiter. Das ist für mich weniger als nichts. Und was den ferneren Verkehr betrifft – der ist eine platte Unmöglichkeit, in drei Monaten trete ich als Offiziersaspirant in die Armee.« Wieder krachte ein Schuß. »Jetzt bitte ich Sie aber ernstlich, nach der Scheibe zu sehen, Herr Monteurgehilfe!«

»Und ich bitte Sie ernstlich, sich dazu jemand anders zu suchen als mich. Ich empfehle mich.«

Hans ging.

»Warte nur, Kanaille!« tönte es ihm nach.

Die hochfahrende Abweisung, die er im glücklichsten Augenblick seines Lebens erfahren mußte, hätte ihm von dieser Seite nicht wehe gethan, aber mit bitterem Schmerze, mit zorniger Entrüstung erfüllte ihn die jähe Einsicht, daß dieser hochmüthige Mensch in seinem Hasse wohl nur die Ansichten seines ganzen Standes aussprach, daß das, wodurch er selbst hoffte, diesen Leuten näher zu kommen – redliche Mannesarbeit, ihn nur weiter von ihnen entfernte, daß er wirklich in ihren Augen als der hilflose Schützling des Herrn Berry mehr gewesen war denn jetzt als einfacher Arbeiter. So war es wohl bei allen – nur bei Claire nicht. Sie rieth ihm ja selbst zu rastlosem Schaffen, wie sollte er sich auch anders emporschwingen? Aber wenn auch sie so denken würde nach den Jahren in Paris, was dann? Er fühlte es heiß heraufsteigen in die Kehle. Dann dann war alles vorbei, jede Freude, jedes Streben, jedes Dulden und Tragen, dann gab es nur noch Haß glühenden Haß und Kampf! Die Scene damals, als er Otto mit dem Kindersäbel niederschlug, stand plötzlich klar vor seiner Seele … so würde es dann wieder kommen, aber nicht mit dem Kindersäbel und nicht mit Otto allein.

Eine wilde Vision stieg vor ihm auf … geschwungene Arme, wirr durcheinander wogende, von blutigrothem Feuerschein übergossene Männerköpfe, wüstes Gelärm, in Flammen zusammenstürzendes Gebälk, und mitten drin in der wüthenden Menge ein schwarzer Mann mit glühenden Augen, derselbe, der im Schatten der Halle ihn hatte erwürgen wollen – sein Vater.

Blitzartig, wie es gekommen war, verschwand das Gesicht, nur die Gestalt des Vaters wollte nicht von seinen Augen weichen. Der Arme hatte niemand, an den er sich halten konnte, niemand, der ihn liebte und trotz aller bitteren Erfahrungen stets aufs neue versöhnte mit dem Leben, wie Claires Bild bei ihm es that – der Vater hatte auch nicht seine eigenen Kenntnisse und die darauf gebaute Hoffnung, emporzusteigen – Elend und Noth waren seine Gefährten von jeher und würden es sein bis zum Ende. Und so – in der Brust ewig das fürchterliche Bewußtsein, das er selbst eben auch empfunden hatte, das Bewußtsein, weniger als nichts zu sein, verachtet, niedergetreten – mußte so der Unglückliche nicht Ekel empfinden vor allem höheren Streben, vor seiner ganzen Existenz? Mußte er nicht immer wieder versucht sein, den Kampf gegen die Reichen und Mitleidlosen mit jeder Waffe zu führen, diese »Räuber« selbst wieder zu berauben? Und nun hatte ihn auch der eigene Sohn zurückgestoßen, mit Vorwürfen überhäuft, weil er sich des Verkommenen schämte – das mußte gut gemacht werden, ehe er sein neues Leben begann. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm mit dem Vater, als Herr Berry es hinstellte, als er selbst geglaubt hatte; vielleicht konnte er ihn retten, auf bessere Wege bringen! Und stand der Vater ihm denn nicht trotz allem am nächsten, näher als Herr Berry, sein stolzer Wohlthäter? Keine unüberbrückbare Kluft lag zwischen ihnen – der Vater war seinesgleichen, ein Arbeiter gleich ihm. Und wer wußte, ob nicht einmal eine Zeit kam, wo er froh war an diesem verachteten Vaterherzen! Er mußte in die Kleegasse, sein Entschluß stand fest.

Bei Merks kümmerte man sich nicht darum, wo Hans seine Zeit verbrachte, so hinderte ihn nichts an der Ausführung seines Planes. Unverzüglich machte er sich auf den Weg, es ließ ihm keine Ruhe mehr; der Gang sollte hinter ihm sein, bevor er seine Stellung antrat. Heute stand er noch nicht im Dienste des Herrn Berry, morgen hätte er sich ein Gewissen daraus gemacht, gegen den ausdrücklichen Willen des Kommerzienraths zu handeln.

Die Stadt war ihm nicht fremd, aber die Kleegasse war schwer zu erfragen, sie befand sich am äußersten Ende der westlichen Vorstadt, gerade in entgegengesetzter Richtung von der Fabrik.

Nach langem Umhersuchen kam er in die Gegend, wo nach den Beschreibungen sein Ziel liegen mußte. Ein Netz von Sackgassen nahm ihn auf. – Überall niedere, ärmliche Häuschen, vermengt mit kasernenartigen Neubauten, bevölkert von lärmenden Kindern, ärmlich gekleideten Frauen, trunkenen Männern. An der Ecke eines engen übelriechenden Gäßchens, das bergab tief hinein in das alte Winkelwerk zu führen schien, las er endlich: »Kleegasse«.

Ein kalter feuchter Wind zog aus der dunklen Straße herauf; das Schelten einiger Weiber, johlender Gesang und das Klimpern eines Klaviers drang heraus. Hans zögerte einen Augenblick, es war ihm bang zu Muthe, er fühlte, daß er einen entscheidenden Schritt thue. Wenn Claire von diesem Gange wüßte!

Ein Mann schwankte den holperigen Weg herauf nun entschloß er sich, nach dem Hause, das er suchte, zu fragen. »Nummer 36?« Der Fremde sah ihn groß an mit gläsernen Blicken.

»Nummer 36? Was kümmern mich die Nummern!« Er lachte roh.

»Eine Wirthschaft ist in dem Hause,« erklärte Hans schüchtern, dem Wankenden ausweichend.

»Eine Wirthschaft? Ja, das ist 'ne Nummer, Junge! Das hättest Du gleich sagen sollen! Aber es giebt mehr so verdammte Nummern da unten! Da ist die ›Fackel‹, der ›Jörgl‹, der ›Prasser‹ – aber ich bin ein guter Kerl, komm' nur, das rechte Wirthshaus, das find' ich immer!« Er packte Hans beim Arme und zog ihn mit sich fort.

In dieser Umgebung, unter diesen Menschen also lebte sein Vater! Unsagbarer Jammer erfaßte Hans, zugleich das klare Gefühl, daß er ihn herausreißen müsse aus solchem Abgrund, sonst tauchte er wohl eines Tages daraus auf und riß den Sohn mit sich ins Verderben. Er konnte sich keine Vorstellung machen, wie das geschehen könnte, er sah nur die verkommene wankende Gestalt seines Begleiters und stellte sie im Geiste neben Claire – unter dem Zwange dieses Bildes folgte er willig seinem Führer.

Es dunkelte schon; die rothen Vorhänge an den Fenstern der Kneipen glühten im Scheine der Lichter dahinter und warfen blutrothe Reflexe auf das feuchte Pflaster.

»Das ist der ›Prasser‹ – doch der Teufel sehe die Nummer!« stammelte der Fremde, vor einem Schanklokal stehenbleibend. »Aber hör' einmal, Junge, wen suchst Du denn eigentlich? Dann haben wir's gleich; bin gut bekannt hier und kenne die – die Eintheilung.« Er warf einen prüfenden Blick auf Hans. »Doch es wird schon recht sein beim ›Prasser‹! Da sitzen die Jungen, die Arbeit suchen und keine finden. Eine traurige Bude!«

Hans, der an dem Hause eine andere als die gesuchte Nummer entdeckt hatte, ging ohne zu antworten weiter.

Der Mann lachte.

»Gelt, das magst Du nicht? Hast recht, der Teufel hole die Arbeit – ist auch mein Gusto nicht. Nun haben wir noch den ›Jörgl‹ gleich da vorn.«

Wieder blieb er stehen und blickte forschend, die Hand in der Tasche, an Hans herab. »Da bist Du mir noch zu grün, Junge, und 's ist noch zu früh am Tage, oder bist Du doch –« Er lachte verschmitzt.

Die Klänge des Klaviers ertönten jetzt ganz nahe aus einem einstöckigen Hause, das unter den Tritten Tanzender zu erzittern schien.

»Da wär's!« Der Trunkene stellte sich vor dem Hause auf. »Magst?«

Hans las die Nummer über der Hausthür. »24.« Er athmete erleichtert auf und eilte vorbei.

»Na, dann bleibt nur noch die ›Fackel‹,« rief ärgerlich sein Begleiter. »Bursch, wenn Du mich zum Narren hast, so nimm' Dich in acht! Was willst denn Du in der ›Fackel‹? Da sitzen die Krakehler, die Revolutzer und halten lange Reden über Arbeit und Kapital; pfui Teufel! Und was nutzt's? Die Katz' fällt doch allweil auf die alten Füße!«

»Führen Sie mich zur ›Fackel‹!« sagte Hans fast befehlend. Der Mann sah ihn spöttisch an und lachte hell auf.

»So ein Bürschl will befehlen, will auch schon mitthun mit den Schreiern! Närrisch, ganz närrisch! Na, dann adieu, in der ›Fackel‹ hab' ich nichts zu suchen. Mir langt's, und wenn's nicht langt – nachher muß man halt ein bißl nachhelfen, aber ganz still, ganz still.«

Er wandte sich um und zwischen den engen Häusern hintappend wiederholte er immer noch lachend: »So ein närrisches Bürschl! So ein Bürschl!«

Hans faßte neue Hoffnung, der widerliche Mann neben ihm gehörte nicht zu des Vaters Freunden und fühlte sich nicht wohl in der »Fackel«, das war ein gutes Zeichen. Er war noch zu unerfahren, um in die wirren Reden seines Führers den rechten Sinn zu bringen, aber er begriff in dieser Umgebung instinktiv, welchem Lose er durch Herrn Berry entrissen worden war – nein, durch Claire, nur durch sie. Und inmitten der häßlichen Eindrücke ringsum füllte sich seine Seele wieder ganz mit ihrem Bilde.

Da stand er vor der »Fackel«. Lärmende Stimmen drangen heraus. Vorsichtig blickte er durch die Spalten der rothen Vorhänge. An einem runden Tische saßen Männer in Arbeitskleidern hinter Schnaps und Bier, an einem anderen einige Weiber, Mörtelträgerinnen mit weißen Kopftüchern, Kanalarbeiterinnen in Männerjoppen und plumpen Stiefeln, mit gemeinen harten Gesichtern dem erregten Gespräch der Männer lauschend. Den Vater konnte er nicht sehen. So scheute er sich doppelt, einzutreten, lieber wollte er warten; gewiß war der Vater noch nicht von der Arbeit gekommen. Leute mit wenig Vertrauen erweckenden Gesichtern gingen an ihm vorbei und blickten erstaunt auf den jungen Mann, der für diesen Ort auffallend gut gekleidet war. Vom »Jörgl« herüber tönte noch immer das verstimmte Klavier und grelles Lachen. Da näherte sich von der Höhe her eine einzelne Gestalt, ein Helm blitzte im Laternenschein – ein Schutzmann!

Plötzliche Furcht beschlich den Wartenden – wenn man ihn fragte, was er hier wolle! Ängstlich wie ein Dieb huschte er in das Lokal und setzte sich, ohne sich umzusehen, in die nächste Ecke; niemand von den Gästen achtete auf ihn.

Eine ältere Frau, wohl die Wirthin, fragte mit forschendem Blicke auf die hier ungewohnte Erscheinung nach seinem Begehr.

Der »Schwarze Jakob« wollte ihm nicht über die Lippen. In dieser Umgebung kam ihm der Name noch unheilverkündender, düsterer vor. Schüchtern bestellte er ein Glas Bier und sah sich dann vorsichtig in der Stube um.

Die Männer am runden Tische gehörten ihrem Äußeren nach verschiedenen Berufsarten an. Zwei in arg mitgenommener, aber sonntäglicher Kleidung führten das Wort.

Das Gespräch drehte sich um die Arbeitsverhältnisse die beiden hatten »die Plackerei nun einmal satt« und wollten es eine Woche so probieren. Wenn alle ebenso denken und handeln würden, meinten sie, dann wäre die Sache bald anders. Die Arbeiter der ganzen Welt einmal eine Woche feiernd – und es sollte allen ein Licht aufgehen, was der Arbeiter eigentlich sei – allmächtig, wenn er wolle! »Aber am Zusammenhalten fehlt's, das verstehen die anderen, von denen muß man lernen! Zum Henker mit dem bloßen Geschrei der Maulhelden in den Versammlungen! Einfach Millionen Hände in die Hosentaschen und einmal ruhig zugeschaut, wie's dann weitergeht, wenn auch mit bellendem Magen!«

Beifällig nickte man dem Sprecher zu, obwohl den abgespannten Gesichtern und den müden, lässig hingestreckten Körpern keine besonders begeisterte Theilnahme anzumerken war. Die Gluthhitze des eisernen Ofens dicht neben dem Tische löste alle Begeisterung in eine laue Schläfrigkeit auf; allmählich schienen auch die beiden Wortführer davon ergriffen und wurden stiller.

Die Wirthin setzte sich zu Hans und lauerte sichtlich auf ein Gespräch mit ihm. In diesem Augenblick ging die Thür, ein Schutzmann trat ein, wohl derselbe, der vorhin draußen sichtbar gewesen war; die Gespräche verstummten, die Arbeiter stießen sich heimlich mit den Ellbogen.

Der Polizist ging musternd durch das Zimmer und ließ sich an der Schenke ein Gläschen Schnaps eingießen; dabei schaute er unverwandt zu Hans hinüber, der sich unter diesem forschenden Blicke wie ein Verbrecher vorkam.

»Ist Ihnen 'was?« fragte die Wirthin, der es auffiel, daß er plötzlich ganz blaß wurde.

Er überhörte die Frage. Indessen hatte der Schutzmann ausgetrunken und kam gerade auf ihn zu. Hans fühlte seine Knie zittern, er ärgerte sich darüber und zwang sich zu einer trotzigen Miene.

Der Mann stellte einige oberflächliche Fragen an die Wirthin, offenbar nur zum Scheine, sein Auge ruhte unverwandt scharf auf Hans. Wenn es dem Argwöhnischen einfiel, ihn nach Namen und Stand zu fragen! Dann wurde wohl die ganze Sache sofort Herrn Berry berichtet, und er selbst war verloren!

Wo er den Muth hernahm, wußte er nicht – aber plötzlich fragte er den Polizisten: »Regnet's noch?«

Die unbefangene Frage that scheinbar ihre Wirkung; die Schärfe des Blickes ließ nach.

»Sind Sie wasserscheu?« antwortete der Mann mit einem ironischen Lächeln, legte nachlässig die Hand an den Helm und ging zur Thür. Im gleichen Moment wurde diese ungestüm aufgerissen, eine große Gestalt in triefenden Kleidern und schlammbedeckten Stiefeln, die bis zu den Schenkeln heraufreichten, polterte in die Stube und prallte unsanft gegen den Schutzmann.

»Sieh' da, der ›Schwarze Jakob‹ – Sie suche ich eben!« rief dieser und versperrte dem Eintretenden den Weg.

»Mich?« der Arbeiter schleuderte unbekümmert die Regentropfen von seinem Hute; schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn. »Was giebt's denn schon wieder?«

»Sie sind seit gestern von der Arbeit bei der Flußregulierung entlassen.«

»Stimmt – ich habe dem Aufseher gegenüber über die Luderarbeit geschimpft. Aber ist das ein Verbrechen? Soll man sich bei solchem Verdienst noch schön bedanken?«

Der Polizist nahm sein Notizbuch heraus. »Haben Sie schon einen anderen Dienst?«

»Wissen Sie mir einen, weil Sie so besorgt sind?«

Beifälliges Gelächter vom runden Tische.

Jener verlor keinen Augenblick die Ruhe. »Innerhalb drei Tagen müssen Sie Arbeit haben, das weiß ich; das andere kümmert mich nicht.«

»Kümmert Sie nicht – das glaub' ich, Ihr Brot geht freilich nie aus! Na, fragen Sie halt in drei Tagen wieder nach!« Von den Gästen am runden Tische stürmisch begrüßt, ging er lachend an dem Schutzmann vorbei, der ruhig sein Notizbuch einsteckte und sich ohne weitere Bemerkung entfernte.

Hans war bleich geworden bis in die Lippen. Das Verfahren gegen seinen Vater – er hatte ihn auf den ersten Blick erkannt – empörte ihn. Haß und jäher Zorn regten sich in ihm gegen die Macht, die dieser Mann im Helme vertrat und die hier so gewaltsam in die persönliche Freiheit eingriff, ohne sich doch um die Noth zu kümmern. Sein Groll hob ihn hinaus über die Beklommenheit, die ihn anfänglich beim Anblick des Vaters befallen hatte. Eben wollte er ihn durch die Wirthin an seinen Tisch rufen lassen, da machte Jakob Davis eine Wendung und erblickte ihn. Hans hatte nun zum ersten Male Gelegenheit, das Gesicht seines Vaters deutlich zu sehen – es erschien jetzt lange nicht so abschreckend wie gestern, nur der gläserne, verschwommene Ausdruck der Augen hatte etwas Abstoßendes, Rohes und ließ auch die Ähnlichkeit mit den Zügen des Sohnes, die sonst nicht zu verkennen war, weniger hervortreten.

Nach einigem Zögern schlug sich Jakob Davis wie verwundert mit den großen Händen auf die Lederschäfte der Stiefel und trat lachend, kopfschüttelnd an Hans heran, auf den jetzt alle Gäste aufmerksam wurden. »Hat es Sie doch hergetrieben? Na, das freut mich für Sie!« rief er laut. Er machte der Wirthin ein Zeichen, sie solle sich entfernen, und setzte sich neben Hans, der Gesellschaft den Rücken kehrend. »Sei ganz ruhig,« flüsterte er, sich über den Tisch herüberbeugend, »ich bin nicht so dumm und verrathe Dich – man wird vorsichtig in meinem Alter. Ich wohne im Hause, wir sprechen nachher noch allein miteinander, die Leute gehen bald. Jetzt komm' herüber und mache kein Aufsehen! – Ja, ja, das freut mich, junger Mann,« begann er dann laut und klopfte Hans kameradschaftlich auf die Schulter, »das freut mich, daß Sie mich aufsuchen! Setzen Sie sich nur da her – lauter gute Freunde, Ehrenmänner, die gern ein bißchen zusammenrücken.« Er stand auf; Hans folgte ihm willig. Die sichtlichen Bemühungen des Vaters, ihn nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen, beruhigten ihn, und zugleich erwachte in ihm ein abenteuerliches Interesse an diesen Eindrücken, die ihm eine so ganz andersartige Welt eröffneten als die, in welcher er bisher gelebt hatte.

»Der Sohn eines alten Kameraden, Maschinist, ein Mordskerl!« stellte Jakob Davis den Sohn vor.

Die Männer betrachteten mißtrauisch die saubere moderne Kleidung des neuen Tischgenossen.

»Maschinist – das ist noch 'was, da kann man's noch zu 'was bringen in der Zeit der Maschinen,« meinte der eine Blaumacher.

»Das kommt gleich ganz anders daher als unsereiner bei der ewigen Dreckarbeit!« rief ein mürrisch aussehender Geselle, den der kalkbespritzte Anzug als Maurer kennzeichnete.

»Ach was, der Rock macht nichts aus,« wendete ärgerlich ein Stubenmaler im Farbenkittel ein. »Die Maschinisten werden nicht weniger ausgenützt. Wir gehören alle in eine Presse, die von den Herren Kapitalisten und Fabrikanten und Meistern, und wie sie alle heißen, zusammengeschraubt wird, bis der letzte Tropfen Blut heraus ist. Hab' auch nie gehört, daß gerade die zu den Zufriedenen gehören, im Gegentheil – vorn dran sind sie, mit dem Maule wenigstens, in jeder Versammlung, bei jeder Wahl.«

»Weil sie am meisten Grütz' im Hirne haben, sehr einfach,« mischte sich jetzt der andere der beiden Blaumacher in die Unterhaltung.

»Nun, was sagen denn Sie dazu, junger Herr Maschinist? Sie kümmern sich wohl nicht um solche Sachen?« fragte der Maurer den stumm dasitzenden Hans.

»Ich bin noch zu jung und zu unerfahren, um mitreden zu können, aber soviel weiß ich, daß sich vorhin alles in mir empört hat gegen dieses herrische Ausfragen, das dem Schutzmann beliebte! Wer giebt ihm ein Recht dazu?«

Jakob Davis wurde sichtlich verlegen und that einen tiefen Schluck.

»Na, da hat's allerdings einen kleinen Haken; einen jeden darf er auch nicht so ausfragen,« antwortete der Farbenkittel. Der alte Davis warf dem Sprecher einen wüthenden Blick zu, den dieser aber gleichmüthig erwiderte, indem er hinzusetzte: »Nun, nun – hier braucht es doch kein Geheimniß zu sein, warum die Polizei sich so freundschaftlich nach Ihnen erkundigt. – Ach so!« Er sah auf Hans – »Daran habe ich nicht gedacht!«

Eine peinliche Pause trat ein, auch Hans schwieg. Der Vater hatte also durch jenes Vergehen, das er schon gestern angedeutet, das freie Recht der Selbstbestimmung eingebüßt – wie weit mochte er schon fortgerissen worden sein auf der verderblichen Bahn, welch dunkle Saat mochte aus dieser Vergangenheit für sie beide noch aufsprossen!

Mit einem Blicke, der in der Seele des Sohnes zu lesen schien, sah Jakob Davis auf den stumm Dasitzenden; er betheiligte sich nicht mehr an dem Gespräch, das allmählich wieder in Gang kam. Endlich brachen die Leute auf. Kaum hatten sie sich entfernt, so gab Davis dem Sohn einen Wink, und dieser folgte ihm über die Bodentreppe hinauf in eine fensterlose Kammer. Die langsam aufleuchtende Flamme der Unschlittkerze erhellte nothdürftig den ärmlichen Raum, dem offenbar jede ordnende Hand fehlte: eine Kiste, aus welcher alte Kleidungsstücke hervorquollen, eine zerrissene Strohmatratze auf dem schmutzigen Fußboden, ein wackeliger Tisch und darauf eine leere Flasche als Leuchter – das war die ganze Ausstattung.

Hans war nicht verwöhnt, allein gegen das, was er hier sah, stach doch seine ärmliche Stube bei Merks nicht weniger ab als diese gegen Herrn Berrys Wohnräume. Was für Verhältnisse thaten sich da vor ihm auf! In dieser dumpfen ungesunden Luft, dieser verwahrlosten Umgebung – konnten da andere Gedanken reifen als die, welche von den Arbeitern vorhin ausgesprochen worden waren? Er wußte nicht, wen er anklagen sollte, aber eine Anklage erhob sich mächtig in seinem Innern, eine Empörung des Mitleids, welche die halberwachte und immer wieder zurückgedrängte Liebe zum Vater mit einem Male hell entzündete. Davis saß auf dem Strohsack – in den ungefügen schmutzbedeckten Stiefeln, dem feuchten, von der Hitze des Ofens drunten noch dampfenden Kittel, in der müden gebrochenen Haltung schien er selbst ein verbrauchtes Stück dieser ärmlichen Welt ringsum zu sein.

»Das ist Dir wohl 'was Neues, mein Junge?« begann er endlich. »Mich geniert's nicht mehr; seit Deine Mutter tot ist, treib' ich's so. Manchmal freilich erinnere ich mich dran, daß es auch mit mir einmal besser stand, und dann ist's bös; es war ja damals auch ein Elend, aber doch ganz anders; sie hat's verstanden, aus dem schlechtesten Fetzen noch etwas zu machen, die Marie. Das Bett war sauber und gut; der polierte Schrank, die paar Teller und Schüsseln blitzten so appetitlich; der Spiegel, der Boden – alles blank, und in der Ecke das sauber überzogene Sofa, auf dem wir des Abends so glücklich beisammensaßen, bis über mich …«

Mit einem Laut, der wie ein Stöhnen klang, brach er ab und stierte schmerzlich vor sich hin.

Hans traten die Thränen in die Augen; jenes blasse feuchte Gesicht tauchte wieder deutlich vor ihm auf. Totenstille herrschte, nur die Kerze knisterte leise.

»Pah, vorbei ist vorbei!« Davis machte eine wegwerfende Bewegung mit dem Kopfe. »Reden wir von unserer Angelegenheit! Ich habe Dich ein bißl grob angelassen gestern, es hat mich gereut nachher; aber der Teufel höre das ruhig an, was Du dahergeschwatzt hast. Die Mutter hat einfach das Lumpenleben satt gehabt, und ich kann's ihr heut' noch nicht verdenken. Und damit laß die Sach' ein für allemal, es ist besser für uns beide! Wenn ich so meine Zeit hab', dann packt mich die Wuth und ich bin zu allem fähig. So ist auch die letzte Geschichte passiert, der dumme Streit mit dem Vorarbeiter – ich hab' ihn mit einer eisernen Stange niedergeschlagen, und das End' waren vier Jahre Zuchthaus. Jetzt steh' ich unter Polizeiaufsicht; darauf hat der Anstreicher unten angespielt und deshalb ist mir der Schutzmann aufgesessen. Dann war ich ein ganzes Jahr wieder richtig im Zuge, 's hat nichts gefehlt, bis es vor ein paar Tagen wieder über mich gekommen ist – ich hör's allemal ordentlich heranschleichen. Da hab' ich Angst gekriegt und es ist mir der Gedanke aufgestiegen: suchst den Hans auf, 's ist doch dein Kind, vielleicht hilft's! So hab' ich Dir aufgepaßt, und wie Du mich so hart angelassen hast, ist's nur noch ärger in mir aufgestiegen; ich hätt' einen Mord begehen können an Dir, hätt' ihn vielleicht begangen, wenn nicht passiert wär', was passiert ist. Ich hab' alles gehört und gesehen, ich hab' es auch erkannt, das Mädel vom Berry. Jetzt ist die Hitz' wieder verflogen und, offen gesagt, es wär' mir lieber, Du hättest nicht nach mir gesehen. Weil Du aber schon einmal da bist, wollen wir unsere Sach' gleich richtig stellen: ich brauch' von Dir nichts und will Dir nicht im Weg' stehen. Was ich da gestern gered't hab' von gegenseitigem Helfen, ist ein Unsinn, hör' nicht drauf! Unsere Wege gehen weit auseinander. Nur, wenn's grad' sein könnt', das G'fühl möcht' ich haben können, daß es noch eine Seel' auf der Welt giebt, die – die – der noch ein bißl was liegt an mir. 's ist ja Dummheit, 's kümmert sich in der Welt kein's ums andere, aber doch meint man, ganz allein ist's nicht zum aushalten.« Seine Stimme klang gebrochen, als stecke ihm etwas in der Kehle, allein mit einem Rucke sprang er auf und rief mit erzwungener Gleichmüthigkeit: »Geh', lassen wir's, 's ist ja nur Einbildung, G'schwätz!« Mit großen Schritten ging er auf dem knarrenden Boden hin und her.

Hans fühlte einen mächtigen Drang in seinem Innern. Eine Flamme leuchtete auf in seiner Brust, die nur angefacht zu werden brauchte, um nie mehr zu erlöschen. Bewegt streckte er dem Vater die Hand hin; doch dieser zögerte, sie zu ergreifen.

»Es ist keine Einbildung, es giebt eine Seele, die sich von nun an um Dich kümmern wird.«

In Davis' hartem Antlitz zuckte es auf. Er faßte die Hand und preßte sie wie im Krampfe.

»Ist's wahr, Hans?«

Der junge Mann sank schluchzend an die Brust des Vaters. »Dein Hans, der Sohn Deiner Marie!«

Jakob Davis stand mit gespreizten Beinen, seine Brust ging stürmisch, als hätte er eine Riesenlast zu stemmen, seine rauhen Finger preßten sich wie Klammern um das Haupt des Sohnes. Ein Ausdruck fast des Staunens über ein unbegreifliches Glück verklärte seine trotzigen Züge.

Hinter einem harten Lachen suchte er seine seelische Erschütterung zu verbergen. »Der Pflegesohn des Herrn Berry, der Schatz des schönen Fräuleins – o Du Hauptkerl! Und dazu der ›Schwarze Jakob‹, der Zuchthäusler, der Kanalarbeiter – eine nette Zusammenstellung das! Und doch ist's so und doch willst mich nicht verleugnen! ›Dein Hans, der Sohn Deiner Marie‹ – ja, ja, das bist Du! Aber hab' ein bißl Nachsicht mit mir – wenn man so eine Freud' gar nimmer g'wohnt ist, da geht einem alles rundum –« Er drückte die geballte Faust auf die Brust. »So, jetzt geht's schon wieder, jetzt setz' Dich, Hans, und dann reden wir vernünftig! Wie denkst Du Dir denn die Sach' in Zukunft?«

»Ich bin von morgen ab Angestellter der Fabrik Berry, Monteurgehilfe mit einem Gehalt von achtzehn Mark die Woche. Es ist nicht viel, aber immerhin mehr, als ich brauche. Meine Ersparnisse stehen Dir zur Verfügung und können wenigstens dazu dienen, Dir eine anständige Wohnung zu verschaffen, mehr freilich wird vor der Hand nicht herausspringen. Doch habe ich nicht im Sinne, Gehilfe zu bleiben, und dann kommt es ja besser. Ich habe nur eine Bitte: sorge dafür, daß Herr Berry unseren Verkehr nicht erfährt – er hat ihn mir ausdrücklich verboten. Der Kommerzienrath hat nun einmal eine schlechte Meinung von Dir. Mit der Zeit wird sich schon Gelegenheit finden, ihm eine bessere beizubringen und das Verbot zu beseitigen. Er ist berechtigt, Gehorsam von mir zu verlangen.«

»Wie kannst Du nur solange darüber reden, Junge!« entgegnete Davis. »Als ob ich das nicht am besten selbst wüßte, daß die Leute nichts von mir erfahren dürfen, der Herr Berry und vor allem Deine Claire.« Er lachte verschmitzt. »Bist doch ein verfluchter Kerl mit achtzehn Jahren – allen Respekt! Aber nimm' Dich in acht, sie wird Dir noch vielen Kummer machen, Deine Claire, ich sage es Dir im voraus. Na, ich will jedenfalls das Meinige thun, um das zu verhüten. Wir wollen uns höchstens hie und da am Sonntag auf ein paar Stündchen treffen – unter der Woche kennen wir uns nicht, selbst wenn uns ein Zufall zusammenführen sollte. Da kann niemand etwas merken, und verderben kann ich Dich auch nicht in den paar Stunden, wohl aber kann ich Dir da und dort rathen – besonders wenn einmal die Claire wiederkommt. Ich kenne das – ob reich oder arm, vornehm oder gering, ist ganz gleich, wenn's einen hübschen jungen Kerl gilt – also warum nicht? Oft schon dagewesen, so was; ich thät's Dir gönnen, das Mädel!«

»Was war schon oft da? Was meinst Du mit dem ›gönnen‹? Ich verstehe Dich nicht!«

»Was ich mit dem ›gönnen‹ mein'?« Davis lachte laut. »Nun, daß sie einmal Deine Frau wird! Was werd' ich sonst meinen? Ich glaube wirklich, Du bildest Dir ein, es sei Dir nur um Freundschaft mit dem Mädel zu thun!«

Das Antlitz des Jünglings färbte sich dunkelroth. Der Vater sprach nur unverblümt aus, was der Traum seiner Nächte war, aber das Wort »Frau«, das er nie klar zu denken wagte, erschreckte ihn geradezu, die Ungeheuerlichkeit des Gedankens drückte auf ihn; er erklärte eine solche Vermessenheit für lächerlich, ja geradezu für schlecht, für ein Verbrechen an seinem Wohlthäter, Herrn Berry; kurz er gab sich sichtlich alle Mühe, diese Hoffnung in ihrem Entstehen zu vernichten.

Sein Vater hörte ihm ruhig zu und lächelte überlegen zu den Gegengründen des Sohnes. »Und doch ist es so,« sagte er ruhig. »So jung Du bist – Du wirst keinen anderen Gedanken, keinen anderen Wunsch mehr haben, als sie Dir ganz zu erringen, allen Hindernissen zum Trotz. Und wenn's Dir gelingt, so ist das eine recht ausgesuchte Rache dafür, daß sie Dich einmal verschenkt haben wie ein Spielzeug. Der Stiel wird umgedreht, Du nimmst Dir die Kette ab und legst sie Deiner Herrin an! Und warum soll's nicht gehen, wenn Du's vernünftig anpackst? Bist ein strammer Kerl, gern hat sie Dich auch, und das bricht immer wieder durch, wenn Du nicht locker läßt; darauf versteh' ich mich. Jetzt siehst Du mir's freilich nimmer an, aber als ich noch jung war und um die Marie warb – sie war guter Leute Kind und die Schönste im ganzen Dorfe und mancher Reichere wollte sie haben – da hab' ich's auch durchgesetzt. Mich nahm sie, den armen Teufel! Hab' ihr's freilich schlecht gelohnt – doch das gehört nicht hierher! Also ich sage Dir, die Geschichte ist immer die gleiche, es giebt kein Halten, wenn ein Mädel einmal richtig in einen vernarrt ist; und bei der schon gar nicht, die sieht gerade so aus. Und verlaß' Dich nur auf mich, ich helf' Dir, und die Sonntage sollen Dir nicht schaden. Von mir wird kein Mensch was hören und sehen. Einverstanden, Hans?«

Der junge Mann schlug mit Wärme ein, sein ganzes Innere war in Aufruhr. Das Unerklärliche, das er gestern gefühlt beim Abschied der Freundin, jetzt erst hatte er es begriffen. Der Schleier hob sich von seiner Seele, und er war glücklich, nicht allein zu sein mit seinem süßen Geheimniß. Des Vaters Herzlichkeit hatte in ihm das Gedächtniß an dessen Vergangenheit zurückgedrängt – wer anders sollte sein Vertrauter sein als er? Und war dieses neue Band, das sie beide verknüpfte, nicht kräftiger als das alte, längst verwitterte?

Mit glühenden Wangen verabschiedete er sich, da seine längere Abwesenheit Verdacht erregen konnte. Die Kleegasse kam ihm jetzt lang nicht mehr so häßlich vor, und das Klavierspiel, das aus dem »Jörgl« herausdrang, erschien ihm wie eine heitere Begleitung zu seinen goldenen Zukunftsträumen. Den Schutzmann an der Ecke würdigte er keines Blickes mehr. Daheim schlich er vorsichtig die Treppe hinauf. Im Flackerschein des gegenüberliegenden Hochofens küßte er zum ersten Male das kleine Bild, das über seinem Bette hing – »Claire!« flüsterte er leise.


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