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Die ganze Stadt triefte; all ihre bunten Farben flossen verdrießlich ineinander – alles verwaschen, rieselnd, plätschernd, spritzend, und doch ein wirres Gedränge, Geschiebe und Gerassel: es war Weihnachtszeit! Selbst dieser eigensinnige, geistlos einförmige Regen, der schon oft den blutigen Zorn einer tobenden Volksmenge besänftigte, war nicht imstande, die Liebesgluth zu löschen, die jetzt in allen Herzen brannte.
Um die grellbeleuchteten Auslagefenster drängte es sich. Vornehme Damen scheuten sich nicht vor der Berührung mit dem Arbeitsmann; Kinderhände wischten emsig an dem feuchten trüben Beschlag der Scheiben, hinter denen die bunten Herrlichkeiten lagen. Über den Spiegel des Asphaltes, in welchem tausend Lichter spielten, glitten lautlos die Wagen; das metallene Aufschlagen der Pferdehufe ward übertönt vom Prasseln des Regens.
Das Spielwarengeschäft Tiffany überbot an Glanz, Buntheit und Mannigfaltigkeit der Ausstellung alles um sich her. Riesige Glasplatten, nur von zierlichen eisernen Trägern unterbrochen, reihten sich in drei Stockwerken aneinander; dahinter prangten in elektrischer Lichtfluth, wie von Feenhänden aufgehäuft, all die heiß ersehnten, mit glühenden Wangen erträumten Schätze der Kinderwelt: Puppen groß und klein, im tiefsten Negligé, in den kostbarsten Toiletten; vornehme Karossen und Lastfuhrwerke, Salon und Stall, Kasernen, Theater und Kirchen, Soldaten zu Fuß, zu Pferd, Schlachten, Jagden, Schäfereien, Gewehre, Bogen, Handwerksgeräthe, grell bemalte Schachteln und Guckkästen – ein Mikrokosmos des ganzen menschlichen Lebens mit seinem unruhigen Vielerlei, seiner Thorheit, seinem Wahn. In der Mitte einer jeden Auslage lockte eine mechanische Figur mit grotesken Bewegungen die schaulustige Menge.
Besonders gelang dies dem »lachenden und weinenden Bauernbuben« auf der rechten Seite des Eingangs. Das war zu lustig, wenn er mit einem leisen Knix den Kopf sinken ließ, die Hände hob und damit das weinerliche Gesicht bedeckte, um es gleich darauf mit einem breiten Grinsen wieder zu erheben. Allgemeines Gelächter begleitete stets von neuem die vortrefflich nachgeahmte Bewegung.
Der »Hansl«, so hieß in der ganzen Stadt der drollige Kauz, trieb dem schlechten Wetter zum Trotz unermüdlich sein verschmitztes Spiel. Eben jetzt wurde er von einem Ladenmädchen weggeholt und einem Kauflustigen vorgeführt. Neugierig drängten sich die Köpfe, um den glücklichen Käufer zu erblicken, doch rasch erschien Hansl wieder in der Auslage, von hellem Jubel begrüßt, und lachte noch verschmitzter. Daß er so flink wieder an den alten Standort zurückkehrte, daran war wohl der Zettel schuld, der an seinem rechten Beine hing und auf dem in großen Zeichen »150 Mark« zu lesen stand.
In diesem Augenblick glitt eine stolze Equipage vorbei, ein Mädchenkopf erschien am Wagenfenster, ein heller Ruf ertönte, der Kutscher verhielt rasch die Pferde und der Wagen stand. Der Bediente öffnete den Schlag. Ein kleines Mädchen sprang stürmisch heraus, eilte dem Schaufenster zu und drängte sich, ehe die nachfolgende in kostbares Pelzwerk gehüllte Dame sie erhaschen konnte, durch die gaffende Menge vor den kleinen Hansl.
»Mama, Mama, komm' doch!« rief das Kind, vor Vergnügen in die Hände klatschend. Dabei schüttelte es ungeduldig die goldigen Locken, die unter einer rothen schottischen Wollmütze hervor über die Schultern fielen.
»Aber Claire, schäme Dich!« erklang die Stimme der Dame, welche sich mit sichtlichem Unbehagen gezwungen sah, vorzudrängen, um den kleinen Flüchtling zu erreichen. Lachend machten ihr die Leute Platz, und mit einer ärgerlichen hastigen Bewegung zog sie das zögernde Kind zurück.
»Mama! Bitte, bitte, kaufe mir den lieben Jungen!« flehte das Mädchen. »Ich will nichts zum Christkind als den kleinen Jungen. Ich muß ihn haben, Mama, hörst Du!«
Starker Eigenwille klang aus den letzten Worten. Claire machte Miene, nicht vom Platz weichen zu wollen, und das Volk ringsherum war der Frau Mama so lästig mit seinem unverschämten Gegaff.
»So komm' nur, Du sollst ihn ja in der Nähe sehen den Jungen,« entgegnete sie beschwichtigend und verschwand mit dem Kinde rasch im Laden.
Wieder wurde der Hansl geholt. Die Verkäuferin erklärte den Mechanismus und zog das Uhrwerk auf. Claire betastete strahlenden Antlitzes das Wunderwerk, während die Mama prüfend auf den Zettel sah und eine Bewegung der Überraschung machte. Die Verkäuferin that, als ob sie davon nichts bemerke, sie pries laut die herrlichen Eigenschaften des kleinen Hansl, sein vortreffliches solides Innere und lachte selbst um die Wette mit ihrem Schützling.
Frau Kommerzienrath dürfe nicht zögern, jede Stunde melde sich ein neuer Liebhaber, und niemand gönne sie den Hansl mehr als der Frau Kommerzienrath; für solche Herrschaften seien ja so kostbare Sachen gemacht, nicht für das Volk da draußen, das nur die Spiegelscheiben beschmutze mit den garstigen Händen.
Claire verschwendete alle Kosenamen an Hansl und an die Mama; sie wollte den Jungen durchaus gleich mitnehmen. Eine Weile ließ sich die Kommerzienräthin noch bitten, dann flüsterte sie der Verkäuferin etwas ins Ohr; diese nickte unterthänig.
»Das Christkindchen läßt sich von den Kindern nichts abtrotzen; bitte es schön um den Hans, und Du wirst ihn vielleicht bekommen.«
Claire lächelte sonderbar schlau über diese Worte der Mama – das reizende Kindergesicht erhielt dadurch einen frühreifen Ausdruck. So schnell man auch den Laden wieder verließ, es entging ihr doch nicht, daß Hansl nicht mehr in die Auslage zurückgestellt wurde. Sie verstand die Mama.
Die Kinder draußen vor dem Schaufenster blickten mit einem Gemisch von Zorn, Neid und Bewunderung auf das schöne kleine Mädchen, die glückliche künftige Besitzerin des so lange bewunderten Hansl, die jetzt von dem Bedienten in den Wagen gehoben wurde.
Erst nachdem das Gefährt verschwunden war, eilten sie lachend, pfeifend, springend, mit der vergeßlichen Sorglosigkeit der Jugend zu anderen ausgestellten Herrlichkeiten.
Claire schmiegte sich wie ein Kätzchen an das warme weiche Pelzwerk der Mutter und träumte mit offenen glänzenden Augen von dem strahlenden Weihnachtsbaum, unter dem Hansl seine Gesichter schneiden würde auf ihren Befehl; der Gedanke, unumschränkte Herrin zu sein über diese wunderbare, gleichsam mit Leben begabte Puppe, reizte schon im voraus ihren eigenmächtigen Kindersinn.
Die Frau Kommerzienrath ringelte die Locken ihres Töchterleins um die Finger und betrachtete mit stolzer Freude das schöne Antlitz, über das jeden Augenblick der Strahl einer Laterne hinzuckte. Allmählich wurden die Pausen zwischen den einfallenden Lichtstrahlen immer länger, der Koth spritzte klatschend auf unter den Rädern, ein dumpfes Rauschen ging durch die Nacht. Der Wagen fuhr durch eine Allee, zur Seite glänzten die angeschwollenen Fluthen des Flusses. Das Haus des Kommerzienrathes Julius Berry, des Eisenkönigs des Landes, lag weit draußen, in nächster Nähe der Berryschen Werke.
Plötzlich stockte die rasche Fahrt, dann hielt der Wagen. Die Kommerzienräthin beugte sich besorgt hinaus. Eine dunkle Menschenmasse hielt die Straße besetzt, der matte Schein einer Laterne warf ein spärliches Licht darüber – sonst unheimliche Stille; nur das Rauschen des Stromes und das Prasseln des Regens auf dem Kutschendach war hörbar.
»Was ist, Peter?« fragte sie den Kutscher angsterfüllt.
Es war eben die Stunde, in welcher die Fabriken der Vorstadt sich entleerten. Berry war ein strenger Herr und bei den Arbeitern nicht beliebt – wenn man seinen Wagen erkannte – der Haß dieser Leute wuchs von Tag zu Tag!
»Ein Unglück, gnädige Frau!« antwortete Peter. »He, was giebt's da?« rief er dann in barschem Tone.
»Pressiert's so?« – »Was kümmern sich die um so ein Elend!« – »Warten!« klang es wirr durcheinander.
Die Kommerzienräthin wollte sich erschrocken zurückziehen, da sah sie die Pickelhaube eines Schutzmanns aus der Masse glänzen, und einigermaßen beruhigt, setzte sie ihre Beobachtungen fort.
Eine befehlende Stimme rief »Zurück! Platz!« und die Menge theilte sich. Ein wassertriefender Mann und ein dunkler Klumpen auf dem Boden wurden im flackernden Scheine der Laterne sichtbar. Der Schutzmann beugte sich nieder und machte dann hastig Notizen nach den unverständlichen Aussagen des Mannes. Entsetzte neugierige Gesichter blickten aus dem Dunkel auf den Vorgang. Nun trat der Schutzmann zurück, und die Räthin erkannte in dem unförmlichen Etwas am Boden eine Frau mit bläulichem, verzerrtem Totenantlitz; an ihrer Brust lag mit schlaffen Gliedern ein Kind, ein Knabe. Blondes Haar hing in nassen Strähnen unter einer blauen Wollmütze in das feuchte Gesichtchen, schluchzender Athem hob gewaltsam die kleine Brust. Lauter und drohender lärmte die Menge und die Räthin glaubte mit Entsetzen den Namen »Berry« zu hören.
Da schrie die kleine Claire laut auf.
»Mama! Gerade wie der Hansl im Laden vorhin!«
»Aber Claire, wie kannst Du so sprechen!« antwortete leise und bebend die Räthin. »Der unglückliche Junge! Gott, daß ich das sehen muß – meine Nerven!«
Inzwischen hatte der Schutzmann den Knaben aufgehoben, der plötzlich die Augen starr öffnete und laut schreiend die Ärmchen nach der Toten ausstreckte.
»Was fehlt dem Jungen?« fragte Claire, die mit ahnungsloser Neugierde dem Vorgang zusah. »Wer ist die Frau?«
»Die Mama wohl des armen Kleinen. Sie ist tot, Claire, ertrunken im Fluß,« entgegnete die Kommerzienräthin, die sich schaudernd in die Ecke drückte und doch keinen Blick von dem traurigen Schauspiel verwenden konnte.
»Warum ertrunken?« erkundigte sich Claire weiter, im Tone eines verwöhnten Eigensinns.
»Die Unglückliche wird wohl selbst hineingesprungen sein.« Die Antwort klang ganz mechanisch.
»Warum?«
Die Mutter schwieg, es schnürte ihr die Kehle zusammen.
»Und was geschieht jetzt mit dem Kleinen?«
»Er ist nun wohl eine arme Waise, hat keine Mama mehr wie Du, Claire. Dieser Mann dort mit dem Helme wird für ihn sorgen.«
»Ist das sein Papa?«
»Claire, ich bitte Dich, quäle mich nicht so!«
»Ja, aber wem gehört er denn?«
»Ich weiß es nicht – und nun laß es der thörichten Fragen genug sein!« Gespannt horchte sie wieder auf die wirren Reden der Leute, welche die Leiche umstanden.
Plötzlich drängte sich ein Weib durch die Menge.
»Jesus, die Marie! Hab' ich mir's doch gedacht, die arme Marie! Hat sie's nimmer ausgehalten! Ja, ja, die Marie!«
Das Weib strich das Haar aus dem Antlitz der Toten und blickte kopfschüttelnd, dann plötzlich in Schluchzen ausbrechend darauf nieder.
»Kennen Sie die Tote?« fragte der Schutzmann, an sie herantretend.
»Heiliger Gott, und der Hansl!« rief entsetzt das Weib, als sie den triefenden, ängstlich umherblickenden Jungen an der Hand des Schutzmanns gewahrte. »Mit dem armen Buberl is sie ins Wasser gangen? O, der Hallunke, der schlechte Mensch!«
»Reden Sie! Kennen Sie die Tote?«
»Na, werd' sie wohl nicht kennen, die Marie Davis, wenn wir drei Jahre lang nebeneinander wohnen! Eine gute brave Seel'! Mein Gott, wenn ich denk – aber geben's doch den Buben her!«
Der Schutzmann überließ ihr das willenlose Kind, um seine Aufzeichnungen fortzusetzen.
»Also Marie Davis heißt sie? Was war sie? Verheirathet? Was ist ihr Mann?«
»Ein Lump ist er, ein elender gewissenloser Lump – so ein lieb's Kind, so eine gute Frau – ein Saufaus, der sie in den Tod getrieben hat!«
Der Schutzmann wurde ungeduldig. »Antworten Sie ordentlich auf meine Frage!« befahl er barsch.
»Nun ja, die Wuth packt einen halt bei dem Anblick. In der Berryschen Fabrik hat er gearbeitet, der Davis, ein geschickter Mensch, aber halt 's Wirthshaus hat er nit lassen können. Vor einer Wochen haben's ihn aus der Fabrik weggejagt. Was kümmern sich die Leut' um die Frau, um die armen Kinder, da wird sie halt die Verzweiflung packt haben –«
Ein drohendes Gemurmel erhob sich in der Menge.
»Ja, was kümmern sich die um unsereinen! Der Berry ist gerade der rechte! Nur hinein ins Wasser mit dem Volke, 's giebt ja genug – denkt der!«
Der Kutscher hätte schon längst die Fahrt fortsetzen können, doch die Räthin wollte nicht. Sie war wie gebannt – ihr schien es, als seien die starren Augen der Toten anklagend und drohend auf sie gerichtet, sie konnte den Blick nicht wenden von dem verzerrten Gesicht. Was das nur war! Sie hatte ja doch ein Herz für die Armen, niemand ging unbeschenkt von ihrer Thür, und ihr Mann war gewiß auch nicht härter als seine Kollegen, als es eben nothwendig war in einem großen Geschäft, und dennoch glaubte sie eine furchtbare Anklage in diesem Totenantlitz lesen zu müssen!
Claire interessierte sich nur für den Knaben in den Armen der Frau, der sich allmählich erholte und mit großen blauen Augen furchtloser um sich blickte. Er mochte etwa fünf Jahre alt sein.
»Mama, schenke mir den kleinen Jungen zum Christkind!« sagte sie plötzlich. »Er heißt ja auch Hansl – die Frau dort hat's vorhin gesagt. Ich will den anderen gar nicht mehr mit seinem dummen Lachen. Mama, bitte, bitte, kauf' ihn!« Sie schlang ihre Ärmchen um die Mutter und küßte sie innig.
Die Räthin war überrascht, sie hatte eben einen Gedanken gehabt, der mit dem kindlich thörichten Wunsche ihres Töchterchens nahe zusammentraf. Einen Augenblick besann sie sich noch, dann öffnete sie entschlossen das Fenster und rief den Schutzmann, der dienstfertig herbeikam. Neugierig folgten die Umstehenden und umdrängten das Gespann.
»Ich will den unglücklichen Knaben zu mir nehmen, die Frau soll mit ihm einsteigen – oder geben Sie ihn mir gleich herein!« Die Erregung einer guten That röthete das Antlitz der schönen Frau.
»Das geht nicht, gnädige Frau,« erwiderte der Schutzmann in bedauerndem Ton. »Ich muß den Jungen auf die Polizeiwache bringen, dort erst kann weiter verfügt werden; doch wenn Sie mir Ihren Namen angeben wollen, kann ich die nöthige Anzeige machen.«
Die Kommerzienräthin zögerte, ihr Blick schweifte über die den Wagen umdrängende, gereizte Menge. Plötzlich sagte sie laut, mit scharfer Betonung, als wolle sie von allen gehört werden:
»Hier meine Karte – Kommerzienräthin Berry; bitte, melden Sie meinen Antrag!«
Dann gab sie dem Kutscher das Zeichen zum Weiterfahren. Die Überraschung der Leute war so groß, daß ringsum Stille eintrat, und bis sie zur Besinnung kamen, war der Wagen schon in der Nacht verschwunden.
Die Räthin fühlte sich beruhigt; sie hoffte, durch diese That der Barmherzigkeit das grauenhafte Antlitz der Ertrunkenen aus ihrer Erinnerung zu verscheuchen. Das Bild dieser verzerrten, drohenden Züge sollte ihren heiteren Lebenstraum nicht länger stören. Hatte sie nicht alles gethan, was sie konnte? Wie diese gehässige Menge beschämt sein mußte von ihrer Großmuth! Ein wohliges selbstzufriedenes Gefühl beschlich sie, sie schmiegte sich behaglich in ihren Pelz, eine prickelnde Wärme umspielte ihre Glieder – o, wie entsetzlich, dieser Sprung in den eisigen Strom!
Die kleine Claire lehnte in der anderen Ecke und stellte im stillen einen Vergleich an zwischen dem Hansl bei Tiffany und dem lebenden, wassertriefenden, den sie eben von der Mutter erbettelt hatte. Der Tausch dünkte ihr nicht schlecht. Eine lebendige Puppe, das war doch etwas anderes!
Wie wollte sie ihn aber auch lieb haben! Und er mußte alles thun, was sie wollte, und schöne Kleider mußte er bekommen, das beste Essen, ein feines weiches Bett. Es ist doch wunderschön, eine gute reiche Mama zu haben, die alles kaufen kann! Da wird der Otto schauen am Weihnachtsabend und sie beneiden – und er soll nicht den geringsten Antheil daran haben, ganz allein soll er ihr gehören, der Hansl.
Der Wagen hielt unter der säulengetragenen Einfahrt der Villa Berry. Ein kleiner Herr mit schneeweißem Backenbart und spärlichem Haupthaar, in tadellosem Salonanzug, kam eilig die Treppe herab, einen etwa achtjährigen Knaben führend. Claire sprang ihm in die ausgebreiteten Arme.
»Papa! Papa! Rath' einmal, was wir gekauft haben! Otto, rath' einmal!«
»Gekauft in der Weihnachtswoche? Warte, Claire, da wird das Christkind einfach wegbleiben, es läßt sich nicht gern ins Handwerk pfuschen,« sagte lachend der Kommerzienrath.
»Ach, was wird es denn sein – wieder einmal eine Puppe, weiter nichts!« meinte Otto geringschätzig.
»Aber was für eine Puppe!« erwiderte die Kleine triumphierend. »Eine ganz lebendige Puppe, die geht, steht, ißt, trinkt, schläft. Na, was sagst Du jetzt? Und daß Du's nur weißt, ich ganz allein bekomme sie, Du bist viel zu grob für so feines Spielzeug.«
Der Kommerzienrath küßte zärtlich seine Gattin.
»Aber so lange ausbleiben, Emilie – ich war sehr besorgt bei dem Wetter. Oder hat Dich die Puppe aufgehalten, von der Claire schwärmt?«
»So ist's, Julius, die Puppe. Komm', laß Dir erzählen – Du wirst mich vielleicht schelten, doch mein Herz zwang mich zu handeln, wie ich gethan habe.«
Mit diesen Worten reichte sie ihrem Gatten den Arm, und langsam folgten sie den Kindern, die vorausgeeilt waren. Sie erzählte ihr Erlebniß, ihren Entschluß, den armen Knaben zu erziehen. »Eine unerklärliche Angst bestimmte mich, und dann – Claire wäre tief unglücklich gewesen, wenn ihr Wunsch nicht erfüllt worden wäre; Du kennst sie ja,« schloß sie ihren Bericht.
Der Kommerzienrath war nicht sehr begeistert, besonders als er hörte, daß ihr Schützling der Sohn eines von ihm entlassenen Arbeiters sei. Die Geschichte war zum mindesten lästig. Immerhin wollte er sich seiner geliebten Frau gegenüber nicht hart zeigen.
»Du hast ein gutes edles Herz – ich will Dir keinen Vorwurf machen; doch Du kennst diese Menschen nicht. Ich fühle, Du wirst Undank ernten. Unsere besten Absichten werden verkannt, in das Gegentheil verkehrt. ›Zuerst die Mutter in den Tod getrieben und dann den Sohn wie einen Sklaven in Beschlag genommen,‹ werden sie sagen. Doch es sei, wie Du willst; wir wollen es einmal versuchen mit Eurem Hänschen.«
»Tausend Dank, Julius! Mir war wirklich bang, was Du dazu sagen würdest,« entgegnete erfreut die Räthin.
»Aber es war mir hauptsächlich auch um Claire; sie hat sich den Kleinen in den Kopf gesetzt, und hätte sie ihn nicht bekommen, ganz Weihnachten wäre ihr verpfuscht gewesen. Wir lieben ja doch das gute Kind so sehr!«
»Als Geschenk für Claire – so meinst Du es, hm!« Der Kommerzienrath wurde plötzlich ernst. »Nun, das Ergebniß ist am Ende dasselbe; aber nicht wahr, Emilie, Du läßt diese Absicht nicht laut werden, ich bitte Dich darum!«
* * *
Die Leiche der unglücklichen Marie Davis war in die Morgue gebracht worden, auf deren Bleidach unermüdlich der Regen niederprasselte. Den kleinen Hans, den sie hatte mit hinunternehmen wollen in die Ruhe des feuchten Grabes, hatte der Schutzmann auf die Polizeiwache geführt.
»Maria Davis, laut Aussage von Frau Schmidt die Frau des Jakob Davis, früheren Maschinisten in der Berryschen Fabrik, leblos aus dem Flusse gezogen von einem gewissen Thomas Wachhorst, Säger in der Stadtmühle, in die Morgue verbracht; deren sechsjähriger Sohn Johann Davis, lebend übergeben vom Schutzmann Nr. 6 des X. Bezirkes. Dominik Kirner.«
So lautete das Protokoll des wachhabenden Beamten. Als es aufgesetzt war, spritzte der Protokollführer mit wichtiger Miene die Feder aus, dann trat er in dienstlicher Haltung an den Vorgesetzten heran und sagte: »Gestatten der Herr Assessor die Bemerkung, daß ein Jakob Davis seit gestern sich hier auf Nr. 10 in Haft befindet. Er wurde völlig betrunken aufgegriffen. Wenn es sich vielleicht darum handelt, die Richtigkeit der Aussage dieser Frau Schmidt festzustellen, so könnte man vielleicht –«
»Sie haben recht, lassen Sie den Gefangenen sofort vorführen!« befahl der Angeredete trocken, ohne den Kopf von der Schrift vor ihm zu erheben. »Das Kind kann hier bleiben.«
Der kleine Hans wurde auf die für eingebrachte Delinquenten bestimmte Bank gesetzt. Mitleidige Leute hatten ihn rasch mit trockenen Kleidern versehen, und nun behagte es ihm sehr in der lauen Wärme des Zimmers.
Mit kindlicher Neugierde blickte er sich um in dem kahlen Raum. Offenbar war er es gewohnt, allein unter fremden Leuten zu sein. Die großen blauen Augen wagten es sogar, den entsetzlichen Mann mit dem grünen Schirm auf der Stirn, an dem sie vorher immer ängstlich vorbeigegangen waren, einer eingehenden Beobachtung zu unterziehen.
Da tönten schlürfende Schritte auf den Steinfliesen des Ganges. Ein breitschultriger großer Mann in beschmutztem Anzug trat herein, begleitet von dem Gefängnißwärter. Verbissener Trotz lag in dem Gesicht, dem die Leidenschaft des Trunkes schon ihren rohen Stempel aufgedrückt hatte. Er achtete nicht auf das Kind, das sich bei seinem Anblick zitternd in die Ecke drückte.
»Jakob Davis ist Ihr Name?« fragte der Beamte.
»Ja.«
»Ihre Frau heißt Marie, Ihr Sohn Johann?«
»Stimmt, was soll's damit?«
»Ist der Junge dort Ihr Sohn?« fragte mit schneidender Kälte der Beamte weiter, auf den zitternden Hans deutend.
Jakob Davis wandte sich jäh um. Der Knabe schrie laut auf und streckte die Ärmchen vor, wie um sich vor einem erwarteten Schlage zu schützen. »Verdammt! Wie kommst denn Du daher?« schrie er ihn an.
»Mutter –« klang es ängstlich, leise durch den schwülen Raum.
»Ein gewisser Thomas Wachhorst rettete ihn am Wehre der Stadtmühle aus dem Flusse; für die Mutter, Ihre Frau, war es schon zu spät, sie ist tot. Es liegt offenbar Selbstmord vor.«
Scharf, wuchtig wie Schwerthiebe klangen die Worte.
Davis senkte den Kopf auf die Brust, ein schwerer Seufzer entrang sich ihm, ein unterdrücktes Ächzen, dann ward es ganz still.
Der Assessor blinzelte forschend unter dem grünen Schirme hervor; der Schutzmann, der den Kleinen gebracht hatte, legte eine Visitenkarte auf den Tisch und flüsterte mit dem Reviervorstand. Da hallte plötzlich ein wilder, schmerzzerrissener Ausruf durch den Raum: »Marie!«
Erschrocken fuhr der Beamte in die Höhe. Davis lehnte an der Wand, das Gesicht in beide Fäuste vergraben, heftig schluchzend. Einen Augenblick ging es wie Mitleid über die strengen Züge des Assessors, und unwillkürlich gewann seine Stimme einen weicheren Klang, als er jetzt zu dem Gefangenen sprach:
»Ich kann Ihnen zugleich eine sehr tröstliche Mittheilung machen; Frau Kommerzienrath Berry, die Gattin Ihres ehemaligen Dienstherrn, kam zufällig an der Stelle vorbei, wo das Unglück geschehen war, und erfuhr den Thatbestand; sie bietet sich großherzig an, Ihren Sohn zu sich zu nehmen und auf ihre Kosten erziehen zu lassen. Sie werden selbstverständlich gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden haben. Bei Ihrer Aufführung kann der Knabe ohnehin nicht Ihnen überlassen werden und müßte in ein Asyl für verwahrloste Kinder.«
Davis lachte gell auf. »Die Berry? Respekt! Zuerst die Mutter ins Wasser hetzen und dann den Buben gnädigst annehmen! O, was die Leute für ein braves Herz haben, die Blutsauger – die –« Er ballte die Fäuste.
»Mäßigen Sie sich und lassen Sie das Gefasel!« entgegnete der Beamte. »Niemand anders hat Ihre Frau ins Wasser gehetzt als Sie selbst durch Ihren sträflichen Leichtsinn.«
»Ah so, ich! Natürlich! Wenn unsereiner sich einmal einen lustigen Tag machen will, dann heißt's gleich: das ist ›sträflicher Leichtsinn‹, der Kerl ist ein Lump! Und so ein ehrenwerther Herr Kommerzienrath kann keinen Lumpen brauchen und jagt ihn fort ins Elend mit Weib und Kind! Und das praßt und verschwendet das ganze Jahr drauf los!« Mit leidenschaftlicher Wuth hatte er die Worte hervorgestoßen, nun hielt er inne, sein Blick traf auf das furchtsam zusammengekauerte Kind. Die Hand, die er drohend erhoben hatte, fiel herunter, und nach einem sekundenlangen Schweigen fuhr er gepreßt fort: »Na, meinetwegen sollen's ihn haben, den Burschen, der armen Marie zulieb. – Herrgott, ist's denn möglich?« Die Kraft schien ihn zu verlassen, er schwankte bedenklich; der Beamte gab dem Gefängnißwärter ein Zeichen.
»Sie können gehen, morgen werden Sie entlassen.«
Davis wurde abgeführt. Noch einmal blieb er vor dem ihn regungslos anstarrenden Kinde stehen. »Hansl«, sagte er zärtlich, »b'hüt' Dich Gott, Du hast's gar nicht schlecht errathen.«
Er streckte dem Knaben die Hand hin, doch dieser ergriff sie nicht und zog sie scheu zurück. Davis lachte höhnisch und machte eine wegwerfende Bewegung. »So – ich bin Dir jetzt schon z'schlecht? Auch recht!« Damit schritt er zur Thür hinaus.
Die Feder kreischte wieder über das Papier, das Gas strömte sausend aus der Röhre und draußen klatschte unausgesetzt der Regen gegen die Fenster.
»Eine schlimme Woche – schon der dritte Selbstmord in unserem Bezirk!« bemerkte kurz der Beamte.
»Weihnachtswoche – ist immer so! Da spürt jeder doppelt sein Elend!« meinte der Schreiber mit einem schweren Seufzer.