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Jener Hieb mit dem Kindersäbel, den Hänschen am Weihnachtsabend gegen den Sohn des Hauses geführt hatte, änderte alle Bestimmungen, die für seine Zukunft getroffen waren, seine Zwillingsbruderschaft mit dem Hansl von Tiffany verleugnete sich nicht, er war wirklich ein Automat des Schicksals. Anstatt in der Familie aufgezogen und förmlich adoptiert zu werden, wie die Räthin anfangs beabsichtigt hatte, wurde er als schlichter Hans Davis zu dem ersten Prokuristen des Hauses Berry, dem kinderlosen Herrn Isidor Merk, in Pension gegeben.
Dieser fühlte sich durch das Vertrauen seines Herrn hochgeehrt, während seine Gattin Tini in der Sache nur eine vortreffliche neue Einnahmequelle erblickte. Der Kommerzienrath wünschte ausdrücklich, daß dem Jungen in keiner Weise etwas abgehe, und zahlte auch dementsprechend, aber Frau Tini hatte über das »nichts abgehen« ihre eigenen Gedanken. Was sollte denn einem Arbeiterkind, dessen Mutter sich, um dem größten Elend zu entgehen, ins Wasser gestürzt hatte, in aller Welt abgehen, wenn es nicht hungern und frieren mußte? Sie hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, seine den früheren ärmlichen Verhältnissen entstammende Genügsamkeit durch zu großen Aufwand zu verderben, die sollte ja zum Eckstein seines künftigen Glückes werden.
Nach diesen Grundsätzen der Frau Tini wurde Hänschen erzogen. Sie hatte ganz richtig gerechnet – seine gesunde kräftige Natur, die ihn schon damals vor dem Tode in dem eisigen Strome bewahrt hatte, half ihm über alle Härten und Entbehrungen hinweg. Er wuchs trotz schmaler Kost und reichlicher Arbeit zu einem blühenden kräftigen Hans heran. Und er fühlte sich nicht einmal unglücklich, denn dazu fehlte ihm jeder Vergleichungspunkt. Ständig erinnerten ihn seine Pflegeeltern an seine Herkunft und stellten ihm seine Existenz dar als eine fortgesetzte Wohlthat, wofür er in erster Linie dem Herrn Kommerzienrath und dann Frau Tini Dank schuldig sei. Es fiel ihm daher auch gar nicht ein, bei dem Herrn Kommerzienrath irgend welche Klage zu führen, wenn er Sonntags, in festtägliche Kleider gesteckt, in das Herrenhaus zu Fräulein Claire durfte, die ihr Anrecht auf ihn sich nicht ganz rauben ließ.
Nach der dunklen, freud- und lieblosen Woche bei Merks, welche im Beamtenhaus, inmitten von Staub und Lärm der Fabrik, ein paar Zimmer bewohnten, war dieser Sonntag bei Berrys in Claires Gesellschaft für ihn ein Sonnenstrahl, der alle düsteren, in seiner Kinderseele angesammelten Wolken verscheuchte.
Wiederholt hatte er aus dem Munde der Freundin die Geschichte jener fürchterlichen Nacht vernommen, die seinem eigenen Gedächtniß nie ganz entschwunden war; auch an spöttischen Bemerkungen darüber von seiten Tinis und der Arbeiterkinder auf dem Fabrikhof fehlte es nicht.
Er wußte selbst nicht, ob auf Grund persönlicher Erinnerung oder oft wiederholter Erzählung – er glaubte, sich an den letzten Kuß, den entsetzlichen Sprung, an das bleiche entstellte Antlitz seiner Mutter erinnern zu können.
»Mama, schenke mir den kleinen Jungen zum Christkind, ich will den Hansl bei Tiffany gar nicht mehr.« Oft wenn beim Herumsuchen unter den Spielsachen der längst invalid gewordene Automat zum Vorschein kam, wiederholte ihm Claire lachend diese Worte, die sie an jenem schrecklichen Abend gesprochen hatte. Sie prägten sich seinem Gedächtniß unauslöschlich ein; aber nie stieg auch nur einen Augenblick ein Gefühl der Bitterkeit darüber in ihm auf. Auch daß sich Claire ein Bestimmungsrecht über ihn anmaßte und trotz aller innigen Freundschaft immer wieder den Ton der Herrin durchklingen ließ, nahm er nicht übel; im Gegentheil, er freute sich dessen – er freute sich, daß alles so gekommen war; so brauchte er niemand zu danken als ihr, die er abgöttisch liebte, die mit ihren blauen Augen, ihrem schimmernden Goldhaar ihn anzog wie niemand sonst. Doktor Schindling, sein Beschützer, war im ersten Jahre seiner Anwesenheit gestorben, und alle anderen kümmerten ihn nicht – der starre, ihm nie zulächelnde Kommerzienrath, dem er bei jedem Besuch in mechanischer Gewöhnung die Hand küßte; der hochmüthige boshafte Otto, von dem er sich Claire zuliebe geduldig quälen ließ, der verhaßte, seinem Chef gegenüber kriecherische, gegen ihn selbst harte Prokurist und dessen geizige lieblose Frau, denen er doch unbedingt folgte, in der wachsenden Furcht, auch diesen Platz zu verlieren, ganz, für immer getrennt zu werden von Claire. Herr Berry kümmerte sich wenig um die Erziehung des Knaben; erst als er zufällig von dessen ausgezeichneten Fähigkeiten hörte, regte sich in ihm wenigstens der Kaufmann, und er entschloß sich, das auf den Jungen verwendete Kapital nutzbringend zu machen. Hans Davis konnte eine für ihn höchst werthvolle Arbeitskraft werden, auf die er ein festes Anrecht hatte.
Der Knabe hatte das vierzehnte Jahr erreicht, es war also höchste Zeit, für seinen Entwicklungsgang zu sorgen. Berry schickte ihn auf die Gewerbeschule, um ihn zum Maschinentechniker ausbilden zu lassen; in der freien Zeit wurde er einem erfahrenen Werkmeister der Fabrik zum praktischen Unterricht zugetheilt.
Damit begann für Hans ein neues Leben; ein Arbeitsfeld lag vor ihm, in dessen schmutziger qualmender Atmosphäre er aufgewachsen war, ohne seinen Reiz zu kennen. Er beschritt es mit freudigem Drange, mit den besten Vorsätzen. Diese riesigen Hallen mit den sprühenden leuchtenden Feuern, den geheimnißvollen Maschinen, die er stets mit stummer Ehrfurcht betrachtete – das war ein anderer Aufenthalt als die paar Stuben bei Frau Tini, und hier gab es andere Arbeit als Aufwaschen, Holztragen und all die unzähligen niedrigen Dienstleistungen im Hause des Prokuristen! Und was man in der Gewerbeschule lernen konnte! Der Kopf brannte ihm vor Eifer, die dunkle Ahnung stieg in ihm auf, daß dies der Weg sei, auf dem die höhnischen Bemerkungen über seine dunkle Herkunft, über seine verschenkte Existenz zum Schweigen gebracht werden könnten. Denn mit den Jahren und dem wachsenden Verständniß hatte die Gleichgültigkeit gegen derartige Anspielungen aufgehört und einer jäh ausbrechenden, ihn oft zu Thätlichkeiten hinreißenden Erregung Platz gemacht. Selbst Claire gegenüber schwand unter den neuen Verhältnissen seine bisherige Duldsamkeit in diesem Punkte. Das Hammerschwingen stählte seine Muskeln, weitete seine Brust, gab seinem Gesicht einen kraftvollen, fast trotzigen Ausdruck. Der Blick in die Zukunft, der Drang, den Fleck abzuwaschen, der an ihm haftete, stählte seinen Sinn. Er verehrte Claire auch jetzt noch wie ein hoch über ihm stehendes Wesen, aber er fühlte sich schon ihr gegenüber. Neckereien, die er sonst willig hinnahm, schmerzten ihn jetzt; an die Stelle kindlicher grenzenloser Verehrung trat eine liebevolle Nachgiebigkeit; wenn es noth that, ein ebenso fester als geschickter Widerstand.
Diese Veränderung erfolgte so allmählich, so gleichmäßig mit der, welche in Claire selbst vor sich ging, daß beide sie erst gewahr wurden, als sie sich schon vollzogen hatte. Und nun machte jene ungebundene ahnungslose Freiheit im Benehmen Claires, bei der Geschlecht und gegenseitige Stellung gar nicht in Frage gekommen war, einer gewissen ängstlichen Scheu Platz. Mit Schmerz sah sie ihr geliebtes Spielzeug, ihr Eigenthum, auf das sie stolz war, ihren Händen entwachsen, sie wagte kaum noch eine Anspielung darauf, und wenn sie es wagte, gereizt durch sein Auftreten, so fürchtete sie sein sonderbar überlegenes Lächeln; dann schien ihr plötzlich das Spiel umgedreht – sie in seinen Händen.
Beide fühlten, früher als die achtlosen Eltern, daß dieses Verhältniß keine Dauer mehr haben könne. Der Kommerzienrath und seine Frau, mit anderen Dingen vollauf beschäftigt, erblickten in Hans Davis immer noch den armen Findling, der nichts zu bezeigen hatte als Dankbarkeit und Unterwürfigkeit – die Neigung Claires war ihnen eine kindische Laune; das Mädchen griff ja auch noch hie und da zu seinen Puppen, es hatte also keine Noth.
Claire war jetzt siebzehn Jahre alt und versprach eine Schönheit ersten Ranges zu werden, wenn ihre in voller Entwicklung begriffene Gestalt zu harmonischer Fülle gelangt sein würde. Von ihrem Vater wurde sie eifersüchtig in der ländlichen Einsamkeit der Villa gehalten. Junge Männer verkehrten dort wenig, die Geschäftsfreunde Berrys waren zu alt, Ottos Kameraden zu jung, um Gefühle in ihr wachzurufen, welche in diesem Alter sich in jeder weiblichen Brust zu regen beginnen; so gehörte alles, was ihr kindliches Herz an Zuneigung für Dritte übrig hatte, dem Jugendfreund, so sehr sie auch von ihrem Bruder deshalb verlacht wurde.
Dieser betrachtete Hans mit der lächerlichen Geringschätzung jeder praktischen Thätigkeit, wie sie nur immer ein auf den Bänken der Weisheit sitzender unreifer Junge haben kann; und zudem – die Narbe von jenem Säbelhieb war mit ihm aufgewachsen und damit eine untilgbare Abneigung, die von Hans redlich getheilt wurde. Dennoch kam es nie mehr zu irgend einem Auftritt zwischen beiden; Hans wurde durch die Furcht abgehalten, Claire damit ganz zu verlieren, Otto durch die Angst vor dem jähen Aufblitzen des Zornes in dem Auge dieser »Wasserratte«, wie er den Gehaßten nannte.
Mitten in das stille Leben und Arbeiten hinein kam aber plötzlich böse Kunde für Hans. Fräulein Claire sollte in den nächsten Tagen nach Paris abreisen! Der Kommerzienrath hielt bei der bisherigen Zurückgezogenheit seines Kindes vor dessen Erscheinen in der Welt eine weitere Ausbildung für unbedingt nothwendig, wenigstens gab er seiner erstaunten Frau keinen anderen Grund an für seinen überraschenden Entschluß.
Hans zuckte bei der Nachricht zusammen wie von einem heftigen Schlage getroffen. Ein besonderer Umstand vermehrte noch seine Erregung. Am letzten Sonntag war er wie gewöhnlich im Herrenhaus bei Claire gewesen; sie schlugen Ball im Parke, und einmal verlor sich der Ball im Grase; sie suchten ihn längere Zeit, dann wurde ihnen die Sache zu langweilig, und sie schritten Arm in Arm durch den Park, schweigend, ohne etwas zu denken, aber seelenvergnügt. Da rief plötzlich eine zornige Stimme Claires Namen – es war der Kommerzienrath.
Das Mädchen wurde feuerroth und ließ mit einer jähen Bewegung den Arm ihres Begleiters fahren. Herr Berry war schon wieder verschwunden, trotzdem entfernte sie sich rasch unter einem sehr wenig stichhaltigen Vorwand.
Nun, als er die Nachricht von ihrer Abreise erhielt, stieg es heiß in ihm auf: gewiß, der herzliche Umgang mit ihm war der Grund der Entfernung! Aber was war denn an diesem Spaziergang im Parke besonderes gewesen, sie hatten ihn doch bisher jeden Sonntag ungerügt machen dürfen! Und sie sprachen doch nichts Unrechtes, sie sprachen ja gar nichts! Allein Arm in Arm mit der Tochter des Kommerzienraths Berry, des Millionärs, er, der arme Findling, die »Wasserratte« – ja das war's! Und deshalb schickte man seine geliebte Claire nach Paris? Da wäre es doch einfacher gewesen, ihn selbst für immer aus dem Herrenhaus zu weisen. Oder war es etwas anderes? Furcht für Claire selbst, Furcht vor etwas zwischen ihr und dem armen Hans? Mit instinktiver Sicherheit erkannte er, daß hier der tiefste Grund verborgen liege. Das Blut schoß ihm jäh in das Gesicht, ein wildes nie gekanntes Freudegefühl durchzuckte ihn.
Claire stand auf einmal vor seinen Augen, aber sie sah ganz anders aus wie sonst, tausendmal schöner. Dieser große Blick, der Duft ihres Haares, der Druck ihrer Hand!
Er saß in seiner kahlen, häßlichen Stube über seinen Büchern. Frau Tini hatte ihm eben mit schadenfroher Miene die bevorstehende Abreise Claires berichtet. Zum Fenster herein blickte ein trüber, naßkalter Herbsttag; schmutzige Nebel zogen mit dem Kohlenrauch um die Wette über die schwarzen Schuppen und Hallen, und doch dünkte ihm das alles schöner als am sonnigsten Frühlingstag; sein Herz schlug mächtig, und ein wildes drängendes Gefühl hob die junge Brust, in der es wie etwas Großes, Unbekanntes zum Lichte wollte. Mit erregter Phantasie beschwor er seine ganze Vergangenheit herauf – Claire in tausend Bildern, von jenem ersten an dort im Scheine der qualmenden Fackel, deren Licht noch auf ein anderes, ihm unauslöschlich eingeprägtes Antlitz fiel, auf das verzerrte blasse Antlitz der Mutter! Er selbst am Arm eines bärtigen Mannes, das Rauschen des Flusses, das laute Schreien und Drängen der Leute ringsum – noch nie war ihm die schreckliche Scene so klar vor Augen gestanden. Er forschte weiter – was kam dann? Richtig, eine warme Stube, ein Mann mit einem grünen Schirm über den Augen, und dann? Ein anderer, groß, breit mit schwarzem wirren Haar tritt herein, die beiden Männer sprechen viel miteinander, der Schwarze schreit plötzlich auf und kommt dann auf ihn selber zu – es ist sein Vater, der »entlassene verkommene Arbeiter«, wie sie ihn immer nannten. Er hatte ihn nie mehr gesehen, nie mehr von ihm gehört, ihn ganz vergessen – bis jetzt. Wenn der Vater wiederkommen, wenn Claire ihn sehen würde in seinem Elend – sie würde nie mehr ihren Arm in seinen eigenen legen, nie mehr, und das würde er nicht ertragen können! Und doch wird er es ertragen müssen, auch wenn der Vater verschollen bleibt – die aus Paris zurückkehrende Claire wird nicht mehr seine Claire sein. Sie wird schöner und schöner werden, andere Freunde bekommen, reiche vornehme Freunde, und ihren Hans vergessen. Doch das darf sie nicht, er wird es ihr sagen beim Abschied, daß sie das nicht darf. Er ist ja ihr Eigenthum, und niemand vergißt sein Eigenthum.
Eine plötzliche Furcht befiel ihn, Claire könnte abreisen ohne diesen Abschied, ohne daß er ihr noch das alles sagen dürfte. »Aber das soll sie nicht!« rief er zornig aus … Allein wenn sie müßte, wenn der unerbittliche Herr Berry, sie dazu zwingen würde … Hans sprang auf von seinen Büchern, die niedrige Zimmerdecke drückte auf ihn, er mußte hinüber in das Herrenhaus, gleich jetzt. Wenn sie heute noch reisen müßte – um diese Abendstunde ging ein Schnellzug nach Paris! Entsetzen packte ihn; der Gedanke, daß sie schon fort sein könnte, raubte ihm fast die Besinnung, es war ihm, als gähne eine unermeßliche Leere zu seinen Füßen.
»Wann reist Fräulein Claire?« rief er in die Küche, in der Frau Tini herumhantierte.
»Bald, heute wohl!«
»Woher wissen Sie das?«
Zuerst erschrak die Frau vor seinem verstörten Aussehen, dann lachte sie ihm plötzlich hellauf in das Gesicht.
»Der Wagen ist auf sechs Uhr bestellt, und gepackt wird auch, das weiß ich. Du glaubst wohl, es sei nicht möglich, daß sie geht, ohne Dir Lebewohl gesagt zu haben? O, Du dummer Mensch – das gnädige Fräulein und Du!«
Hans summte es in den Ohren, wie ein Schatten senkte es sich vor seine Augen. Entschlossen stürzte er die Treppe hinab, dem Herrenhaus zu; um jeden Preis mußte er sie noch einmal sehen.
Er eilte über den schon dunkelnden Hof, zwischen den Schuppen und Lagerhäusern hindurch. Schon sah er die Villa. Lichter bewegten sich in dem sonst dunklen Bau. Eine gewisse Unruhe schien dort zu herrschen, die Unruhe der Abreise; Frau Tini hatte recht. Nun galt es Eile – der nächste Weg ging am Polierhaus vorüber. Da plötzlich trat aus dem dunklen Schatten des Hauses ein Mann vor ihn hin in der offenbaren Absicht, ihn aufzuhalten. Er sprang zur Seite, aber der Fremde hielt ihn mit eisernem Griffe fest. »Bleib! Mach' kein Geschrei und hör' mich an; ich wartete auf Dich,« flüsterte er.
In Hans war jetzt kein Raum für die Furcht; er war nur wüthend über die Verzögerung. »Lassen Sie mich los, ich habe keine Zeit!« sagte er knirschend, aber unwillkürlich leise, unter dem Banne der Mahnung, keinen Lärm zu machen.
»A bah, keine Zeit! Es giebt für Dich nichts Wichtigeres, als was ich Dir zu sagen habe,« erwiderte der Mann, ihn festhaltend; er mußte seinem Aussehen nach ein Arbeiter sein.
»Ich muß zu Herrn Berry, bevor er nach Paris abreist – ich muß, und nun lassen Sie los oder ich rufe um Hilfe!«
»Herr Berry reist aber heute nicht, sage ich Dir. Er reist erst morgen, ich weiß es; also hast Du Zeit –«
Hans athmete auf. »Wissen Sie das bestimmt?«
»Bestimmt. Er bringt morgen seine Tochter Claire nach Paris.« Der Mann wußte offenbar Bescheid. Jetzt wurde Hans doch neugierig – was konnte der Fremde von ihm wollen? Warum hatte er auf ihn gewartet? Er folgte dem Voranschreitenden willig in den dunklen Schatten des Gebäudes und betrachtete dabei gespannt dessen Züge.
Ein schwarzer Bart umrahmte ein dunkles Gesicht, schwarzes Haar fiel unter dem großen Hute auf die auffallend weiße leuchtende Stirn.
»Johann Davis ist Dein Name, nicht wahr? Es ist nur, damit ich gewiß nicht fehlgehe.« Er lachte leise.
»So heiße ich,« erwiderte Hans, von dem Geheimnißvollen der ganzen Sache gepackt.
»Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, seit zwölf Jahren im Hause des Prokuristen Merk auf Kosten des Kommerzienraths Berry, nicht wahr?«
Hans nickte nur, ein gräßlicher Gedanke schnürte ihm die Kehle zusammen.
»Du weißt natürlich auch, wie Du zu dem Berry gekommen bist, sie werden es Dir schon oft vorgehalten haben, Deine Herren Wohlthäter –«
»Ich weiß alles.«
»Ich dacht' es mir. Erinnerst Du Dich noch an das, was damals war? Es ist schon lange her, Du warst noch nicht ganz sechs Jahre alt.«
»Dunkel nur. Aber was soll dieses Fragen?«
»Also doch noch dunkel,« antwortete der Fremde, ohne sich um die gestellte Frage zu kümmern. »So will ich Dir ein bißchen helfen. Deine Mutter kannst Du Dir wohl noch denken, so ein Gesicht vergißt sich nicht leicht. Aber auch Deinen Vater?« Hans schauerte zusammen. »Rede! Erinnerst Du Dich nicht mehr an ihn, an das Zimmer, in dem Du ihn zum letzten Male gesehen hast? Du saßest auf einer Bank, er reichte Dir die Hand zum Abschied, Du jedoch schrecktest vor ihm zurück – erinnerst Du Dich nicht?«
»Ja, ich erinnere mich, und dieser Mann –«
Hans blickte starr in das finstere Gesicht vor ihm, seine Hand schob zitternd den großen Hut zurück.
»Und dieser Mann bin ich,« flüsterte der Unbekannte.
»Jakob Davis, Dein Vater, der weit hergekommen ist, Dich zu besuchen.«
Vor den Augen des jungen Mannes tanzten tausend Funken, die Knie wankten ihm, nur ein Gedanke beherrschte ihn – Claire! Sie durfte nichts davon erfahren, und gottlob – sie wird nichts erfahren, weil sie morgen abreisen wird, um jahrelang in der Ferne zu bleiben; bis dahin – weiter dachte er nicht.
»Du bist nicht sehr erfreut, Junge,« brach Davis das plötzliche Schweigen. »Dachte mir's schon. Begreif' es auch. Aber sei nicht blöd', es fällt mir ja nicht ein, Dich zu holen – hab' mit mir selber genug zu thun. Und es soll's auch niemand erfahren, daß ich hier bin, hörst Du? Es liegt mir sehr viel daran; wenn meine Anwesenheit bekannt würde, wär's verteufelt unangenehm für uns beide. Ich wollte nur einmal sehen, was sie aus Dir gemacht haben. Mir ging's schlecht die letzte Zeit. Hab' gearbeitet wie ein Thier damals, als ich von Dir fort mußt'; die dumme Reue, die Verlassenheit, mein Elend trieb mich dazu – man vergißt eher dabei. Aber der Teufel hol's, wenn ich mich so ein Jahr lang schinde, ohne links oder rechts zu sehen, da packt mich plötzlich da drin eine Wuth, auch einmal das Leben zu genießen wie andere Menschen, und dann giebt's immer ein Unglück – ich vertrag's nicht, aus dem rechten Zuge zu kommen. Doch das verstehst Du ja nicht; also kurz und gut, ich machte eine Dummheit, für die ich vier Jahre sitzen mußte. Eine schlechte Ehre für Dich, nicht wahr – für immer wäre Dir wohl lieber! Aber es hat halt nicht gereicht, bei Gott, mir wär's gleich gewesen, 's ist hier außen um kein Haar besser. Doch wenn Du klug bist, bleibt's ja unter uns. Ich will mich nach Arbeit umsehen, man wird mich wohl nicht mehr kennen, und am Ende bist Du doch mein Sohn, das läßt sich nicht abkaufen. In ein paar Jahren wird aus Dir ein gemachter Mann, Du bist im rechten Fahrwasser; dann wirst Du Deinen alten Vater nicht im Stiche lassen und der alte Vater Dich auch nicht, wenn Dir einmal der Rummel zu dumm wird; so was steckt doch im Blute! Bin also dann immer bereit – Vater und Sohn müssen zusammenhalten. Wenn Du einen Rath brauchst – ich wohne in der Kleegasse Nummer 36, unterm Dache, frage nur in der Kneipe unten nach dem ›Schwarzen Jakob‹! Im übrigen kannst Du ruhig sein, ich werde Dir nicht lästig fallen, außer wenn ich sehe, daß Du mich absichtlich vergessen willst – allerdings, dann müßt' ich mich melden, mein Junge –«
Hans war noch zu unerfahren, um die Anspielungen seines Vaters ganz zu verstehen, aber soviel war ihm klar, daß ein Gefallener vor ihm stand, der daran war, ihm qualvolle Ketten anzulegen. Seine Jugend war in diesem Augenblick zu Ende, er wurde plötzlich zum Manne, den ein jäher Ingrimm erfaßte über das häßliche Spiel, welches das Schicksal mit ihm trieb von seiner Kindheit an. Wenn er mit einem Rucke die Ketten sprengte! Der Zorn erstickte jede andere Stimme in seinem Innern, mit einer wilden Bewegung schüttelte er die Hand ab, die noch immer auf seiner Schulter lag. »Laß mich, Du hast kein Recht mehr auf mich! Du hast mich verschenkt, nachdem Du die Mutter ermordet!«
»Bube, ich erwürge Dich!« Zwei Fäuste umklammerten seinen Hals, zwei Augen leuchteten drohend dicht vor ihm.
»Jawohl, ermordet, in den Tod gehetzt!« ächzte der Angegriffene.
Fester schnürten sich die Finger zu, die Lichter im Hofe, in der Fabrik flimmerten wirr durcheinander vor seinen Augen. Er fühlte die Besinnung schwinden, in der nächsten Sekunde mußte ein furchtbarer Mord geschehen. Da erblickte er eine weibliche Gestalt, sie hob sich dunkel ab gegen den Lichtkreis einer Laterne vom Polierhaus her – es war Claire!
Mit der Kraft der Verzweiflung rang er gegen die eiserne Umklammerung, das Hemd, der Rock zerriß, aber es gelang ihm, sich loszumachen, und hochaufathmend stürzte er auf Claire zu. Gewiß, sie war gekommen, um Abschied zu nehmen! Das Dunkel mit seinem Grauen lag hinter ihm, vor ihm flammendes Licht, das aus der geöffneten Thür der Arbeitshalle strömte, und von dem lodernden Scheine phantastisch beleuchtet, ängstlich sich umschauend, Claire – ein Mantel umhüllte ihre Gestalt, unter der weißen Kapuze schimmerte das Goldhaar. Wie einst kam sie, ihn zu retten von finsteren Gewalten.
»Claire!« rief er, keuchend in den Lichtkreis springend.
Claire wich erschrocken vor dem Anstürmenden zurück, in dem sie nur mühsam den Hans von sonst erkannte. Er war aschfahl, das Hemd war aufgezerrt, der Rock in Fetzen gerissen, das Haar zerrauft, in dem irren Auge lag noch das Entsetzen im Streit mit jäher Freude.
»Du kommst, um Abschied zu nehmen, zu mir – zu mir! Du, Claire, zu mir!« Er lachte und weinte zugleich, er ergriff ihre Hand, preßte sie an die Lippen und überströmte sie mit Thränen.
Sein Anprall war zu heftig, zu ungewohnt. Das war nicht mehr ihr Spielgenosse – ein fremder wilder Mann stand vor ihr, vor dem sie bebte. Der Vater hatte ihr verboten, von Hans Abschied zu nehmen, sie jedoch wollte nicht reisen, ohne dem armen Jungen Lebewohl zu sagen.
Aber er hatte doch recht gehabt, der Vater. Oder kam ihr das alles nur so unheimlich vor hier in dieser Feuergluth, diesem Gepoch, Gerassel, Gestöhn, das ringsum durch die Nacht lärmte?
»Also morgen, wirklich morgen? Sag' es selbst, Claire, sonst glaub' ich es nicht! Und auf wie lange? Auf Jahre … auf immer vielleicht? Nein, nicht auf immer! So sprich doch, ich muß es wissen! Ich gehöre ja Dir, nicht Deinem Vater, nicht den Merks, niemand, nur Dir, Dir! Hörst Du, Claire?« Er sprach flehend und doch befehlend, wie auf ein Recht pochend. Er umfaßte sie stürmisch. Das war kein Spiel, kein kindliches Ringen, auch nicht die Wärme der Freundschaft.
Claire schauerte vor einem fremden Gefühl, das sie zum ersten Male in ihrem Leben durchzitterte. Sie wollte fliehen, sie war empört über den Zwang, den ihr dieser Knabe auferlegte, über das stürmische, fast rohe Begegnen, über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er, der sonst jedem Winke ihrer Augen gehorcht hatte, die Kluft zwischen ihnen übersprang. »Laß mich, ich bereue, daß ich gekommen bin. Mein Vater hatte ganz recht, es mir zu verbieten. Laß mich doch, Du thörichter Junge – wie Du aussiehst, wie Du sprichst! Ich fürchte mich vor Dir!«
Hans ließ sie plötzlich los, seine Arme fielen schlaff herab und – sie floh nicht; jetzt, wo sie offenbar die Herrschaft über ihn wiedererlangt hatte, sah sie mit sonderbarer Neugierde in das kummervolle Gesicht.
»Verzeih' Claire, ich bin ganz wirr, ich wollte eben zu Dir, trotz Deines Vaters, um Abschied zu nehmen. Es hielt mich etwas auf, etwas Fürchterliches; da sah ich Dich, da verlor ich den Verstand vor Freude – vor – ich weiß selbst nicht; es ist ja das letzte Mal – dann bin ich ganz allein, dann kommt kein Sonntag mehr … ich hab' keine Mutter – keinen –« Er stockte. »Niemand, niemand hab' ich, und Paris ist so weit und ich werde nie etwas hören von Dir – begreifst Du denn meinen Schmerz nicht?«
»Weil ich's begreife, bin ich gekommen, obwohl der Vater es verboten hat,« entgegnete Claire. »Aber in zwei Jahren bin ich ja wieder zurück, dann sind wir beide erwachsene Leute und können uns sehen, so oft wir wollen.«
Hans schüttelte betrübt den Kopf. »In zwei Jahren bist Du eine vornehme Dame.«
»Werde ich das dann nicht ebenso sein, wenn ich zu Hause bleibe? Das läßt sich nicht ändern, Hans, deswegen können wir doch gute Freunde bleiben.«
»Und Du wirst mich vergessen in dem großen Paris! Aber Du darfst es nicht – Du hast mich meinem Vater genommen, als ich noch ein Kind war, Du, nicht Deine Mutter, nicht Herr Berry, sie hätten nicht daran gedacht. Du mußt mich deshalb auch lieb haben – ach, ich liebe niemand auf der Welt denn Dich; ich wußte es selbst nicht so bis heute, als ich hörte, daß Du fortgehst. Claire, nur ein gutes Wort gieb mir für die lange schreckliche Zeit, und ich will Dir's immer danken!«
Sie überließ ihm jetzt willig ihre Hand und lauschte begierig diesen nie gehörten, ihr kindliches Herz bestürmenden Worten. Auch sie schmerzte der Abschied, auch sie fühlte, daß sie nie mehr diesem Jüngling so gegenüberstehen dürfe, daß in zwei Jahren alles anders sein werde, und es war ihr, als müsse sie ihn festhalten, diesen Augenblick, der sie schwindeln machte vor Wonne, ohne daß sie in ihrer Unschuld ahnte, warum.
Arbeiter kamen aus der Werkstätte, Hans und Claire eilten Arm in Arm tiefer in den Schatten. Hans dachte an den Vater – wenn er sie beobachtete, Rache nähme für die Anklagen vorhin, wenn er vor Claire hintreten würde, ihr alles enthüllend! Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn, er zog Claire mit sich fort, von diesem Schreckensplatz weg.
»Ich muß heim, der Vater wird nach mir fragen,« flüsterte sie, von dem Schauer des geheimnißvollen, verbotenen Weges erfaßt, den sie in dunkler Nacht hier an der Seite ihres Freundes ging. »Ich vergesse Dich nicht, gewiß nicht. Nütze die zwei Jahre, arbeite, was Du kannst, schwinge Dich empor, so hoch Du kannst, damit –« sie legte ihren Mund dicht an sein Ohr – »damit die vornehme Dame mit Dir verkehren kann, verstehst Du mich?«
Die ganze Zukunft flammte bei diesen Worten in hellem Lichte vor Hans auf. Es war ihm, als ob die kleine Hand, welche die seine drückte, ihn mit Riesenkraft emporhebe bis zu den Sternen.
»Vergiß auch Du die Claire nicht! Lebe wohl, Hans!« Die kleine heiße Hand entwand sich der seinen, ein Kuß brannte auf seiner Wange – Claire war im Dunkel verschwunden.
Er starrte ihr nach, die Hand auf das pochende Herz gepreßt. »Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!« klang es immerfort in sein Ohr. Er wandte sich um die Feuer loderten gleich Opferflammen zu den Schlöten heraus, gegen den Nachthimmel empor; die schwarzen Hallen ringsum zitterten unter dem mächtigen Pulsschlag der Arbeit. »Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!«
»Ja, das will ich – bis zu Dir, Claire!« rief Hans in jugendlicher Begeisterung.
Da huschte ein Schatten an der Mauer entlang, ein gelles Lachen ertönte, Hans fuhr zusammen – der Vater, das Schicksal!