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Die Werke ruhten; über den geschwärzten Dächern flatterten Fahnen in der milden klaren Frühlingsluft als Wahrzeichen fröhlichen Lebens; sonst hätte man fast vermuthen können, der Tod sei eingezogen in diese langgestreckten Hallen, Schuppen und Höfe, in die schweigenden Kamine. Er stand ihnen nicht gut an, dieser Schlummer, man erwartete unwillkürlich ein plötzliches jähes Auferstehen wie aus einer künstlichen Betäubung. Selbst das Kindergeschrei im Arbeiterviertel war verstummt, das Gelächter der Frauen, als fürchteten sich alle vor dieser ungewohnten Stille, die jeden Laut, jedes Wort verrieth. Da und dort bildeten sich Gruppen von Männern, die erwartungsvoll nach den Fabrikgebäuden hinüberblickten. Von der Villa Berrys her ertönte Wagengerassel, eine Reihe von Equipagen fuhr den Stallungen zu. Da verkündete die Fabrikuhr die neunte Morgenstunde – sonst hörte man sie kaum, heute prahlte sie mit ihrer rauhen Stimme. Beim letzten Schlage schoß aus dem geöffneten Glasdach des Maschinenhauses eine silbergraue Dampfwolke schnurgerade in die Höhe; alles schaute ihr nach, wie sie langsam in der Luft zerfloß. Eine zweite folgte, eine dritte – gewaltige Athemzüge tönten herüber.
Die Gruppen wurden lebendig, vergrößerten, sammelten sich. Eine Schar Jungen mit wehenden Fahnen kam gezogen, Kommandoworte ertönten, Glieder bildeten sich, und, die Jungen voraus, ging es in langgestrecktem Zuge dem Maschinenhaus zu; Frauen und Kinder bildeten den schwärmenden Troß.
Im Maschinenhaus, dicht hinter dem weitgeöffneten Portal, aus dem ein Schienenstrang durch den Hof, an der Villa Berrys vorbei, in weitem Bogen um die Werke herumführte, stand die »Claire«, den blitzenden funkelnden Leib mit Tannenreis geschmückt, vorn an der breiten Brust in glänzenden Lettern den mit Lorbeer umkränzten Namen. Förmlich ungeduldig schien sie des Zeichens zu warten, um zum ersten Male ihre stolzen Glieder zu recken, der Welt sich zu zeigen. Ein leichtes Beben durchlief den blanken Körper, sie holte immer tiefer Athem. Gespannt beugte sich der Führer hinaus, um das festgesetzte Signal von der Villa her sofort mit der That beantworten zu können und abzufahren. Neben ihm stand Hans Davis, der Monteur. Herr Berry hatte es ausdrücklich so angeordnet. Der angekuppelte Tender war dicht besetzt mit den Werkführern und Arbeitern, die beim Baue beschäftigt gewesen waren. Bei allen herrschte die höchste Spannung, forschend glitten die Blicke über das blitzende Triebwerk hin, das in seiner äußeren Form wenig abzuweichen schien von dem anderer Maschinen; nur der zierliche, trotz seiner gewaltigen Masse den Eindruck des Leichten hervorrufende Bau des Ganzen fiel sofort in die Augen.
Inmitten der allgemeinen Unruhe stand Hans scheinbar unbewegt, aber in ihm stürmte und wogte es, und eine fliegende Röthe, die von Zeit zu Zeit über sein Gesicht zog, konnte seine Erregung verrathen. Mit sehnsüchtigen Blicken schaute er den Schienenstrang entlang – wenige Minuten noch und sein Traum war erfüllt! Gestern nacht, hinter einem der mächtigen Bäume verborgen, hatte er den Wagen anfahren sehen, der sie brachte, hatte einen Augenblick sie selbst geschaut – ihre hohe Gestalt, den Goldschein ihres Haares, und mit süßem Schauer war er sich deutlicher als je bewußt geworden, daß Claire ihm nicht mehr die Jugendfreundin war, die Herrin, deren geduldiger Sklave er einst gewesen, sondern die Geliebte, Heißbegehrte, der Inhalt, der Preis seines ganzen Lebens, um den er ringen mußte mit all seinen Kräften. Da ertönte ein Böllerschuß, hoch über den Gebäuden schoß an hohem Maste eine Flagge empor – ein Griff des Führers der Maschine, ein geller Pfiff wie ein mächtiger erster Lebensschrei, und in weiße Dampfwolken wie in einen Brautschleier gehüllt, glitt die »Claire« zur Halle hinaus, begrüßt von einem donnernden »Hurra!« der Arbeiter. Und sie schien den Zuruf zu verstehen, das Kolbengestänge blitzte in hastigem Schwunge, mit jugendlicher Schnellkraft kreisten die Räder. Elastisch, fast ohne Erschütterung fuhr die Maschine dahin. Im Nu stand sie dann unter vollem Dampfe und stürmte durch den Hof, an den Hallen vorbei.
Hans hielt sich mit der Hand an der Eisenstange der Brüstung; den Körper weit hinausgebeugt, horchte er auf den Pulsschlag der »Claire«, sein Blick schien ihre äußere Hülle durchdringen und ihr bis ins Herz sehen zu wollen. Da nahm sie wie eine Schlange geschmeidig eine enge Kurve.
Lauter Zuruf erscholl von ferne. Er schaute auf; von einer kleinen fahnengeschmückten Erhöhung herab winkten weiße Tücher, grellfarbige Schirme, Hüte. Seine Hand krampfte sich um die Eisenstange – tausend Gedanken, Erinnerungen kreuzten sich blitzartig in seinem Gehirn. »Schwing' Dich empor, so hoch Du kannst!« klang es, alles übertönend.
Nun schieden sich die Farben; eine große Gesellschaft stand auf der Tribüne, vorn an der Brüstung eine Dame, ein weißes Tuch schwingend – Claire! Und jetzt warf der Führer einen scharfen Blick durch die runde Scheibe neben seinem Platze – es galt die »Claire« tadellos vorzuführen wie ein edles Rennpferd. Ein Ruck und mächtig griff die Bremse ein, mitten im Laufe hielt die Maschine, zischend den Dampf ausstoßend, der sie einen Augenblick fast verhüllte. Dann zerriß der Schleier; von der Tribüne herab schritt Claire, an der Hand ihres Vaters, begleitet von Herren und Damen. Vor der Lokomotive blieb sie stehen. »Glück auf, ›Claire‹, gute Fahrt allweg!« rief sie mit lauter Stimme und reichte einen Kranz aus weißen Kamelien hinauf. Hans griff danach, auch ihre Hand hielt noch den Kranz, der so eine duftige Brücke zwischen ihnen bildete. Mit flammendem Blicke sah Hans zu ihr nieder, und erröthend senkte sie eine Sekunde lang das Haupt. Dann hob sie wieder ihr Auge, das nun an der männlichen Erscheinung ihres Jugendgespielen haften blieb.
»Herr Davis hat sich redlich bemüht um diesen Täufling und steht ihm näher, als Du glaubst,« sagte Herr Berry, die Erregung der beiden ahnend und ablenkend.
Claire ließ den Kranz los. Hans schwang sich hinaus und befestigte ihn über dem glänzenden Namen vorn am Kessel.
Da begann die Musik – die Arbeiter hatten sich in der Nähe gesammelt. Herr Berry trat zu ihnen und hielt eine Ansprache, nicht in dem geschäftsmäßigen Stil von sonst, ein höherer Schwung beseelte sie heute. Er dankte allen, die mitgewirkt hatten an dem Werke, für ihre redliche Pflichterfüllung und drückte die Hoffnung aus, daß die »Claire« dem Hause Berry zur Ehre gereichen werde.
Plötzlich machte er eine Pause. Sein Blick ruhte auf Hans, der noch immer auf der Maschine stand. Ein innerer Kampf spiegelte sich in den erregten eisernen Zügen des Fabrikherrn. »Noch habe ich eine Pflicht zu erfüllen,« fuhr er dann fort, »den Namen eines Mannes, eines Arbeiters habe ich zu nennen, der eng verbunden ist mit diesem neuen Werke, in dem der Gedanke zu dem neuen vielversprechenden System, dessen erste Vertreterin die ›Claire‹ ist, geboren wurde – denn ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß nur die praktische Verwerthung dieser Idee mein Eigenthum ist. Hans Davis, mein Monteur, ist der eigentliche Erfinder! Kommen Sie nur herab, Davis, und genießen Sie die Ehre, die Ihnen zukommt – stimmen Sie ein mit uns in den Ruf: ›Es lebe die Arbeit für und für!‹« Und brausend erschallten die Zurufe.
Hans war aschfahl geworden, er konnte sich kaum noch aufrecht halten und bedurfte der hilfreichen Hand Berrys, um herunterzukommen. Alles tanzte vor seinen Augen in wildem Reigen, nur Claire sah er deutlich; ihr Blick war auf ihn gerichtet.
Der Kommerzienrath stellte ihn seinen Gästen vor, dem Eisenbahnminister, der zur Verherrlichung dieses industriellen Festes in eigener Person erschienen war, seinen Kollegen, die von weit und breit gekommen waren. Neugierig betrachtete man den Helden des Tages; gnädige Herablassung mischte sich mit erzwungener Achtung vor dem Genie und der Thatkraft dieses Jünglings, mit dem Neide über den kostbaren Besitz Berrys. Die Geschichte seines Lebens ging in kurzen Umrissen von Mund zu Mund, und ihre Romantik erhöhte noch die allgemeine Antheilnahme.
Den Damen entging über dem allen nicht die männliche Kraft des jungen Mannes, welche in dieser höchsten seelischen Erregung voll zur Geltung kam.
Nur Frau Berry und Otto blieben kalt abseits; ihre abfälligen Mienen sagten deutlich, daß nach ihrer Ansicht Papa einen großen Fehler begangen habe.
Hans hörte nur die Hälfte der Lobsprüche, die ihn umschwirrten; sein einziger Gedanke war: was wird Claire mir sagen? Diese hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen und beobachtete ihn durch ihr Augenglas. Das verwirrte, schmerzte ihn – eine geringschätzige Neugierde, etwas Hochmüthiges lag in der ganzen Bewegung. Dieses Glas schien ihm eine beabsichtigte Scheidewand; Claire besaß ein so gutes scharfes Auge, und eben noch hatte es so klar, so voll Kindlichkeit ihn angeblickt wie einst!
Jetzt klappte die junge Dame ihre Lorgnette zu und trat heran. Ein hellgraues Kleid hob durch seinen einfachen Schnitt ihre edlen Formen; das Haar erglänzte röthlich wie Gold unter dem grauen Hütchen. Die Züge des Antlitzes hatten sich verfeinert, aber der kindliche Ausdruck war daraus geschwunden, und trotz des jugendlichen Inkarnats zeigten sie eine gewisse kränkliche Schlaffheit, an der allerdings die Anstrengung der Reise schuld sein mochte. Der schelmische Blick von einst war noch da, aber nicht mehr so unbewußt wie früher; er schien jetzt ganz in ihrer Gewalt zu sein. Für einige Sekunden ließ sie demselben freie Bahn, während sie sich näherte, dann war es, als ob sie wieder durch das Glas blicke – so kalt und tot schaute sie Hans an. Sie reichte ihm die behandschuhte Rechte. »Ich freue mich, gerade zu Ihrem Ehrentag gekommen zu sein, Herr Davis, und gratuliere Ihnen von Herzen. Sie sind ein Glückskind – Sie haben einen hohen Weg genommen!«
Hans durchzuckten die Worte wie ein Feuerstrahl. Er preßte die kleine Hand und ließ sie nicht los. »Ich stieg, so hoch ich konnte,« sagte er leise, das Auge fest auf sie gerichtet.
»So hoch Sie konnten, kein Zweifel, Herr Davis! Und ich als die Tochter meines Vaters zolle Ihnen dafür alle Anerkennung.« Sie zog rasch die kleine Hand aus seiner Faust und hielt wieder das schützende Glas vor die Augen. »Wollen Sie die Güte haben und mir die guten Eigenschaften meines Täuflings auch erklären?« setzte sie dann in leichtem Tone hinzu, als Hans stumm zurücktrat.
Sie näherte sich der Maschine, welche jetzt von der ganzen Gesellschaft umdrängt wurde.
Hans glaubte deutlich zu erkennen, daß trotz allem, was er gethan und errungen hatte, die Kluft zwischen Claire und ihm nicht kleiner geworden war, ja daß Claire gar nicht wünschte, sie zu überbrücken. Er wunderte sich nur, jetzt den Schmerz nicht zu empfinden, der in bangen Stunden bei dem Gedanken an diese Möglichkeit sein Herz bestürmt hatte. Ihn durchströmte vielmehr ein Kraftgefühl, wie er es ihr gegenüber noch nie empfunden. Nun galt's, ihr die Ketten anzulegen, die er bis jetzt getragen. Sein männliches Bewußtsein flammte auf; die kindische sklavische Verehrung von einst mußte sterben, wenn sich aus ihrer Asche die echte, eines Mannes und eines Weibes würdige Liebe erheben sollte.
So folgte er der voranschreitenden Claire mit aller Ruhe und erklärte ihr die Konstruktion der Maschine so kühl und nüchtern, als hätte zwischen ihnen nie ein tieferes Gefühl gewaltet.
Herr Berry lud seine Gäste ein, auf dem Tender Platz zu nehmen und die Rundfahrt um die Fabrik mitzumachen.
Unter Vorantritt Claires stieg man hinauf, Berry selbst trat mit Hans auf die Maschine. Nur Otto und Frau Berry dankten für das Vergnügen und gingen in eifrigem Gespräch voraus, der Villa zu.
Claire war sehr in Anspruch genommen; man vergaß die Fahrt über dem Bemühen, der reizenden Dame den Hof zu machen. Für Hans hatte sie keinen Blick mehr.
Es war für den Kommerzienrath der glücklichste Tag seines Lebens, der Ehrentag seines industriellen Schaffens, der ihm zugleich seine geliebte, lang entbehrte Claire in blühendster Schönheit wiedergebracht hatte. O, wenn er den Tag festhalten könnte! Aber der rollt dahin, rastlos und unaufhaltsam gleich dieser Maschine, tausend andere folgen ihm nach, und dann – dann kommt ein anderer Tag, wo er nicht mehr sein wird, wo alles, was er geschaffen hat, verwaist stehen, verkauft, in totes Geld verwandelt werden wird. So mußte es gehen, wenn nicht etwa Claire dies Erbe antrat – aber dazu gehörte eben ein Mann, ein Mann der Arbeit. Sein Blick blieb unwillkürlich auf Hans haften und schweifte von da zu Claire hinüber; ein Gedanke, der wohl schon oft in ihm aufgestiegen war, den er jedoch immer wieder zurückgedrängt hatte, gewann an Raum, und der Zweifel regte sich in ihm, ob er recht gethan habe, seine Tochter nach Paris zu senden. –
Nach beendeter Rundfahrt begaben sich die Herrschaften auf den Festplatz der Arbeiter, wo für Trank, Speise, Lustbarkeit aller Art gesorgt war. Berry mischte sich mitten unter die Leute und fühlte sich zu seinem Erstaunen wohl unter ihnen; es war ihm, als habe er etwas gut zu machen, als müsse er noch zur rechten Zeit des Schicksals drohende Rache für lang aufgehäuftes Unrecht versöhnen.
In der Villa harrte ein glänzendes Mahl der Gäste und Beamten der Fabrik. Hans Davis war von Berry dazu eingeladen. Der junge Mann mit den breiten Schultern, den muskulösen arbeitsharten Händen und dem intelligenten charaktervollen Gesicht erregte die allgemeinste Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte man in ihm, dem diese außergewöhnliche Erfindung in so jugendlichem Alter, ohne höhere technische Bildung gelungen war, eine jener genialen Naturen vor sich, wie sie von Zeit zu Zeit urplötzlich aus dem Dunkel des Volksschoßes auftauchen und mit einer Art überirdischen Schauens allen mühsamen Fortschritt der Wissenschaft leicht und sicher überflügeln. Außerdem bot sich da eine ungefährliche Gelegenheit, seine liberale Gesinnung zu zeigen, seine Achtung vor dem sich emporschwingenden Arbeiter. Sogar der Minister und seine hohen Beamten wandten sich huldvoll an Hans.
Trotz dieser fortgesetzten Inanspruchnahme entging dem Gefeierten keine Bewegung, kein Blick Claires, die ihm schräg gegenüber saß und die einzige Dame war, welche nie ein Wort an ihn richtete. Er sah eine Absichtlichkeit darin, und obgleich ganz unerfahren in den wechselnden Stimmungen der weiblichen Natur, glaubte er doch eben hinter dieser scheinbaren Mißachtung seiner Person eine ständige Beschäftigung ihres Geistes mit ihm selbst zu erkennen; einige Streifblicke, die offenbar nicht dazu bestimmt waren, von ihm bemerkt zu werden, bestärkten ihn in seiner Annahme. Das Vorpostengefecht des künftigen unerbittlichen Kampfes hatte also begonnen. Claire schien sich alle Mühe zu geben, die Aufmerksamkeit der Tischrunde von Hans ab auf sich zu lenken; sie erzählte lebhaft und witzig von Paris, von ihren gesellschaftlichen Genüssen dort, schwärmte mit einer auffälligen Absichtlichkeit von dem feinen Geschmack in französischer Kunst und Litteratur, von der Strenge der Gesellschaft in der Auswahl ihres Verkehrs, spottete über deutsche Sentimentalität und Schwerfälligkeit. Aber so sehr sie sich bestrebte, die Unterhaltung an sich zu reißen – Hans war und blieb entschieden der stärkere Anziehungspunkt besonders für die übrigen Damen, die den »interessanten Erfinder« immer wieder ins Gespräch zogen. Zum ersten Male in seinem Leben sah sich dieser in solcher Weise bevorzugt, und er hätte nicht ein junger Mann sein müssen, wenn ihn das nicht berauscht hätte; selbst Claire trat bei ihm für den Augenblick in den Hintergrund. Und er verstand es so gut, die Gesellschaft zu fesseln, »mit angeborener Unverschämtheit die kleine Bresche auszunützen, welche Papa unvorsichtigerweise ihm geöffnet«, wie sich Otto entrüstet ausdrückte. Claire sah sich nach aufgehobener Tafel geradezu auf ihren Bruder und einige ältere Herren angewiesen. Eine Zeitlang schaute sie mit einer Art inneren Grimmes zu. Wie konnte dieser Mensch, der ihr alles zu danken hatte, der ihr Geschöpf war, auf so beleidigende Weise sie völlig übersehen? Glaubte er am Ende, die Freundschaft ihres Vaters löse die Kette, die ihn an sie band? O, er sollte fühlen, daß die Fessel noch nicht gefallen war; gerade jetzt, wo er frei zu sein meinte, sollte er tiefer als je der alten Herrschaft sich beugen müssen! Sie wollte geduldig warten, bis er sich zu ihr wandte, dann aber alles aufbieten, um ihn wieder unter ihren Einfluß zu zwingen.
Claire mußte sich lange gedulden; endlich trat Hans zu ihr. Sie kam seiner Anrede zuvor.
»Sie sind ja sehr galant geworden in den letzten Jahren, Herr Davis!« sagte sie, mit dem Fächer nervös auf die Marmorplatte eines Tischchens klopfend. »Das machen wohl die Erfindungen?«
»Man hat in meiner Stellung wenig Gelegenheit, Galanterie zu lernen, Fräulein Claire!«
»Und wohl auch keine Zeit, kindische Erinnerungen zu bewahren? Aber natürlich, Sie haben etwas erreicht, werden mit Ihrem Talent und Ihrer Energie noch mehr erreichen, Sie brauchen keine Beschützerin mehr – – also fort mit den unbequemen Erinnerungen – nicht wahr?«
»Sie sind ungerecht, Fräulein Claire, und Sie wissen, daß Sie es sind – Sie wissen, daß ich nie vergessen werde, wie Sie für mein Leben alles wurden, der rettende Engel, der Genius, der mich zu dem begeisterte, was ich erreicht habe!«
Diese Worte, aus denen sein volles Herz sprach, verfehlten bei Claire ihre Wirkung nicht. Die ganze Vergangenheit trat in diesem Augenblick an sie heran, von jenem ersten Weihnachtsabend an bis zu dem stürmischen Abschied am Abend vor ihrer Abreise. Ihre letzten Worte damals waren es also gewesen, was ihn über seine Sphäre hinausgehoben, zum Erfinder gemacht hatte! Das schmeichelte ihrem weiblichen Stolze. Was waren dieser That gegenüber die faden Huldigungen in schöngedrechselten Worten, die sie in Paris genossen hatte, die sie wohl auch hier genießen würde? Schöpferisch zu wirken in einem groß angelegten Geiste, dessen anfeuernde Macht zu sein, war das nicht mehr als alle gesellschaftlichen Erfolge? So klangen ihre Worte nicht mehr spöttisch, sondern nur vorwurfsvoll, als sie erwiderte: »Ich glaube Ihnen, Hans! Aber wie können Sie am ersten Tage so rücksichtslos sein und mich derart vernachlässigen? O, bis ich dieses harte rauhe verletzende Wesen hier wieder gewohnt sein werde! Sie glauben nicht, wie mir das weh thut! Meine Nerven sind nun einmal nicht aus Stahl und Eisen wie die Ihrer ›Claire‹.«
Hans war empört über sich selbst. Wie war es nur möglich, daß er sich so benommen, daß er Claire über den anderen nur eine Sekunde hatte vergessen können!
»Claire – Fräulein Claire wollt' ich sagen, verzeihen Sie mir! Ich bin rücksichtslos gewesen, ich fühle es, aber sehen Sie, ich weiß ja selbst nicht, wie das so kam. Für einen einzigen freundlichen Blick, für einen Druck Ihrer Hand würde ich ja durchs Feuer gehen!«
Claire vergaß das Spiel mit ihrem Fächer, den Kopf halb auf die Brust geneigt, blickte sie erröthend Hans an, dessen Züge von edler Gluth durchleuchtet waren. Fast verlegen reichte sie ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, Hans – aber nicht wahr, mich nicht mehr vergessen über den anderen? Ich habe es nicht um Sie verdient.«
Hans war es, als müßte er die kleine Hand, die fast verschwand in seiner derben Arbeitsfaust, vor Seligkeit zerdrücken. »Ich will sterben für Sie, Claire!« kam es leidenschaftlich von seinen Lippen.
Claire lachte nicht über diese schwärmerischen Worte, die ihr aus dem Munde jedes anderen ungeheuer komisch vorgekommen wären, und überließ dem jungen Manne willig ihre Hand, als er sie mit einer ungestümen Bewegung an die Lippen führte.
In diesem Augenblick hatte sich Otto den beiden genähert. Er hatte die Schwester scharf beobachtet; ihre Unterredung mit diesem Davis hatte ihm zu lange gedauert, und nun kam er gerade recht, um die letzten Worte zu hören und den Handkuß zu sehen. Aus dem Gesicht Claires erkannte er auch deren völliges Einverständniß mit dieser Huldigung. Das reizte ihn nur noch mehr.
»Herr Davis,« rief er spöttisch, »Sie machen ja erstaunliche Fortschritte als Salonheld! Sagen Sie mir einmal, guter Mann, woher nehmen Sie denn eigentlich dieses – na, sagen wir – Selbstvertrauen zu Ihrem Auftreten bei uns her?«
»Aus dem Bewußtsein, dasselbe Recht dazu zu haben wie jeder andere ehrenhafte Mann, der hier verkehrt,« entgegnete Hans in festem Tone, »ja vielleicht besitze ich noch ein größeres Recht.«
Claire zuckte zusammen, eine Falte erschien auf ihrer klaren Stirn.
»Ah – das wird interessant! Inwiefern denn noch ein größeres Recht?« fragte Otto mit einem Blicke auf die Schwester. »Sie meinen wohl als Miterfinder des neuen Systems?«
»Daran dachte ich nicht; nein, als – der von Ihrem Herrn Vater von der Straße aufgehobene Hans Davis. Es giebt Wohlthaten, die Verpflichtungen nach sich ziehen auch für den Wohlthäter!«
»Wie, Sie philosophieren auch in Ihren freien Stunden? Also Universalgenie! Nützt Ihnen aber alles nichts. Für meine Schwester und mich bleiben Sie doch das Hänschen von damals – Sie wissen schon, das mit der blauen Zipfelmütze.« Lachend drehte er sich um und entfernte sich.
Ein Zittern lief durch den Körper des auf so rohe Weise Beleidigten, seine Muskeln spannten sich, und er machte eine Bewegung, als wollte er dem Fortgehenden nachstürzen. Da legte sich eine Hand mit sanftem Drucke auf seinen Arm.
»Begehen Sie keine Thorheit, Hans!« mahnte Claire. »Sie dürfen überzeugt sein, daß mein Bruder sehr gegen meinen Willen mich zum Zeugen für seine Meinung aufgerufen hat. Daß ich Sie mit anderen Augen ansehe, Ihren Werth anders bemesse, daß muß in Ihnen unerschütterlich feststehen nach allem, was voranging.«
»Ich danke Ihnen,« erwiderte Hans und begab sich mit mühsam beherrschter Aufregung zur Gesellschaft zurück. Er fürchtete mit Recht, daß seine lange Unterhaltung mit der Tochter des Hauses aufgefallen sein könnte.
Herr Berry hatte das vertrauliche Gespräch, die starke Gemüthsbewegung der beiden wohl bemerkt, aber ohne sich entschließen zu können, sie zu stören.
Nachdem Otto es abgelehnt hatte, sein Lebenswerk fortzusetzen, galt es, Claire dafür zu gewinnen; daß ihm dabei seine Gattin und sein Sohn entgegenarbeiten würden, wußte er. Davis dagegen konnte ihm ein erwünschter Bundesgenosse werden – vielleicht aber auch ein gefährlicher! Claire war zwar fast ebenso alt wie ihr einstiger Spielgenosse, sie war stolz geworden in Paris, verwöhnt, offenbar regte sich auch in ihr das aristokratische Blut der Mutter. Aber Davis war ihr Jugendfreund, Dankbarkeit und Zuneigung fesselten ihn an sie, er war zudem von einnehmendem Äußeren, durch Geist und Willenskraft hoch hinausgehoben über seinen Stand – wie leicht konnte sich da trotz aller Hindernisse eine unbesiegliche Leidenschaft in seiner Tochter entwickeln! Und was sollte dann werden? War das denkbar – Davis, der Sohn eines verkommenen Arbeiters, welcher jeden Augenblick wieder auf der Bildfläche erscheinen konnte, und die Tochter des Kommerzienraths Berry? Aber war denn Hans überhaupt nur der Sohn seines Vaters? Davis, der berühmte Techniker, die Zukunft der Berryschen Werke, die unter seiner Leitung den Weltmarkt beherrschen würden – warum nicht so? – –
Abends war auf dem beleuchteten Festplatz der Berryschen Werke Arbeiterball, zu welchem sich auch die eingeladenen Gäste einfanden. Die Frau des Hauses eröffnete denselben auf den bestimmten Wunsch ihres Mannes durch einen Tanz mit dem ersten Direktor, ihr folgte Claire mit Hans Davis, der nun einmal der Held des Tages war. Rings um den Festplatz her lagen die schweigenden Werkstätten und bildeten zu der bunten Beleuchtung, dem wehenden Fahnenschmuck und den Klängen der Musik, in die sich die Jubelrufe der Menge mischten, einen sonderbaren Gegensatz, der aber die Festfreude der Arbeiter nicht zu stören schien. Es war, als sei alle Noth, aller Schweiß, alles Murren vergessen, als sei hier wenigstens Kapital und Arbeit versöhnt.
Nach dem ersten Rundtanz unter den blühenden Kastanien sausten Raketen gegen den Nachthimmel, ein bunter Regen von Leuchtkugeln schwebte empor, Feuerräder drehten sich sprühend, der Name »Berry« erschien, von Strahlen umgeben, flammend in der Luft, während zugleich die neue Maschine bengalisch beleuchtet wurde.
Ein Hurra für Berry brauste aus tausend Kehlen durch die Nacht. »Hurra für ›Claire‹, Hurra für Hans Davis!« rief eine Stimme, kaum daß der erste Ruf verklungen war, und aufs neue fielen die Arbeiter ein, in dem Kameraden sich selber ehrend.
Hans hatte noch immer Claire am Arme, als mitten in das Geknatter des Feuerwerks hinein ihre beiden Namen brausend erschallten und gleichsam ineinanderflossen. Da blickte unwillkürlich alles auf das schöne Paar, und sie selbst zuckten zusammen, mächtig ergriffen von einem ahnungsvollen Gefühl, das für Hans eine berauschende Verheißung war, für Claire ein Räthsel, an dessen Lösung sie sich nicht wagte. Schweigend zog sie ihren Arm aus dem seinigen; sie fühle sich müde und möchte sich ausruhen, erklärte sie. Förmlicher als je trennten sie sich.
Hans hielt es jetzt nicht mehr aus auf dem Festplatz, der Lärm that ihm weh; müde von den hunderterlei Eindrücken des Tages begab er sich auf seine Stube. Eine Zeitung lag auf seinem Tische. »Ein Festtag bei Berry« las er als Überschrift eines Artikels; mitten drin leuchtete sein Name gesperrt gedruckt. Die geheimnißvolle Kraft des gedruckten Wortes wirkte auf ihn, er las mit klopfendem Herzen den Bericht über die Vorgänge des Morgens, die Worte, die Berry dabei gesprochen hatte. Und die ganze Stadt wird es jetzt mit ihm lesen, Tausende werden bewundernd den Namen »Davis« aussprechen! Die Wonne befriedigten Ehrgeizes schwellte seine Brust. Sein Stern stand hoch, strahlend leuchtete sein Ziel – Claire!
Schon wollte er das Blatt weglegen, da sah er dicht unter dem Artikel einen anderen Namen gesperrt gedruckt »Holzmann«. Hastig überflog er die Zeilen, die vor seinen Augen zu schwanken begannen.
»Gestern Nacht fand ein verwegener Einbruchsversuch in dem Juwelengeschäft von Somatsch statt. Die Diebe drangen von der Straße her durch den infolge der Kanalisationsarbeit offenen Abzugsgraben in das Haus, den Boden des Verkaufslokales durchbrechend. Glücklicherweise hörte ein vorbeikommender Schutzmann den verdächtigen Lärm und störte die Einbrecher in ihrem sauberen Handwerk. Einer derselben, ein schon oft bestraftes Individuum Namens Holzmann, wurde im Kanal selbst wie in einer Falle gefangen; sein Genosse ist leider entkommen!«
»Sein Genosse ist leider entkommen!« Auf dieser Zeile blieb der starre Blick von Hans haften. Er sah das Gaunergesicht dieses Holzmann deutlich vor sich, hörte sein teuflisches Flüstern – sein Genosse horcht darauf wie gebannt, dann schlägt er ein. »Sei es, ich thu' mit! Die Wagen der Reichen sollen mir nicht länger über dem Kopfe wegrollen, während ich in dem Schmutze da unten verkomme – bin doch begierig, wie das Reichsein schmeckt! Ans Werk also!« Und dieser Genosse war Jakob Davis mit unwiderstehlicher Gewißheit drängte sich Hans diese Ahnung auf. Wo mochte er sein, der Vater? Wohl war er entkommen, aber was konnte ihm das nützen! Holzmann wird ihn sicher verrathen, dann war er bald aus seinem Versteck aufgestöbert, und der Name Davis, der heute in dem Glanze des Erfinderruhms strahlte, war der Schmach preisgegeben.
Vom Festplatz her klang die frohe Musik, das Jauchzen der übermüthigen Menge, während Hans verzweifelnd in seinem engen Stübchen auf und ab schritt und ohnmächtig wüthete gegen das grausame Spiel des Schicksals, das ihm die lastenden Ketten immer nur abnahm, um ihn, der kaum der Freiheit froh geworden, desto grausamer damit zu fesseln.