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Die Werkstätten bei Berry wurden heute schon um zwei Uhr nachmittags geschlossen; um fünf Uhr sollte, wie alljährlich, in dem großen Versammlungssaal die Weihnachtsbescherung für die Arbeiter und Beamten der Fabrik abgehalten werden. Der Kommerzienrath hielt streng auf diese schöne Sitte; er liebte es, bei solchen Gelegenheiten wie ein »Familienvater« unter seinen Arbeitern zu erscheinen, und behauptete seinen Freunden gegenüber, durch diese kleinen Scherze, die ja nicht einmal viel kosten, könne man am besten über den unzufriedenen Geist der Leute Herr werden, darin seien sie wie die Kinder. Er ging von dem Grundsatz aus, man müsse wohl beitragen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse, aber dabei in allem den Charakter der Wohlthat, der freien Gnade wahren. Wo jedoch von den Arbeitern diese Verbesserung als ein Recht in Anspruch genommen werde, da sei jedes Zugeständniß, auch nur die geringste Nachgiebigkeit ein Unding, eine Verkehrung aller Ordnung, der Ruin der Industrie. So verwandelte sich unter der Hand seine Bereitwilligkeit zum Helfen in Härte.
Berry stammte aus einer französischen Emigrantenfamilie und das blaue Blut der Marquis von Berry war bei ihm durch Vermischung von deutschem Kaufmannsblut zu einem zähen Saft geworden, der den stürmischen Wallungen einer aufdämmernden neuen Zeit widerstand.
Die Bescherung für die Arbeiter ging infolge seines Systems mit steifer Förmlichkeit vor sich; es war ein souveräner Gnadenakt, der sich da vollzog, und die Beschenkten waren sich dessen nur zu gut bewußt.
Zwei riesige Christbäume waren mit reellen Eßwaren behangen, unter denen sich die Zweige bogen. Auf einem großen hufeisenförmigen Tische lagen die eigentlichen Gaben ausgebreitet, nützliche Gebrauchsgegenstände, mit peinlicher Genauigkeit vertheilt. In der Mitte des Saales stand Berry mit seiner Frau und zahlreichen Gästen, die nach diesem Akte noch zu einer festlichen Bescherung in der Villa und zu einem daran sich anschließenden glänzenden Mahle geladen waren. Der Kommerzienrath befand sich im feierlichsten Gesellschaftsanzug, eine Reihe Orden glänzte an seiner Brust.
Auf ein Zeichen von ihm öffneten die Diener eine Flügelthür, und geführt von den ersten Beamten, erschienen in geschlossener Marschordnung die Arbeiter mit ihren Kindern und Frauen.
»Meine lieben Leute!« begann der Fabrikherr in gehobenem Tone und hielt die mit geringen Abweichungen sich alljährlich wiederholende Rede, in der stets an die Zusicherung der gerechtesten Behandlung die dringende Aufforderung geknüpft war, in Anbetracht dieser Thatsache nie die Anhänglichkeit und Dankbarkeit außer acht zu lassen.
Die Leute hörten stumm und theilnahmlos die gewohnten Worte an, aus denen ihnen nicht die leiseste innere Wärme und Theilnahme entgegentrat, und stimmten am Schlusse der Rede begeisterungslos ein in das »Hoch« auf das Haus Berry, welches der Fabrikdirektor ausbrachte.
Dann traten sie einzeln vor, um aus der Hand der gerührten Frau Kommerzienrath – wie jedes Jahr hatte sie auch heuer nach der Ansprache mit Thränen in den Augen dieser Rührung durch eine Umarmung des Gatten Ausdruck gegeben – die Geschenke zu empfangen. Sie gab reichlich, sparte auch nicht mit herablassenden Worten, allein nur einen Augenblick die Kluft zwischen der in kostbarer Robe prangenden vornehmen Dame und den schlichten, ärmlich gekleideten Arbeiterfrauen zu überbrücken, das verstand sie nicht, das hätte nur die Liebe vermocht, deren Menschwerdung der Engel oben auf der Spitze des flammenden Christbaumes mit schmetternder Posaune verkündete, die aber fehlte diesem Feste, und mit ihr alles Versöhnende, Ausgleichende, Haßtilgende.
Einige junge Herren, Gäste Berrys, die mit Augengläsern bewaffnet dem weiblichen Theile der Beschenkten eine vorlaute Aufmerksamkeit widmeten, trugen auch nicht dazu bei, eine weihevolle Stimmung herbeizuführen. Nun kam die allgemeine Danksagung als letztes Glied der festlichen Handlung; sie wurde von dem Kommerzienrath mit der Würde und dem Geschick eines Herrschers und mit einem streng nach dem Verdienst eines jeden abgestuften Lächeln in Empfang genommen. Dann aber ereignete sich etwas ganz Neues, Unerwartetes: den Beamten, welche stets der folgenden Familienbescherung beiwohnen durften, wurde heute zu allgemeinem Erstaunen erlaubt, eine Deputation von drei Arbeitern mitzunehmen. Das mußte seinen ganz besonderen Grund haben!
Inzwischen hatte die Versammlung in strenger Ordnung, ohne herzliche Erregung den Saal verlassen; die Strahlen der Lichter, welche die Tannenbäume schmückten, hatten nicht gezündet. –
Seine Kinder ließ der Kommerzienrath dieser Bescherung nicht beiwohnen; er fürchtete eine Abspannung ihrer Nerven, welche die volle Freude an den eigenen Geschenken beeinträchtigen könnte. So mußten denn auch heute die beiden Geschwister unter Aufsicht einer Bonne, freilich widerwillig genug, bis zu dem ersehnten Zeichen sich gedulden. Claire war noch nie so gespannt, so erregt gewesen; seit vier Tagen hatte sie nichts mehr von dem Hansl gehört und gesehen, und die Eltern gaben auf ihre wiederholten Fragen keinen Bescheid. Wenn sie sich am Ende doch anders besonnen und anstatt des lebendigen den häßlichen Hansl bei Tiffany gekauft hätten! Und sie hatte alles schon so hübsch ausgedacht und sich dem Bruder gegenüber mit ihrem Geschenk gebrüstet – wenn nun nichts daraus würde! Otto sandte der aufgeregten Schwester einen überlegenen Blick zu. Er begriff nicht, wie man sich freuen könne auf einen solch schmutzigen Jungen, von denen genug im Fabrikhof herumkugelten. Er selbst hatte sich einen Pony zum Reiten und Kutschieren gewünscht, wie der junge Graf Tek, sein Freund, ihn besaß. Wenn er diesen bekam, sollte ihr der Junge gern gegönnt sein.
Endlich das Zeichen! Claire stürmte voran die Treppe hinab. Unter der Flügelthür des Gartensalons standen die Eltern; eine Lichtfluth drang von drinnen auf den Vorraum heraus. Ungestüm drängten die Kinder in das glänzende Feenreich hinein. Da stand in der Ecke auf weichen Polstern, von einem Diener gehalten, Ottos Pony, wiehernd und stampfend, gesattelt und gezäumt. Mit einem Jubelruf stürzte der künftige Besitzer darauf zu. Unter dem Baume lagen in buntem Gewirr Spielwaren aller Art, in der Mitte prangte der Automat, der Hansl von Tiffany.
Claire stand regungslos, sie ärgerte sich jetzt über sein häßliches höhnisches Lachen, und vor ihren thränenfeuchten Augen schwammen alle Farben durcheinander.
Da öffnete sich eine Seitenthür und die Mama, welche unbemerkt verschwunden war, kam herein, an ihrer Hand, sich trotzig stemmend, den kleinen Mund zum Weinen verzogen, der wirkliche lebendige Hansl, gerade so gekleidet wie der Automat, in kurzer schwarzer Hose, weißen Strümpfen, rother Weste mit silbernen Knöpfen und mit derselben blauen Wollmütze auf dem Lockenkopf. Herr von Zerbst, ein Verwandter der Kommerzienräthin, hatte die der Kleinen zugedachte Überraschung und den ganzen Hergang erfahren und diesen »drolligen« Gedanken gehabt, dessen Ausführung jetzt mit allgemeinem Beifall begrüßt wurde. Auch der Kommerzienrath fand den Spaß durchaus harmlos und lachte herzlich mit. Als vollends der Kleine, von dem ungewohnten Anblick um sich geängstigt, dicht neben seinem Ebenbild zu weinen anfing, das Gesichtchen wie dieses in beide Hände vergraben, da war die Wirkung eine allgemeine und die Heiterkeit überwältigend.
Nur Claire stimmte nicht mit ein. Mit einem zornigen Blick auf die lachenden Gäste eilte sie zu dem verstörten weinenden Jungen, küßte ihn und stellte sich schützend vor ihn hin. »Lacht nicht über mein Hänschen, ich leid' es nicht!« rief sie, mit dem Fuße stampfend.
Ein erstaunter großer Blick traf sie aus des Knaben Augen, der sich ihre Liebkosungen willig gefallen ließ und ihr, schon halb getröstet, zu den Spielsachen folgte.
Mit finsterem Schweigen waren die drei Arbeiter, die man zu der Feier geladen hatte, unter der Thür stehend, dem Vorgang gefolgt. Nun trat der Kommerzienrath zu ihnen und theilte ihnen mit, der Knabe, den er in seinem Hause zu erziehen gedenke, sei der angenommene Sohn ihres entlassenen Kameraden. Deshalb hatte er sie ja kommen lassen – so konnte die Großmuthslaune seiner Gattin, der er nur ungern Raum gegeben hatte, wenigstens noch für seine eigenen Zwecke nach Möglichkeit benutzt werden. »Seht daraus,« schloß er, »daß ich stets Euer Wohl im Auge habe und regen Antheil nehme an jedem Unglück, das Euch trifft! Erzählt den Verleumdern, die Euch aufhetzen wollen, diesen Fall, und sie müssen schamroth werden!«
Die Leute drehten verlegen ihre Hüte in der Hand und sahen mit neidischer Verwunderung auf das Kind, das durch ein wunderbares Geschick ihrem dunklen Kreise entrissen wurde. Sie fühlten eine stumme Erbitterung, daß gerade dem Sohne des liederlichen davongejagten Davis dieses Glück werden mußte, während ihre eigenen Kinder darbten und unabänderlich dem harten Los der Väter entgegengingen. Und zugleich weckte die Art, wie man die Wohlthat in Scene gesetzt hatte, und das Gefühl der Demüthigung, die darin lag, ihren Haß gegen diesen stolzen Millionär, der Menschen wie Spielzeug behandelte. So fiel ein häßlicher Schatten auf die an sich edle That. –
War die Feier in der Versammlungshalle vorhin kalt und nüchtern gewesen – hier wehte, vollends nachdem die Deputation der Arbeiter sich entfernt hatte, eine andere Luft. Berrys starre Züge belebten sich, eine stolze Zärtlichkeit leuchtete aus den grauen scharfen Augen. Er liebte seine Frau, seine Kinder, für sie arbeitete er, scheute er keine Aufopferung. Wer ihn jetzt beobachtete, hätte wohl schwerlich in ihm den Mann gesehen, den die öffentliche Meinung als einen gefühllosen Fabrikherrn bezeichnete, welcher das Ausnützungssystem den Arbeitern gegenüber auf die Spitze treibe.
Hänschen hatte alle Scheu verloren; er wich keinen Schritt von Claire und betrachtete sie mit eigenthümlich forschenden, bewundernden Blicken. Seit sie vorhin so warm für ihn eingetreten war, schien sie ihm das Christkind selbst zu sein, das vom Himmel heruntergeflogen war, um ihn in seine weichen Arme zu schließen. Und neben diesem Bilde tauchte vielleicht, als er die warmen Lippen des Mädchens auf der Stirn fühlte, plötzlich ein bleiches, abgehärmtes Antlitz vor ihm auf und lächelte ihm zu, das Antlitz der Mutter. Niemand mehr hatte ihn geküßt seit jener schwarzen Nacht an dem gurgelnden Wasser – aber die Lippen damals waren kalt und bebten.
So innig und vertraulich der Knabe mit Claire verkehrte, so verschlossen war er gegen ihren Bruder, der ihm zwar auch seine Geschenke zeigte, aber in einer befehlenden hochmüthigen Weise. Und als Hans einen blitzenden goldeingelegten Säbel, den jener zum Geschenk bekommen hatte, neugierig betrachtete, schlug ihn der eifersüchtige Besitzer auf die Finger.
»Das ist ein Offizierssäbel, das ist nichts für Dich! Du kommst einmal in solch ein Haus da« – dabei zeigte er auf eine getreu nachgebildete Kaserne mit Soldaten, Gewehren, Trommeln, Feldbetten – »und ich kommandiere Dir dann ›Rechts um!‹ ›Links um!‹ und lasse Dich einsperren, wenn Du nicht folgst!«
Hänschen verstand das alles nicht, aber der Ton, die verächtlichen Bewegungen empörten sein Kinderherz; die weiße kleine Stirn zog sich in Falten, ein böser Blick leuchtete in seinem Auge auf.
Man ging zur Tafel. Claire gab keine Ruhe, bis ihr Weihnachtsgeschenk neben ihr untergebracht war, trotz der Bedenken des Vaters, der eine solche Annäherung nicht beabsichtigte. Die gebrochenen Reden des Knaben, die drollige, in diesen Kreisen fremd klingende Ausdrucksweise und Sprache, seine naive Verwunderung über all die nie gesehenen Dinge und Speisen machten ihn zum Mittelpunkt der Unterhaltung.
»Da sieht man wieder das blinde Walten des Schicksals,« bemerkte einer der Herren. »Die Trunkenheit des Vaters macht den Jungen glücklich, schleudert ihn in eine neue Bahn, die im Verhältniß zu der ihm von Geburt bestimmten jedenfalls eine glänzende ist. Wäre dieser Davis nüchtern und fleißig gewesen, so hätte der Bursche zeitlebens an der Maschine stehen müssen. Der Gedanke muß die Leute eigentlich wüthend machen.«
»Ich fasse die Sache anders auf,« meinte Doktor Schindling, der langjährige Hausarzt der Familie Berry und der ganzen Arbeiterschaft der Fabrik – der einzige Mann, welcher imstande war, den schroffen Grundsätzen des Kommerzienraths da und dort ein Zugeständniß abzuringen zum Wohle der Arbeiter. »Wenn dieser Davis, mit dessen Trunksucht es übrigens nicht so schlimm stand« er blickte scharf auf den Direktor – »seine Pflicht gethan hätte, so wäre der Junge noch bei seiner braven Mutter; ich kannte die Frau –«
»Ein armes kränkliches Ding diese Mutter!« warf der Direktor ein und leerte mit Behagen sein Glas.
»Aber doch eine Mutter!« fuhr der Arzt in erregtem Tone fort. »Und sie hätte ihren Sohn davor bewahrt, an einem Christabend als – als« – sein gefurchtes ehrliches Antlitz röthete sich, er stotterte – »als der Zwillingsbruder eines Automaten verschenkt zu werden,« stieß er dann rasch hervor, wie um eine Last abzuschütteln, die ihn schon lange bedrückte.
Die kühnen Worte hatten eine starke Wirkung; das Entwürdigende und Anmaßende des ganzen Vorganges stand jetzt plötzlich vor aller Augen. Man sah sich betroffen an, nur der Direktor brach in ein lautes Gelächter aus über die Auffassung des Arztes, und dem Prokuristen Merk blieb der Bissen im Munde stecken vor Entsetzen über die Frechheit des Arztes, der es wagte, eine so rührende, in seinen Augen unbegreiflich großartige That des Chefs zu bekritteln.
»Aber guter Doktor,« erwiderte Berry, den der schonungslose Tadel am empfindlichsten getroffen hatte, »wie kann man einem harmlosen Scherz eine solch tragische Deutung geben? Niemand dachte an etwas derartiges! Doch ich sage es ja immer, wir mögen thun, was wir wollen, mit vollen Händen geben, stiften, ein noch so weites Herz haben – es wird uns stets übel ausgelegt und Gedanken werden uns untergeschoben, die wir nicht haben. Doktor, Doktor, ich merke es schon lange, Sie sind auch schon an gesteckt von dem schleichenden Fieber in den Arbeiterhäusern, und gerade Sie sollten diese Menschen doch kennen mit ihrem unversöhnlichen Hasse, ihren wahnsinnigen unerfüllbaren Wünschen. Wieviele sorgenvolle kostspielige Jahre ernsten Studiums haben Sie gebraucht, bis Sie etwas geworden sind, wie quälen Sie sich seitdem das ganze Jahr hindurch, oft mit Gefahr Ihrer Gesundheit, Ihres Lebens. Steht Ihr Verdienst nur einigermaßen im Einklang mit diesen Opfern, diesen Mühen? Kümmert sich jemand auch um Sie, wenn es Ihnen trotz aller Kenntnisse nicht gelingt, eine Praxis zu erringen, wenn Sie erwerbsunfähig werden? Und murren Sie deshalb, hassen Sie deshalb die Besitzenden? Sie denken nicht daran! Und dieses Volk, das alle diese geistigen mühevollen Vorbedingungen der Existenz gar nicht kennt, von dem man nichts verlangt als rohe thierische Muskelkraft und mechanischen Fleiß, für dessen materielle Sicherstellung gegen alle Wechselfälle des Lebens die Besten unter uns sich den Kopf zerbrechen und der Staat mit seiner ganzen Macht eintritt – dieses Volk kann nichts als murren, hassen, unseren besten Absichten die häßlichsten Beweggründe unterschieben. Und nun stimmen Sie mit diesen Leuten, das verstehe ich einfach nicht, Doktor!«
Aufs höchste erregt, hielt Berry inne.
»Der Vergleich zwischen mir und dem Arbeiter dürfte nicht ganz stichhaltig sein,« erwiderte der Arzt, ohne seine Ruhe zu verlieren. »Sie übersehen den ideellen Lohn der geistigen Arbeit, insbesondere meines Berufes, und der ist nicht hoch genug anzuschlagen: er muß den Ausschlag geben beim Abwägen von Arbeit und Gewinn; ist das nicht der Fall, dann beherrscht der Haß nicht weniger auch den geistigen Arbeiter. Die Beispiele haben wir täglich vor Augen; die ganze krankhafte Unzufriedenheit, dieser Geist einer gefährlichen Begehrlichkeit, der jetzt durch alle Schichten geht – sie haben meiner Ansicht nach ihren Grund lediglich in der steigenden Geringschätzung des ideellen Erfolges. Der Arbeiter aber – wenigstens der mechanisch thätige, der Fabrikarbeiter, braucht diesen Posten nicht erst wie viele von uns aus seiner Lebensrechnung zu streichen, er kennt ihn überhaupt nicht. Die Maschine bringt ihn drum, die ihn selbst zur Maschine entwürdigt. Daher, wenn er seine Arbeit gegen den Gewinn hält, das furchtbare Deficit, dessen Wirkung bei ihm begreiflich, bei uns ein Verbrechen ist.«
Der Doktor hatte voll tiefster Überzeugung gesprochen; selbst Herr von Zerbst, dessen Theilnahme für dieses Thema nicht eben groß zu sein schien, hörte auf, gähnend mit dem Messer zu spielen, und wurde aufmerksam.
»Und wie, glauben Sie, könnte dieses Deficit gedeckt werden?« fragte Herr Berry, den Kopf in die Hand stützend.
»Nur auf einem Wege – indem man den verloren gegangenen Posten wieder in die Rechnung setzt.«
»Den ideellen Erfolg?« rief der Direktor lachend. »Den Vorschlag machen Sie einmal in einer Arbeiterversammlung, dann können Sie etwas zu hören bekommen, was Sie vollständig kuriert, Herr Doktor! Mit einer einprozentigen Lohnerhöhung schlage ich Sie aus dem Felde.«
»Das glaube ich Ihnen. Ein unbekannter Werth, ein X, hat keinen Platz in solcher Rechnung; zuvor gilt es, dieses X zu einer bekannten Größe zu machen; das heißt, man muß durch geistige und sittliche Erziehung den Gesichtskreis des Arbeiters erweitern, damit er den inneren Werth des Schaffens verstehen lernt und mit gehobenem Selbstbewußtsein auch in sich ein nützliches Glied der Gesellschaft sieht. Darin allein liegt Heilung, nicht in wilden Umsturzplänen und Phantasien von ungeschmälerter dauernder Gleichheit, die nur zerstören können; aber ebensowenig in Gnadenakten und Almosen, die man dem Arbeiter sehr von oben herab anbietet, die ihn zum Bettler herabwürdigen. Solche selbstherrliche Wohlthätigkeitsanfälle –«
»Wie zum Beispiel die Adoption dieses Knaben, das meinen Sie doch,« warf die Kommerzienräthin gereizt dazwischen. ö
»Nein, die Thatsache der Adoption selbst meine ich nicht, die verdient nur Anerkennung. Aber – aber – das ist es eben – wenn wir alle geben würden, wie wir geben sollte!! Die Art und Weise dieser Adoption, die paßt mir nicht. Ich weiß es wohl, Sie meinen es nicht schlimm, Frau Kommerzienrath, allein ich kann mir nicht helfen, ich sehe an dieser sonst so kostbaren Frucht der Menschenliebe einen faulen Fleck, und das schmerzt mich.«
»Habe ich Dir nicht die Wahrheit vorausgesagt, als Du mir Deinen Plan mit dem Jungen vorlegtest?« rief Berry seiner Frau zu. »Doktor, Sie machen mich noch wirklich zu dem, wofür ich gehalten werde, zu einem erbarmungslosen Tyrannen. Übrigens sehen Sie einmal, der Kleine scheint sich ganz gut in seine traurige Lage zu finden. Claire stopft ihm die Backen voll und verschwendet all ihre Liebenswürdigkeit an ihn.«
»Ich kenne manchen Jungen, der sich gern als Automat Nummer zwei von dem Herrn Kommerzienrath verschenken ließe,« meinte der Prokurist, über seinen Witz herzlich lachend.
»Und sind wir denn nicht alle Automaten des Schicksals?« rief Berry. »Pah, nur keine Sentimentalität die hasse ich! Das bringt das Geschäft mit sich – Eisen!«
Die Lichter des Baumes waren herabgebrannt und wurden von den Bedienten ausgelöscht. Die Gesellschaft begab sich in das Nebenzimmer, in welchem eine duftende Bowle aufgetragen war. Der feurige Trank löste die Zungen zu harmloserem Gespräch, und die durch die vorausgehende Erörterung verursachte Spannung verwandelte sich bald in laute Heiterkeit.
Nebenan ging es nicht weniger lustig zu; das helle Lachen der Kinder, die zurückgeblieben waren, Trompetenstöße, Trommelwirbel, das Gequiek von Puppen, das Knallen von kleinen Pistolen drang ununterbrochen herein. Jeden Augenblick kam Claire zum Papa gelaufen, um irgend einen neuentdeckten Vorzug ihrer Geschenke zu melden. Ihr Bruder vertrug sich leidlich mit Hänschen. Der Pony war schon längst abgeführt worden in seinen wirklichen Stall, so beschäftigte Otto sich hauptsächlich mit seinem militärischen Besitz, für den er eine besondere Neigung zu haben schien. Dabei fand er es ganz selbstverständlich, daß Hänschen auf seinen Befehl mit dem kleinen Schießprügel herumhantierte, und er traf ganz vortrefflich den barschen Ton der Unteroffiziere, welche er täglich auf dem Gange zur Schule durch das Gitter des Kasernenhofes mit höchstem Antheil beobachtete.
Anfangs ging der Kleine willig auf das Spiel ein, so großen Widerspruch auch Claire dagegen erhob, da sie eine andere Verwendung für ihn hatte – den Puppenwagen fahren und der kleinen porzellanenen Gesellschaft das Nachtessen servieren. Als aber Otto auch die Kasernenpüffe und die heimlichen Fußtritte nachahmte, da wurde der Rekrut unwillig, warf das Gewehr weg und verlangte ungestüm einen Tausch der Rollen, indem er nach Ottos Säbel griff. Allein er erhielt nur die höhnische Antwort, ein Junge wie er dürfe gar nie einen Säbel tragen, der sei für andere Leute, und wenn er nicht gehorchen wolle, so werde man ihn wieder auf den schmutzigen Fabrikhof setzen, woher man ihn genommen habe. Der kleine Hans gab den Säbel nicht los, mit äußerstem Kraftaufwand umspannten seine Hände den Griff. Da ließ Otto plötzlich die Klinge los, so daß sein Gegner rückwärts zu Boden fiel, griff nach der Reitpeitsche, die bei dem Sattelzeug des Ponys hing, und führte einen pfeifenden Hieb nach dem Kleinen. Der stieß einen sonderbar rauhen Schrei aus, im Nu stand er auf den Füßen, die kleine Klinge in seiner Faust blitzte durch die Luft – und Otto sank blutend mit einem Schmerzgeheul zu Boden.
Claire war gerade beim Papa. Auf das Geschrei und den dumpfen Fall hin eilte alles ins Nebenzimmer. Hänschen stand noch mit erhobenem Säbel da, starr, totenbleich, auf den Gegner am Boden blickend, die kleine Stirn noch immer zornig gefaltet, die Lippe eingezogen. Jetzt glich er gar nicht mehr dem Automaten auf dem Tische.
Die Räthin eilte entsetzt zu ihrem blutenden Kind, über das sich eben Doktor Schindling beugte, um die Wunde zu untersuchen. Ihr Gatte, vom Zorn übermannt, riß den kleinen Verbrecher zurück und hob die Hand zum Schlage. Aber Hans machte sich gewandt los und floh in einen Winkel des Zimmers. Von dort sah er scheu, mit einem trotzigen Zug um die Lippen, der nicht auf Reue deutete, zu dem Unglück herüber, das er angerichtet hatte. Nur Claires Fürbitte bewahrte ihn vor der angedrohten körperlichen Züchtigung.
Der Doktor beruhigte die Gesellschaft, es handle sich nur um eine oberflächliche Stirnwunde. Der Getroffene war auch rasch wieder bei vollem Bewußtsein und voller Kraft; man mußte ihn mit Gewalt davon abhalten, an Hänschen unmittelbare Rache zu nehmen. Auf Anordnung des Arztes wurde er rasch zu Bett gebracht.
Aber der Abend war gestört, die Blutflecken am Boden paßten schlecht zu dem fröhlichen Feste.
»Da haben wir uns ein nettes Kreuz aufgeladen, Emilie,« sagte Berry ärgerlich. »Die Rohheit liegt dem Volke im Blut, ich sage es ja immer. Oder wollen Sie das auch vertheidigen, Doktor? Regte sich vielleicht schon die verletzte Menschenwürde in der Brust dieses Jungen?«
»Otto hat ihn jedenfalls gereizt, er betrachtete ihn wohl ganz folgerichtig als Spielzeug, als Seitenstück zu dem Automaten dort, und das scheint der Junge doch schon begriffen zu haben,« erwiderte der Arzt. »Sag' einmal,« wandte er sich dann in strengem Tone an den Missethäter, indem er ihn zugleich, aus seiner Ecke hervorholte, »warum hast Du das gethan?«
Der Knabe sah den alten Herrn, dessen gute Augen sich vergeblich bemühten, streng zu blicken, forschend an. Die Falten auf seiner Stirn verschwanden, eine Thräne rollte die Wange herab. »Ich laß mich nicht schlagen,« sagte er in festem Tone.
»Hat er Dich denn geschlagen?«
Hänschen nickte, sein Gesicht schmerzlich verziehend und in Thränen ausbrechend. »Mit der Peitsche.«
»Natürlich mußt Du ihn dafür gleich halb umbringen. Rohheit, angeborene Rohheit! – Laß ihn fortbringen, Emilie, ich kann ihn nicht mehr ansehen, wenn ich bedenke, welches Unglück er hätte anrichten können. Da hast Du nun den ersten Lohn für Dein gutes Herz!« brauste Berry empört auf.
Man gab ihm allgemein Recht und den Rath, da die Sache nun einmal nicht ohne Unannehmlichkeiten rückgängig zu machen sei, den Jungen wenigstens getrennt von seinen Kindern erziehen zu lassen.
»Dafür wird gesorgt werden!« versicherte Berry in einem Tone, der die höchste Erbitterung verrieth.
Claire war unglücklich. Mama hatte ihr versprochen, daß Hänschen heute unter der Aufsicht der Bonne in einem Zimmer mit ihr schlafen dürfe, das war jetzt vorbei; sie wagte auch nicht mehr, darum zu bitten. Ihr Schützling wurde einem Diener zur Obhut für die Nacht übergeben. Doch einen herzlichen Abschied ließ sie sich nicht nehmen; dem Bruder war in ihren Augen ganz recht geschehen, was hatte er überhaupt ihrem Hansl zu befehlen!
»Nicht bös sein, Claire, will's nicht wieder thun!« stammelte der Verbrecher, sich mit sichtlichem Schmerze von dem Mädchen losreißend.
Als die Bonne Claire zum Schlafengehen abholte, besann sich diese einen Augenblick, ihre schönen Geschenke prüfend, dann nahm sie den kleinen Automaten unter den Arm und folgte willig. In ihrem Zimmer war ein leeres Bettchen für Hänschen hergerichtet, in das legte sie die Figur, deckte sie schön warm zu, sprach ihr Nachtgebet und kroch vergnügt unter ihre seidenüberzogene Bettdecke. Noch einmal hob sie den Kopf, rief »Gute Nacht Hansl!« und schlief dann beruhigt ein.