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Der Großvater suchte unterdessen überall nach Lelia, ohne sie finden zu können, bis ihm endlich eines der Kinder sagte, daß sie sich auf sein Zimmer begeben habe. Als er eintrat, flog sie ihm entgegen. »Das war eine abscheuliche Scene,« sagte sie, indem sie ihren Kopf an seine Brust drückte, »aber ich konnte nicht anders.«
»Was gab es denn?« fragte der Großvater, indem er ihren Kopf aufrichtete, so daß sie ihm in die Augen sah.
»Großvater,« sagte sie, »Adelheid nannte Heinz ehrlos. Durfte ich mir das gefallen lassen?«
»Nein, mein Kind, und es war recht, daß Du ihn in Schutz nahmst; aber ich hoffe, daß Du Dich darauf beschränktest, den Angriff zurückzuweisen.«
»Gewiß, Großvater. Mir war heiß genug zu Muthe, aber ich sagte weiter nichts, als daß ich sie bitten müsse, Ihre Ansichten, wenn sie so beleidigender Natur seien, für sich zu behalten.«
»Nun, und war das die einzige Veranlassung zu ihrem plötzlichen Aufbruche?«
»Nein, Madeleine sagte, daß Adelheids Behauptung eine Lüge sei.«
Der Großvater schüttelte nachdenklich den Kopf. »Gottlob, daß sie weg sind!« sagte er endlich.
»Ja, da stimme ich von Herzen ein,« rief Lelia. »Und nun, Großvater, die Moral: Habe ich Unrecht gethan?«
»Nein, mein Kind, aber Du hättest vielleicht eine noch sanftere Form wählen können. Du hättest sie bei Seite nehmen und ihr dann Vorwürfe machen können.«
»Nein!« rief Lelia, »nein! Sie hat ihn ja vor all' den fremden Leuten beleidigt. Da mußte ich den Angriff auch vor allen Menschen zurückweisen!«
»Also, wie steht es mit der Moral?«
Der Großvater lächelte. »Du fragst gar nicht darnach, ob sie mit ihren Vorwürfen nicht am Ende recht hatte.«
Lelia lachte.
»Nein, Großvater, darnach frage ich natürlich ganz und gar nicht.«
Dann eilte sie davon. Die letzte Bemerkung des Alten hatte ihr die gewohnte Fröhlichkeit wiedergegeben. Heinz – ehrlos, es war doch eigentlich nur lächerlich und weiter nichts.
Unten fand sie Alles in der größten Aufregung. Madeleine und Frau Amanda hatten sich zurückgezogen, der Doctor, der Pastor und Horace saßen unter den Linden und besprachen eifrig den Vorgang. Horace hatte jetzt Zeit gefunden, sich darauf zu besinnen, daß es eigentlich seine Sache gewesen wäre, für den Freund einzutreten und er war nachträglich sehr empört über Adelheid. Lelia's entschlossenes und energisches Auftreten hatte ihm unendlich imponirt und er war sehr stolz auf seine Pflegerin. Als Lelia sich zu ihnen setzte, tadelte er Adelheid heftig, aber Lelia selbst nahm sie in Schutz. »Wir wollen nicht weiter davon sprechen,« sagte sie. »Die arme Frau mag in ihren unglücklichen Verhältnissen den Maßstab für Recht und Unrecht verloren haben. Außerdem bestehen zwischen ihr und meinem Vetter alte Mißhelligkeiten, und der Tag ist heiß.«
»Sehr gut, natürlich,« rief der Doctor. »Alte Mißhelligkeiten! Sehr gut! Sehr alte Mißhelligkeiten! So von Heinz zu sprechen! Unbegreiflich! Natürlich.«
Am folgenden Tage fuhren Frau von Balteville und Madeleine fort. Erstere behauptete, zu Hause ein wenig nach dem Rechten sehen zu müssen; der wahre Grund aber war die Absicht, sich möglichst bald mit Adelheid, die sie zur Förderung ihrer Heirathspläne nicht entbehren zu können glaubte, zu versöhnen. Horace, von dem der Doctor, auf dessen inständiges Bitten, erklärt hatte, daß er wenigstens noch acht Tage im Pastorate bleiben müsse, blieb denn auch und sollte von Frau von Balteville in Person abgeholt werden.
Frau von Balteville's Bemühungen wurden mit vollständigem Erfolge gekrönt; Adelheid erwies sich als überraschend nachgiebig und versöhnlich und Madeleine mußte dem Drängen der Mutter in soweit Folge leisten, daß sie erklärte: sie bedauere es, so herbe Worte gebraucht zu haben.
Horace verlebte die nächsten Tage wie im Paradiese. Das Gefühl der wiederkehrenden Gesundheit, das schöne Wetter und mehr als das, die Liebe zu Lelia, machten ihn überglücklich. Die letztere erschien ihm durchaus hoffnungsvoll. Lelia war gegen ihn überaus liebenswürdig und leistete ihm Gesellschaft, soweit es ihre Zeit irgend erlaubte. Sie gestattete ihm, ihr bei ihren kleinen wirthschaftlichen Arbeiten zur Hand zu sein und hörte es gern, wenn er ihr in seiner etwas weitschweifigen Weise von seinen Reisen erzählte.
Wenn übrigens doch noch hin und wieder Zweifel in ihm aufstiegen, ob er sich nicht täusche, so mußten diese völlig schwinden, als Heinz eines Tages in's Pastorat kam. Sie war auch gegen diesen freundlich, aber Horace bemerkte doch, daß sie ihm gegenüber sich offenbar viel unbefangener und heiterer zeigte. Auch Heinz entging dies nicht, aber er ließ sich nichts merken, ja, als Horace ihn gelegentlich bei Seite nahm und ihm von seiner Liebe und seinen Erfolgen erzählte, schüttelte er ihm kräftig die Hand und beglückwünschte ihn.
Eines Abends, es war der letzte, den Horace als ständiger Gast im Pastorate zubringen sollte, unternahmen Lelia, die Kinder und er einen Spaziergang in eine benachbarte Buschwächterei, um dort zum folgenden Tage ein Gespann zu miethen. Die Pferde des Pastors waren nämlich beschäftigt und Horace, der den Kindern eine Ausfahrt versprochen hatte, wollte ihnen im Gesinde dazu verhelfen.
Sie gingen auf einem schmalen Pfade dahin, der sich durch dichtes Unterholz hinzog. Die Kinder sprangen bald rechts, bald links in den Wald, um nach den ersten Schwämmen zu sehen, Lelia und Horace gingen langsam hinter ihnen her.
Lelia erzählte unterdessen ihrem Begleiter eine jener traurigen Dorfgeschichten, wie sie sich so oft im Bauernleben abspielen, eine jener Geschichten, in denen das Mädchen eines armen Knechtes Tochter, der Jüngling Erbe eines reichen Wirthes ist. Die Begebenheit, von der Lelia sprach und die vor einigen Wochen die ganze Gemeinde in Aufregung versetzt hatte, war ungewöhnlich tragisch verlaufen. Als das Mädchen sich von dem schwachen Bräutigam verlassen sah, hatte sie in einem tiefen Brunnen ihrem Leben ein Ende gemacht.
Lelia verstand sehr lebhaft und anschaulich zu erzählen und Horace gerieth in Feuer und Flammen.
»Welch' eine Schwäche,« rief er, »gehört dazu, sich in solcher Weise tyrannisiren zu lassen! Welch' eine Feigheit.«
»Sagen Sie das nicht,« meinte Lelia, »wenn Ihnen der Vater des Bräutigams bekannt wäre, so hätten Sie vielleicht auch Bedenken getragen, ihm zu widersprechen. Er ist ein Mann, dem man Alles zutrauen kann.«
»O, mein Fräulein,« rief Horace, »wie wenig kennen Sie mich! Der Mann lebt nicht, den ich in solch' einem Falle fürchten würde. Was heißt überhaupt sich fürchten? Und wenn er ein Drache wäre, ich würde muthig vor ihn hingetreten sein.«
»Nun,« meinte Lelia lächelnd, »ein Drache mag in solchem Fall auch nicht so gefährlich sein, wie ein Vater.«
»Und wenn er zehnmal mein Vater wäre, ich würde dennoch mein Recht behaupten. Schlagen wir doch oft genug unser Leben in viel weniger wichtigen Fällen in die Schanze.«
Sie hatten sich unterdessen der Buschwächterei bis auf wenige hundert Schritte genähert. Dort, wo der Wald aufhörte, blieb Lelia stehen, um bei den Kindern zu bleiben, denn da im Gesinde der Scharlach herrschte, so durften diese nicht mit hinein.
Sie setzte sich also mit ihren Kleinen auf einen Baumstumpf und versprach Horace zu erwarten.
Dieser schritt allein auf das Gesinde zu. Ihm war nicht ganz wohl dabei zu Muthe, denn wenn er schon ohnehin ängstlicher und zaghafter Natur war, so hatte er vor Hunden doch eine ganz besondere Scheu. Nun wußte er aber, daß in einer Buschwächterei ohne Zweifel Hunde, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach große Hunde waren. So wurde ihm denn bei jedem Schritte, den er that, das Herz schwerer. Er ging immer langsamer und immer leiser, plötzlich blieb er stehen und kehrte um. Er mußte doch noch einen Versuch machen, den unüberlegten, fatalen Gang loszuwerden.
»Was giebt's?« fragte Lelia, als er zurückkehrte.
»Mir fiel ein,« sagte Horace mit beklommener Stimme, »daß es doch eigentlich leichtsinnig wäre, wenn wir Wagen und Pferde aus der Buschwächterei nehmen. Die Kinder könnten am Ende doch angesteckt werden.«
Lelia, der sein wunderliches Wesen auffiel, die den Grund aber natürlich nicht errathen konnte, entgegnete harmlos:
»O, das haben wir wohl nicht zu befürchten.«
Die Kinder, die bei der Aussicht, das versprochene Vergnügen am Ende nicht zu Stande kommen zu sehen, in lautes Klagen ausbrachen, bestürmten Horace, sich durch seine Besorgniß nicht abhalten zu lassen. So blieb ihm denn Nichts übrig, als wieder umzukehren. Er hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht, denn die Kinder, die sich bisher um Lelia geschaart hatten, standen jetzt am Waldrande und sahen ihm voll Erwartung nach. Horace nahm sich zusammen, so viel er konnte. Er sagte sich, daß nicht alle Hunde bissig seien; daß man bissige Hunde schwerlich frei herumlaufen lassen würde; daß es für ihn kein Zurück mehr gab, wenn er nicht in Lelia's Augen als ein zaghafter Feigling erscheinen wollte, aber seine angeborene Hasenherzigkeit war so groß, daß alle diese Erwägungen nur sehr wenig verschlugen.
Als er sich dem Gesinde bis auf etwa zehn Schritte genähert hatte, schlug richtig ein Hund an. Es mußte ein großes Thier sein, wenigstens hatte es eine gewaltige Baßstimme und Horace fühlte, wie ihm das Herz stille stand. Gleich darauf sprang denn auch ein großer Köter über den niedrigen Zaun und stürzte auf Horace zu. Anstatt nun, ohne sich um das Thier weiter zu bekümmern, seinen Weg ruhig zu verfolgen, in welchem Falle der Hund sich ohne Zweifel bald beruhigt hätte, blieb Horace stehen und schlug mit seinem Spazierstöckchen wie ein Rasender um sich. Das Thier, dadurch gereizt, fuhr nun erst recht auf ihn los und erfaßte mit den Zähnen sein Beinkleid, aber Horace, der im Gesinde nirgend einen Menschen gewahr wurde und dem die Angst alle Besinnung raubte, meinte einen heftigen Schmerz zu empfinden, und stieß daher einen so gellenden Schrei aus, daß der an und für sich keinesweges bösartige Hund fast ebenso sehr erschrak, als Horace, diesen fahren ließ und ein paar Schritte weit davon lief. Dann freilich kehrte er wieder um und bellte wie toll.
Lelia, die Horacens Schrei gehört hatte und nicht anders glauben konnte, als daß er von dem Thiere stark verletzt worden und daß dieses toll geworden sei, denn sie kannte es als einen sanften Hund, befahl den sich ängstlich um sie drängenden Kindern zurückzubleiben und sich im dichten Unterholze zu verbergen, ergriff selbst den ersten besten Zweig, der am Boden lag und eilte so rasch sie konnte, dem Angegriffenen, der wie ein Unsinniger mit den Füßen nach allen Richtungen hin ausschlug, zu Hilfe. Ehe sie ihn aber erreichen konnte, war bereits die Frau des Buschwächters, durch das rasende Bellen des Hundes aufmerksam geworden, auf der Schwelle des Hauses erschienen und hatte das Thier zurückgerufen. Lelia, die aus dem Gehorsam des Hundes schloß, daß derselbe nicht toll sein könne, aber immer noch annahm, daß Horace etwas Unerhörtes begegnet sein müsse, ließ den Zweig, den sie in der Hand hatte, fallen und fragte, indem sie ihre Rechte auf ihre, vom schnellen Laufen noch heftig wogende Brust legte, was geschehen sei.
»Der Hund,« stotterte Horace und sah auf sein Beinkleid, auf dem aber zu seinem Erschrecken weder Blut, noch sonstige Spuren einer Verletzung sichtbar waren.
»Was war es mit dem Hunde?« fragte Lelia, noch immer athemlos und sah ihn gespannt an.
»Ich glaube – er wollte mich beißen!«
Lelia flog der Gedanke durch den Kopf, der junge Mann könne am Ende aus lauter Furcht vor dem Hunde geschrieen haben, aber das war doch gar zu unwahrscheinlich.
»Was befürchteten Sie?« fragte sie ihn.
»Ich dachte, ich fürchtete – er sah so böse aus!«
Horace wollte vor Scham über seine Furchtsamkeit in die Erde sinken.
Lelia wußte jetzt, woran sie war, aber ihre Gutmüthigkeit bewirkte, daß sie Horace gegenüber nur das größte Mitleid empfand. Wie unerträglich mußte es für einen Mann sein, sich so von der lächerlichsten Furcht beherrschen zu lassen!
»Ich finde Ihre Besorgniß sehr natürlich,« sagte sie, »denn in dieser Zeit kann man bei keinem Thiere davor sicher sein, daß es nicht etwa toll geworden ist.«
Das war ein rettender Gedanke und Horace eilte, sich seiner zu bemächtigen.
»Ja wohl,« sagte er, »das Thier sah so unheimlich aus – und es ließ den Schwanz so hängen, da dachte ich, es wäre toll.«
»Ja,« meinte Lelia, »es war natürlich, daß Sie den Hund für toll hielten, er läßt allerdings den Schweif hängen.«
Es wurde nun mit der Wirthin das Nöthige verabredet und Horace hatte Zeit, sich unterdessen von seinem Schreck zu erholen. Zugleich wurde er sich aber auch dessen bewußt, wie hochherzig sich das junge Mädchen benommen hatte, und er dankte ihr, als sie heim gingen, aus bewegtem Herzen. Lelia lehnte jeden Dank ab. »Ich konnte doch nicht ruhig ansehen, daß Sie von dem tollen Thiere gebissen würden,« sagte sie, und als er ihr über ihren Muth Complimente machte, behauptete sie, sehr hasenherzig zu sein und erzählte einige Geschichten aus ihrem Leben, in denen sie sich recht furchtsam benommen hatte. Sie erzählte sie, um dadurch Horacen's Furchtsamkeit als etwas Gewöhnliches und Natürliches erscheinen zu lassen, sie waren aber auch wahr, denn Lelia war von Natur eher furchtsam als muthig.
Als sich im Walde die Kinder wieder zu ihnen fanden, fragte das eine: »Aber Onkel Horace, warum schriest Du denn so schrecklich?«
Horace wurde über und über roth, aber Lelia kam ihm zu Hilfe und erzählte, daß der Herr den Hund für toll gehalten habe. Darüber erschraken nun wieder die Kinder und konnten nur mit Mühe beruhigt werden.
Als die Gruppe im Walde verschwunden war, richtete sich eine hohe Gestalt, die bisher im Dickicht verborgen gelegen hatte, langsam auf und entfernte sich nach der entgegengesetzten Richtung. Dieser Mann war Heinz, der ein unbemerkter Zeuge der ganzen Scene gewesen war. Er ging jetzt oft in der Gegend des Pastorats auf die Birkhühnerjagd, und Weinthal bemerkte mit der größten Verwunderung, daß sein Herr jetzt so weite Jagdexcursionen unternahm.
Heinz war gerade auf das Pastorat zugegangen, als er die Kinderstimmen hörte und einem unwillkürlichen Antriebe folgend, verbarg er sich rasch in der Schonung und hielt seinen Hund nieder. Von seinem Platz aus hatte er die ganze Scene deutlich übersehen können, allein da er mit seines Freundes Charakter besser bekannt war, als Lelia, so hatte er bis zu ihrem Einschreiten die Sache nur von der lustigen Seite aufgefaßt. Als er Lelia auf Horace zueilen sah, hatte er freilich rasch beide Hähne gespannt, um, falls der Hund auch sie anfiele, schlimmsten Falls einschreiten zu können; allein er hatte bald gesehen, daß ihr keine Gefahr drohte und die Flinte wieder fortgelegt.
Als er sich jetzt erhob, blickte er finster vor sich hin. Er wußte jetzt, daß sie Horace liebte. Wohlan, er konnte sich für seinen Freund nur freuen, und er gab sich alle Mühe es zu thun, aber es wollte ihm doch nicht recht gelingen. Er hatte Horace herzlich lieb und es berührte ihn unangenehm, daß er in diesem Augenblicke mit einer Art Verachtung an sein feiges Benehmen dachte. »Körperliche Furchtsamkeit ist keine Schande,« murmelte er, während er durch den Wald dahin schritt und die hohen Farrenkräuter niedertrat, »sie kann mit großem moralischen Muthe verbunden sein.« Aber trotzdem erschien ihm heute der Freund nach allen Richtungen hin in einem ungünstigen Lichte. Eigentlich ist er doch ein höchst unbedeutender, wenn auch guter und lieber Mensch, dachte er, aber er zürnte über seine eigenen Gedanken.
Als ihn Horace nach einigen Tagen besuchte und, während sie um die Felder gingen, voll Entzücken von seinem Liebesglücke sprach, kam ihm dieser Gedanke immer und immer wieder, und er bemühte sich vergebens, ihn zu bannen.
Sie gingen beide dicht an dem Flußufer auf dem schmalen Rasenstreifen, welcher das Feld vom Abhange trennte. Heinz ging voran, Horace folgte.
Horace erzählte das Abenteuer mit dem Hunde, aber er stellte es so dar, als ob dieser wirklich wie ein toller ausgesehen habe.
»Welch' eine Liebe gehört dazu,« rief Horace, »um das sonst so schüchterne, ängstliche Mädchen zu bewegen, sich dem tollen Hunde so kühn entgegenzustellen. O, Heinz, ich versichere Dich, ich bin unsäglich glücklich. Ich könnte für sie sterben.«
Heinz dachte an die Scene mit dem Hunde und ein Gefühl von Bitterkeit überkam ihn, aber er überwand es mannhaft.
»Mein lieber Horace,« sagte er, »Gottlob, daß Du das nicht nöthig hast.«
»Sage nicht Gottlob, Heinz. Sage das nicht. Wenn man liebt und geliebt wird, dann hat man den heißen Wunsch, die Geliebte möchte in irgend eine Gefahr gerathen, in recht große Gefahr, damit man sie daraus retten könne.«
Heinzen war das Gespräch unendlich peinlich.
»Sieh,« sagte er und wies auf das Roggenfeld hin, an dem sie jetzt hingingen, »hast Du je ein so jämmerliches Feld gesehen?«
»O mein Gott, nein. Das wird ein schrecklicher Herbst werden. Wenn ich an meine Schulden denke, so wird mir angst und bange. Meine Wechsel sind im Herbste fällig und ich weiß durchaus nicht, wie ich sie werde bezahlen können.«
Heinz wandte sich um.
»Hast Du denn Schulden?« fragte er.
»O mein Gott, ja. Ich habe große Schulden.«
»Aber wie bist Du denn zu ihnen gekommen?«
»Wie Du fragen kannst, lieber Heinz! Wie soll ein Landwirth in solchen Nothjahren keine Schulden haben?«
»Aber Du hattest ja im vorigen Jahre eine leidliche Ernte. Warum wandtest Du Dich nicht an Deine Mutter?«
»Lieber Heinz,« erwiderte Horace und riß eine Aehre aus, »lieber Heinz, wie Du merkwürdig fragen kannst! Du weißt doch, wie die Damen sind. Sie verstehen nichts von Geschäften und sind daher, wenn von solchen die Rede ist, sehr leicht gereizt und sehr exaltirt.«
»Wem bist Du das Geld schuldig?«
»O, dem guten Herrn von Lehmhof. Er wird mit sich sprechen lassen. Er wird gewiß mit sich sprechen lassen.«
»Wie viel bist Du ihm schuldig?«
»Eine große Summe, Heinz, eine sehr große Summe.«
»Nun, wie groß ist sie doch?«
»Ich schäme mich, es zu sagen.«
Heinz lächelte bitter.
»Nun?« fragte er.
»Es mögen wohl zwanzigtausend Rubel sein.«
Heinz fuhr zurück.
»Aber die kannst Du doch unmöglich in die Parkhöf'sche Wirthschaft gesteckt haben?« rief er.
Horace stand über und über roth vor ihm, wie ein ertappter Schuljunge vor seinem gestrengen Herrn Präceptor und zerknitterte einen Kornhalm in den Händen.
»Ich habe gespielt!« sagte er.
»Aber warum hast Du Dich nicht an Markhausen gewandt?« fragte Heinz.
»Siehst Du, Heinz, der Markhausen hat so etwas Kaltes in seinem Wesen, so etwas Hochmüthiges. Da habe ich es nicht über's Herz gebracht, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem hoffte ich auch, mich nach der Ernte selbst aus der Affaire ziehen zu können.«
Heinz ging weiter, Horace folgte ihm. Der Freund war Heinz nie so knabenhaft erschienen, als gerade heute.
»Ich bin sehr leichtsinnig gewesen, es ist wahr,« fuhr Horace fort, »aber wenn erst Lelia meine Frau ist, soll Alles anders werden.«
»Stelle Dir die Sache nicht so leicht vor,« sagte Heinz. »Du wirst mit Deiner Mutter einen schweren Kampf bestehen müssen und Du wirst allen Muth nöthig haben, um ihn glücklich auszufechten.«
»Meinst Du?«
Heinz wandte sich um.
»Meinst Du denn das etwa nicht?« fragte er.
Horace blickte zu Boden.
»Allerdings,« sagte er endlich zögernd.
»Du weißt doch, daß Deine Mutter sehnlichst wünscht, daß Du Fräulein Schweinsberg heirathest, wie kannst Du da hoffen, sie werde sich so leicht darein finden, den längst gehegten Lieblingswunsch aufzugeben?«
»Ja, meine liebe Mutter wünscht das allerdings.«
»Vergiß auch nicht,« fuhr Heinz fort, »daß Du bei Schweinsbergs gewissermaßen schon engagirt bist. Ich sage das nicht, um Dich meiner Cousine abwendig zu machen, sondern um Dich darauf vorzubereiten, daß Du sie Dir wirst erkämpfen müssen.«
»Ich danke Dir, Heinz,« sagte Horace kleinlaut. Er hatte sich die Gedanken an die Schwierigkeiten, die seiner Verbindung mit Lelia im Wege standen, bisher absichtlich aus dem Sinne geschlagen. Das Gespräch mit Heinz führte sie ihm wieder vor und sie erschienen ihm jetzt unüberwindlich. Er hatte große Thränen in den Augen, als er stehen blieb und ausrief:
»Ach, Heinz, ich bin so schwach, so unglaublich feig und schwach!«
Der offenherzige Ausruf rief in Heinzens Herzen die alte Liebe zum Freunde wach. »Mein lieber, guter Horace,« sagte er, indem er ihn umschlang, »wer kann sagen, daß er stark sei, aber was immer in meinen Kräften steht, will ich thun, um Dir ein treuer Freund zu sein.«
Horace weinte bitterlich. »Ach, ich bin so jämmerlich schwach,« wiederholte er, »und so feig.« Er erzählte nun in tiefer Rührung die Geschichte mit dem Hunde, wie sie wirklich gewesen war und schwor hoch und theuer, es nie zu vergessen, daß sie sich erst so muthig und dann wieder so zartfühlend benommen hatte.
»O, ich will treu zu ihr halten,« rief er aus, »Nichts soll mich von dem herrlichen Mädchen trennen!«
Als Horace nach Hause geritten war und Heinz dann die nöthigen Anordnungen für den folgenden Tag getroffen hatte, schlug er wieder den Weg ein, den er vorhin gegangen war und schritt am Ufer des Flusses hin, bis zu der Stelle, wo ein Bach in denselben mündete. Hier stand ein kleines Birkenwäldchen, an dessen Ausgange Heinzens Lieblingsplatz war. Schräg gegenüber befand sich die Kirche, zu der das andere Pastorat gehörte; rechts sah man an hellen Tagen bis nach Bachhof hinauf, links bis nach Parkhof hinunter. Heute erfüllte freilich noch immer der aus den brennenden Wäldern und Mooren aufsteigende Rauch die Luft.
Die untergehende Sonne warf trotzdem eine Art Glanz auf das vergoldete Kreuz, das die Spitze des Kirchthurms krönte und es leuchtete plötzlich hell auf.
»Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt mir,
Ist mein nicht werth und meiner Zier«
summte Heinz vor sich hin. So hatte es in einem von Anna's Lieblingsliedern geheißen. Ja, in dem Kreuz, in dem Symbole der Qual lag das Heil und darum ist es auch das Symbol des Friedens, und doch wie schwer war es, wie unsäglich schwer! Heinz liebte Lelia. Er wußte es jetzt, aber er wußte auch, daß er ihr entsagen mußte, daß sie einen Andern liebte. Seit er sie zum ersten Male wiedergesehen, hatte er keine ruhige Stunde mehr verlebt. Ein Gefühl, wie er es nie zuvor gekannt, hatte sich seiner ganz und gar bemächtigt. Eine unerträgliche Sehnsucht nach Waldhof, nach Lelia peinigte ihn, und vergeblich suchte er sich von ihr zu befreien. Er mochte auf dem Felde sein oder über den Büchern sitzen, er mochte allein oder unter den Menschen sein, diese Sehnsucht verließ ihn auch nicht auf einen Augenblick. Wenn er Abends zu Bette ging, träumte er von ihr und wenn er sich Morgens erhob, begleitete ihn ihr Bild. Er wußte jetzt, was Liebe sei, er wußte jetzt, daß er Anna nicht eigentlich geliebt hatte und jetzt erst verstand er, welche Qualen sie ausgestanden haben mußte.
Als er Lelia zum ersten Male verlassen hatte und sich des Gefühls, das ihn so plötzlich überkommen, bewußt geworden war, da war er selbst darüber erschrocken und die Hoffnung, die sich schmeichelnd an ihn gewagt hatte, die Hoffnung auf Glück, auf namenloses, unsagbares Glück, war ihm als schwere Sünde erschienen. Durfte er, der Anderer Glück herzlos zertreten hatte, selbst glücklich sein? Er hatte sich niedergeworfen vor Gott, zu dem er jetzt seit lange wieder betete, und hatte ihn angefleht, ihm den Lohn zu geben, den er verdiene. Als er dann das nächste Mal in Waldhof gewesen war, da hatte er in Lelia's verändertem Wesen gleichsam die Antwort auf seine Bitte zu finden geglaubt. Jetzt war ihm Alles klar und er war bereit, den bittern Kelch der Sühne bis auf die Hefe zu leeren.
»Wohlan,« sagte er, und erhob sich, »wohlan, ich will das Kreuz auf mich nehmen und es tragen. Ich will Zeuge sein, wie Horace und Lelia glücklich werden, und ich will das Meinige dazu thun, daß sie es werden. Ich will die schwere Last bis an's Ende tragen, aber wenn sie sich gefunden haben, dann – will ich fort von hier! Daß ich ihr Glück ruhig mit ansehe, das ist unmöglich, das kann Gott selbst nicht verlangen. Wohlan denn, Kreuz, komm', ich bin bereit.«
Als Weinthal heute, während er die Fensterläden schloß, Heinz über seinen Büchern sitzen sah, da arbeitete dieser nicht mehr, um sich die Zeit angenehm zu vertreiben, sondern um sich dereinst damit das tägliche Brod erwerben zu können.