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Es wurde draußen schon wieder hell, als der Großvater und Heinz die Treppe hinabstiegen, um noch einmal nach dem Kranken zu sehen. Dieser schlief unruhig, aber er schlief doch, und so ließ sich denn Heinz bereden, auch zu Bett zu gehen.
Als er spät erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er schaute sich verwundert in dem kleinen Gemache um und es währte eine Weile, bis er sich darauf besann, wie er hierhergekommen war.
Allmälig fiel ihm Alles ein, auch das Gespräch mit dem Großvater, und er sprang erschreckt auf. Was hätte er darum gegeben, wenn er seine Offenheit hätte zurücknehmen können! Zum ersten Male seit seinen Kinderjahren hatte er Jemand so ganz in sein Herz hineinblicken lassen; jetzt kam er sich wie entweiht, wie erniedrigt vor. Indessen da galt die Rede »vom gesprochenen Wort und geworfenen Stein,« es ließ sich nicht mehr ändern. Als er, um sein Haar zu ordnen, in den Spiegel sah, bemerkte er, daß sein Gesicht von den Tannennadeln arg zerkratzt war.
Unten im Saale fand er Onkel Konrad vor, nach dem schon in der Nacht geschickt worden war. Er begrüßte Heinz in seiner kalt-höflichen Weise und beruhigte ihn über den Zustand des Freundes: »Es ist eigentlich ganz unnütz, daß ich gerufen bin,« sagte er, »Lelia versteht das Handwerk fast so gut wie ich. Dein Freund wird binnen Kurzem gesund sein, zumal wenn es Dir gelingt, seine Mutter noch einige Tage vom Krankenbette fern zu halten. Das, was er gegenwärtig braucht, ist gute Pflege, die er hier findet, und Ruhe, die Du ihm schaffen mußt.«
Es wurde nun hin und her berathen und endlich beschlossen Frau von Balteville erst am folgenden Tage von dem Unfalle, der ihren Sohn betroffen hatte, in Kenntniß zu setzen.
Als Heinz zu Horace trat, fand er diesen bei voller Besinnung. »Gottlob, daß wir so davon gekommen sind,« sagte er. Dann machte er Heinz ein Zeichen und als dieser sich über ihn beugte, flüsterte er ihm zu: »Deine Cousine ist ein Engel. Du hättest hören sollen, mit welcher Begeisterung der Pastor in dieser Nacht von ihr sprach.«
»Ist sie denn schon bei Dir gewesen?« fragte Heinz und lächelte.
»Ja,« erwiderte Horace, »ist sie nicht wunderlieblich? Es beunruhigt mich ungemein, daß ich mich ihr so unvortheilhaft präsentiren muß. Ich fürchte, daß ich abscheulich aussehe.«
»Nun, das wird sich ja wohl nachträglich gut machen lassen,« meinte Heinz. »Hat Dir mein Onkel die Wunde an der Seite verbunden?«
»Ja, und er fand, daß sie viel gefährlicher sei, als die am Kopfe. Ich denke, Heinz, wir lassen Mama vorläufig noch nichts von unserm Unglücke wissen. Sie würde so sehr erschrecken.«
Heinz beruhigte ihn in dieser Beziehung und begab sich dann wieder in die »große Stube« zurück, wo er jetzt auch den Großvater und Lelia fand. Der erstere schüttelte ihm herzlich die Hand, die andere begrüßte ihn mit ein paar freundlichen Worten und holte dann den Kaffee. Als sie ihn gebracht hatte (die Uebrigen waren längst mit ihm fertig), setzte sie sich neben Heinz und sah ihm aus ihren wunderbar hellen Augen zu.
»Siehst Du, Heinz, nun bist Du doch einmal bei uns,« sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Ihr verwandtschaftliches, freies Wesen that ihm unendlich wohl.
»Es war thöricht von mir, daß ich nicht früher kam,« sagte er, »aber ich werde es nachholen.«
»Das ist hübsch. Dafür sollst Du auch noch eine Tasse Kaffee bekommen.«
Sie ging und holte noch eine. Dann setzte sie sich wieder zu ihm.
»Höre, Heinz,« sagte sie, »Dein Freund ist wirklich ein sehr hübscher junger Mann. Gestern sah ich nur seine Wunden, heute sah ich ihn selbst mir an, er ist wirklich sehr hübsch und zierlich.«
Heinz lächelte. »Er ist auch sehr gut.«
»Nun, das ist noch mehr. Ich dachte mir übrigens schon, daß er viel Herzensgüte besitzen müsse. Er sieht so aus.«
»Nimm's mir nicht übel, Lelia, aber darin kann man sich doch sehr täuschen.«
»Ich täusche mich nicht so leicht, Heinz. Glaube nicht, daß wir, weil wir im Walde und unter Bauern leben, ohne Menschenkenntniß bleiben. Ich denke mir, daß Mensch – Mensch ist, und daß, wer auf den Gesichtern der Armen zu lesen versteht, nicht ganz ohne Verständniß sein wird für die Schrift, welche Gedanken und Leidenschaften auf die Gesichter der Reichen geschrieben haben. Du mußt uns hier auch nicht für gar zu einfältig halten, Heinz.«
Sie lachten Beide.
Heinz begann nun den Freund zu loben und, wie das in solchen Fällen geschieht, um nur nicht zu wenig zu sagen, sagte er viel zu viel. Lelia hörte ihm aufmerksam zu und allmälig verbreitete sich immer größere Heiterkeit über ihr Gesicht, so daß Heinz auch lächeln mußte, obgleich er nicht wußte worüber. Endlich lachte sie hell auf.
Heinz wußte nicht, ob er sich ärgern oder lachen sollte, aber er entschied sich für das letztere. »Worüber lachst Du nur eigentlich?« fragte er.
»Verzeih,« sagte sie, »aber wie Du ihn schilderst, muß er ja ein Engel sein. Damit Du nun aber nicht glaubst, daß Du allein mit Engeln verkehrst, so will ich Dir jetzt meine Engel vorstellen.«
Mit diesen Worten stand sie auf, küßte den Großvater auf die Stirn, offenbar nur, um der Heiterkeit, die sie ganz erfüllte, einen Ausdruck zu geben, und ging davon. Der Großvater bog sich über die Sophalehne vor, zog den Thürflügel an sich und blickte ihr nach, bis sie auch das andere Zimmer verlassen hatte. Dann legte er seine Hand auf die seines jungen Freundes und streichelte sie sanft.
Bald kam Lelia wieder herein und führte an jeder Hand ein kleines Mädchen. Die Kinder, die ihr auffallend glichen, kamen unbefangen auf Heinz zu, ließen sich von ihm küssen und fragten dann, zu Lelia gewandt, wo denn der Engel sei.
»Der Engel kommt noch nicht zum Vorschein,« erwiderte Heinz, »er ist krank.«
»Können denn Engel auch krank sein?«
»Hat er denn auch Flügel?« fragten Beide.
»Nun, sieh Du etwas nach meinen Engeln, während ich nach Deinem sehe,« rief Lelia und ging davon. Heinz plauderte nun mit den kleinen Mädchen und da der Großvater sah, daß sein Gast angenehm beschäftigt war, so verließ auch er ihn auf ein paar Augenblicke, um Lelia zu folgen.
Die Kinder brachten Heinz ihre Puppen und wußten allerlei von ihren Vorzügen zu erzählen. Heinz sah sich unterdessen im Zimmer um. Es war ein großes, sehr langes Gemach. Die mit starkem schwarzen Leder überzogenen Stühle erinnerten in ihren steifen, geradlinigen Formen an eine Zeit, in der man weder das leichtlebige Strohgeflecht, noch die soliden Formen unserer Tage kannte. Von Thür zu Thür liefen die Versicherungsstreifen gegen schmutzige Stiefel über die Diele und eine große Schwarzwälderin tickte behäbig an der Wand, die ringsumher mit Bildern geschmückt war, auf welchen allerlei seltsame Land- und Wasserpflanzen erblühten. Zu beiden Seiten der Uhr hingen unter Glas zwei Diplome, ähnlich denen, mit welchen der deutsche Studio sein bescheidenes Gemach zu schmücken pflegt, indem er sie zugleich als Kissen für allerlei Schmetterlinge und buntfarbige Schleifen, die Ausbeute verschiedener Cotillons, benutzt. Auch mit den Ablaßzetteln, die unsere lithauischen Nachbarn, zu steter Beruhigung ihrer Gewissen, über ihrer Thür aufhängen, hatten sie Aehnlichkeit. Es waren aber weder Matrikel irgend einer Augustana oder Alexandrina, noch Ablaßzettel, sondern Preisdiplome verschiedener landwirthschaftlicher Ausstellungen, die dem Pastor bezeugten, daß er schöne Nelken und treffliche graue Erbsen producire.
Der Tag, es war ein Sonnabend, verging Heinz wie im Fluge. Er saß viel bei dem kranken Freunde, unterhielt sich über Tisch mit dem Pastor, der ihm sehr gefiel, und dem Großvater, und plauderte dann mit Lelia und den Kindern. Er konnte sich in das heitere, fröhliche Wesen der ersteren noch nicht recht finden, denn ihm schwebte noch das bleiche, in seiner Gegenwart schüchterne und schweigsame, eben aufblühende Kind vor und er theilte Lelia seine Empfindung mit.
»Du hast ganz Recht,« erwiderte sie, »ich bin jetzt viel jünger als damals. Ich weiß nicht, ob es Dir auch so geht, ob es Allen so geht, aber ich fühle mich mit jedem Tage frischer und jünger. Ich war als ganz junges Mädchen eigentlich eine alte Person und wenn das so fortgeht, so werde ich als alte Jungfer mich fühlen wie ein ganz junges Mädchen. Dieser Gedanke müßte mir eigentlich rechte Sorge machen, aber ich bin jetzt leichtsinniger als früher.«
Wo Heinz sich auch umsah, im Hause, auf dem Hofe, im Garten, überall waltete ein Geist der größten Sauberkeit, und dieser schien ihm, ebenso wie das überaus freundliche und zuvorkommende Wesen aller Leute, durchaus von Lelia auszugehen, denn daß sie die eigentliche Seele des Hauses war, sah man aus Allem. Sie war auch der allgemeine Liebling. Wenn sie über den Hof ging, so hörten die Leute für einen Augenblick mit dem Waschen oder dem Holzhacken, oder was sie sonst immer für eine Arbeit betrieben, auf und schauten ihr nach. Wenn sie spazieren ging, so ließen die Pflüger auf dem Felde die Thiere ein wenig halten und blickten hinter ihr her; wenn sie in irgend ein Gesinde trat, so liefen die Leute aus der Nachbarschaft auch herbei und vermehrten die Menge, die vor der Thür stand.
Heinz ließ es sich nicht nehmen, in der nächsten Nacht selbst bei Horace zu wachen und konnte nur mit Mühe beredet werden, um drei Uhr dem Großvater Platz zu machen. Da es schon heller Tag war, so legte er sich nicht mehr zu Bett, sondern schritt hinaus in den Wald. Als die Sonne aufging, kehrte er in's Pastorat zurück und ging in den Garten. Es war ein gewöhnlicher Obstgarten, der Boden mit grünem Rasen bedeckt, aber man gelangte von ihm aus durch ein Pförtchen in den Blumengarten, der außer kurzgehaltenen Ziersträuchern eben nur Blumenbeete enthielt, Blumenbeete voll zarter, duftiger Blumen, in deren Kelchen Thautropfen funkelten. Es war ein wunderschöner, klarer Morgen, ein rechter Sonntagsmorgen. So still und einsam war es rings umher, nur die Vögel sangen ihre Jubellieder und die kleinen Käfer liefen geschäftig über den Grandweg. Heinz setzte sich auf eine Bank, lauschte dem Vogelschlag und sog entzückt den frischen Harzgeruch ein, den ihm der kühle Morgenwind vom Walde her zuführte.
Er mochte etwa eine Stunde so dagesessen haben, als er das Pförtchen knarren hörte und den Pastor auf sich zukommen sah. »Welch schöner Morgen,« rief dieser schon aus einiger Entfernung, »es freut mich, daß Sie, wie es scheint, auch ein Freund der Morgenstunden sind. Wie viel versäumt, wer lange schläft! Wirkt doch die frische Morgenluft, die Morgenlandschaft, wie ein verjüngendes, stählendes Bad auf den Menschen, ruft doch die Morgensonne uns ein stetes ›Frischauf zur Arbeit!‹ zu, sie, die Feindin müßiger Träumereien, des fleißigen Tagewerks helle Leuchte.«
»Ja,« erwiderte Heinz, »die Morgensonne hat etwas Beglückendes. In ihrem klaren, hellen Scheine fühlen wir unsere ganze Kraft, fühlen wir, was wir besitzen. Die Gegenwart verlangt ihr Recht, während die Abendsonne oder gar ihr zarter Widerschein am Horizonte uns einlullt in süßes Träumen, in uns die schmerzlich-traute Saite der Resignation anschlägt und unseren Sinn zurückführt in die Vergangenheit, da wir entbehrten, in die Zukunft, da wir entbehren werden. Sie, als Geistlicher,« fügte Heinz lächelnd hinzu, »müßten übrigens den Abend mehr lieben, denn der Abend ist die Stunde, da wir vor unseren Hütten sitzen und Gott Einkehr hält in unsere Herzen.«
»O, nicht doch,« rief der Pastor, indem er neben Heinz auf dem Bänkchen Platz nahm, »am Abende mag der Herr vorzüglich Herberge halten im Herzen des Mystikers; der Mönch, die Nonne, der Katholik, Jeder, dessen Gottesdienst Weltflucht ist, mag am Abende die Flügel seiner Seele besser entfalten zum Fluge aufwärts; aber die Sonne des Lutherthums ist die Morgensonne, die Sonne, die die Menschen bescheint bei ihrer Arbeit, im bunten Getümmel des Tagewerks, denn nicht als Schmuck einzelner Weihestunden, nicht als Beseligung einzelner Seelen wird von uns die Religion gefaßt, nein, im Arbeiten und Schaffen, im Wetten und Wagen, im Kämpfen und Ringen, mitten im unruhigen Treiben der Welt steht unser Gott an unserer Seite. Durch die That soll unsere Liebe zu ihm sich offenbaren, nicht von der Andacht durchschauert, sondern von der Idee begeistert sollen wir an Gottes Reich bauen.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte der Pastor: »Sind Sie ein Blumenfreund?«
»Ich darf mich eigentlich nicht als solchen bezeichnen,« erwiderte Heinz, »denn ich habe weder rechte Kenntnisse in dieser Richtung, noch habe ich je Gelegenheit gehabt, mich praktisch mit Blumenzucht zu beschäftigen. Ich liebe indessen die Blumen, wie ein Mensch von Gefühl die Musik.«
»Es sollte mich freuen,« versetzte der Pastor, »wenn es mir gelänge, Ihnen Geschmack an der Pflege der Blumen beizubringen. Man hat viel reine, schöne Freuden bei dieser Beschäftigung und dem Landwirthe zumal wird sie eine Quelle schönen Genusses, wenn er sieht, wie sein Beispiel, wie ein paar von ihm geschenkte Blumenstöcke vielleicht Anlaß dazu geben, daß auch im benachbarten Gesinde neben dem Frucht- und Gemüsegarten ein Plätzchen sich findet für die bunten Lieblinge Gottes – die Blumen, als ein Zeichen, daß der Sinn der Hausfrau nicht mehr einzig und allein auf den Erwerb gerichtet ist. Man erwirbt ja in unseren Tagen ohnehin so viel und genießt so wenig.«
Sie standen auf und wandelten durch den Garten. Der Pastor nannte Heinz manche, ihm fremde Blume und machte ihn auf die Schönheit einzelner Exemplare aufmerksam.
»Ich pflege,« sagte er, »an jedem Morgen, ehe ich mich an die Arbeit begebe, auf ein Viertelstündchen hierher zu kommen und mit meiner Nichte ein paarmal auf und nieder zu gehen. Es sind das stets sehr schöne Augenblicke. Mich wundert's, daß Lelia noch nicht hier ist. Aber nun müssen wir zu den Bienen. Sie wissen ja, die sind bei meinem Vater Parade- und Steckenpferd zu gleicher Zeit.«
Der Pastor führte seinen Gast nun in den Bienengarten und Heinz bewunderte die künstlichen Bienenkörbe und schaute durch das Glasfenster den fleißigen Thierlein zu, während sein Begleiter ihm von den neuesten Fortschritten auf diesem Gebiete erzählte.
»Die Bienenzucht ist jetzt auch eine große Kunst geworden,« sagte dieser, »und wir betreiben sie, wie es dem Ebenbilde des Weltenlenkers, dem Menschen, geziemt. Die Natur beschenkt uns nicht mehr, nein, sie gehorcht uns und wird von uns regiert.«
Sie betraten dann den Hofplatz, auf dem prächtige alte Linden, einzeln und zu fünf zusammengepflanzt, ein paar Gruppen bildeten. Unter der Baumkrone der einen derselben war der Kaffeetisch gedeckt und Lelia wartete dort auf den Onkel. Schon ganz angekleidet, sah sie wunderbar hübsch aus in ihrem einfachen, weißen Gewande.
»Onkel hat Dir wohl seine Blumen gezeigt,« sagte sie, »auf die ist er recht stolz.«
»Und, wie mir scheint, mit Recht,« erwiderte Heinz.
»Es sind eben nicht sehr seltene Gattungen,« meinte Lelia; »aber unsere Nelken sind in der That recht schön, auch haben wir prächtige Rosen.«
Sie ging nun hinein, um den Großvater zu rufen und seine Stelle durch eine Magd ersetzen zu lassen. Der Großvater brachte gute Nachricht und setzte sich dann auf den Stuhl seines Sohnes, der sich in sein Arbeitszimmer begab, um die Namen der Bauern, die sich zum Abendmahle meldeten, aufzuschreiben.
»Wie schön und still lebt Ihr hier!« rief Heinz und drückte des Großvaters Hand. »Wer sollte in diesen Wäldern ein solches Paradies vermuthen.«
»Sage nicht Paradies, Heinz, auf Erden giebt es kein Paradies; aber ein stilles, friedliches Nestchen ist das Waldhof, und wir haben alle Ursache, Gott dafür zu danken, daß er es uns so gut werden ließ. Meine Tage sind gezählt, gebe der Herr, daß auch die Meinigen hier ein seliges Ende finden.«
»Nun, Großvater, Du bist noch ein rüstiger Greis. Du solltest nicht so reden.«
»Ich bin allerdings, Gott sei Dank dafür, noch weit über Erwarten stark und rüstig, aber trotzdem sind meine Tag gezählt. Noch ehe man den Hafer schneidet, werde ich vor Gottes Thüre stehen und um Einlaß bitten.«
Heinz widersprach, aber der Alte blieb bei seiner Meinung. Dann schwiegen Beide.
Ueber den Platz schritt von Zeit zu Zeit ein Bauer oder eine Bäuerin und trat in das Haus, andere verließen es. In dieser Waldgegend hatten sich die alten Volkstrachten noch erhalten: die eng anliegende, hellgraue oder hellbraune Jacke, das bunte Gewand bei den Frauen, der lange, hellgraue Rock, der runde Hut mit der Troddel und die Pasteln D. h. Bastschuhe. als Fußbekleidung bei den Männern. Alle sahen ernst und festlich aus. Sie trugen dicke Gesangbücher mit blanken Ecken und Klammern unter dem Arme, und wenn sie am Kaffeetische vorübergingen, grüßten sie mit freundlichem Nicken. Viele kamen auch zu Pferde. Diese banden dann ihre kleinen, munteren Thiere an eine, zu diesem Zwecke neben der Hausthür angebrachte Querstange und verließen sie dann getrost. Ueber der Hausthür hatte ein Schwalbenpaar sein Nest gebaut. Die Thierchen flogen unbefangen hin und her und ließen sich durch die vielen fremden Menschen, die im Hause aus- und eingingen, durchaus nicht stören. Wußten sie doch, daß des Pastorates geweihter Friede sie vor jeder Rohheit schützte.
Auf dem Dache des Wohnhauses girrten hübsche Tauben, während andere zutraulich um den Tisch spazierten und die Brosamen, die unter demselben lagen, aufpickten. Die meisten waren ganz weiß, andere hatten schwarze oder braune oder gelbe Köpfchen und alle mußten das Entzücken jedes Kenners sein.
Auf das Stalldach flog der Storch, bog den Kopf weit zurück auf den Rücken und begrüßte laut klappernd die Gattin im Neste.
Auf den wies Heinz und sprach: »Wie muß es dem da schwer fallen, Euch im Herbste zu verlassen!«
»Er geht nur, um wiederzukommen,« versetzte der Großvater, »das ist in der Abschiedsstunde ein großer Trost.«
Nun trat auch Lelia inmitten ihrer kleinen Pflegebefohlenen aus dem Hause. Die Kleinen waren im schönsten Sonntagsstaate, mit zierlich geflochtenem Haar und netten Kleidern. Sie eilten auf die Beiden zu und küßten sie.
»Wie fängst Du es nur an,« fragte Heinz, während Lelia weiße Krüglein mit Milch füllte und zu jedem ein Stück Schwarzbrod legte, »wie fängst Du es nur an, daß die Kinder so gar nicht blöde sind? Bei dem einsamen Leben, das Ihr führt, muß das doch recht schwer sein.«
»O nein,« erwiderte Lelia, »es ist das auch nicht unser Verdienst, sondern hat sich ganz von selbst so gemacht. Den Grund möchte ich darin suchen, daß die Kleinen stets mit uns Erwachsenen zusammen sind. Was hat ein Kind auch für Veranlassung, befangen zu sein, denn weder kann es die große Ueberlegenheit anderer Menschen verstehen, noch hat es zu befürchten, daß seine Handlungen mißdeutet werden.«
»Du warst freilich auch nie blöde,« bemerkte Heinz.
»Nein, so viel ich mich entsinne, niemals.«
In der Ferne ertönten die Kirchenglocken.
»Wenn es Dir recht ist, Heinz, so gehen wir zu Fuß zur Kirche,« sagte Lelia, »sie ist kaum eine Werst von uns entfernt.«
Heinz erklärte sich bereit, denn der Großvater blieb bei Horace, und so war dieser in den besten Händen. Lelia holte sich Hut und Sonnenschirm, reichte Heinz ein Gesangbuch und übertrug einer ältern Magd die Aufsicht über die Kinder.
»Begleiten die Kinder uns nicht?« fragte Heinz.
»Nein, wir finden, daß man nicht damit anfangen darf, den Kleinen den Gottesdienst zu verleiden, und das muß doch geschehen, wenn man sie zu einer Zeit in die Kirche bringt, in welcher sie ihn nur als eine Stunde langweiligen Stillsitzens auffassen können. Der Gottesdienst der Kinder ist das Morgen- und Abendgebet.«
Sie gingen nun durch den Wald. Der Weg war sehr sandig und die Hufe der Pferde, auf denen die Bauern ritten, traten Löcher in den Sand, aber die Beiden schritten rüstig weiter und erreichten bald die Kirche. Diese war viel kleiner, als unsere Landkirchen sonst zu sein pflegen und auch nicht eben architektonisch schön; nur der Thurm war hoch und schlank.
Vor der Thüre kamen viele Bäuerinnen und mancher greise Bauer auf Lelia zu und sie fragte jeden nach Diesem oder Jenem, hatte für jeden ein freundliches, herziges Wort, die Eine mußte von ihrer kranken Tochter erzählen, die Andere von ihrem Manne, diese fragte sie nach dem Stande des Feldes, für welches sie die Erbsensaat aus dem Pastorat erhalten hatte, jene, die in der Stadt gewesen war, nach den Preisen für Milch und Butter, wieder Eine nach Obstbäumen und Bienen.
Das Kirchlein war in seinem Innern so schlicht und einfach, wie in seinem Aeußern. Es war gedrängt voll, aber Alle machten Lelia ehrerbietig Platz, die nun Heinz verließ und sich links zu den Frauen und Mädchen wendete, während er sich rechts setzte.
Nun wurden ein paar lange Lieder gesungen und dann betrat der Pastor die Kanzel. Er sprach sehr schön, einfach und allgemein verständlich und doch voll Feuer und Eigenartigkeit. Heinz freilich hörte kein Wort davon. Mit gesenktem Haupte saß er da und blickte auf den Sonnenstrahl zu seinen Füßen nieder, während aufregende Gedanken seinen Sinn bewegten.
Seit seiner Trennung von Anna hatte er keine Orgeltöne gehört, jetzt riß ihr Klang die alten Wunden seines Herzens wieder auf. Wie oft hatte er so dagesessen, in dem kleinen Kirchlein in Deutschland und hatte den überirdischen Tönen gelauscht, wie sie so gewaltig, so erschütternd dahinbrausten. Ach, die Hände, die jene Töne hervorriefen, waren längst erstarrt, das leuchtende, schwermüthige Auge längst erloschen, das holde, traurige Antlitz längst ein Raub des Todes. Er erkannte den Choral, den die andächtige Gemeinde jetzt so laut und häßlich sang – es war einer ihrer Lieblingschoräle gewesen. Tiefer und tiefer beugte er das Haupt unter der schweren Last bitterer Erinnerung. Nicht, daß sie todt war, drückte ihn, die Todten sind ja glücklich, nein, daß er es gewesen war, der den ohnehin so zarten Lebensfaden zerrissen hatte. Auf ihrem Grabe hatte er hoch und heilig gelobt, zu leben, in ihrem Sinne zu leben. Hatte er das gethan? Ja und auch nein. Er war in seinem neuen Berufe eisern fleißig gewesen, aber konnte er in diesem Beruf überhaupt das Höchste leisten? Unruhig schwankte sein Geist hin und her und konnte keine Lösung finden.
Endlich schloß der Pastor die Predigt und Heinz fuhr aus seinem Sinnen auf. Es folgte eine lange Reihe Bekanntmachungen und zum Schluß sprach der Pastor das Vaterunser. Man kann das sehr verschieden sprechen, wie der Pastor es sprach, umfaßte es die ganze Welt unseres Hoffens und Fürchtens.
Nun strömten Alle zur Kirche hinaus und Lelia und Heinz warteten am Ausgange auf den Pastor. Sie standen schweigend neben einander. Heinz war die Seele noch voll von dem Nachklange seiner traurigen Gedanken, Lelia betrachtete unruhig und besorgt den tiefen Ernst und die Schwermuth auf den schönen Zügen des Vetters. Was drückte ihn nur? Ihr war sein Gesicht kein fremdes, denn in der langen Zeit, in der er ihrer, erst in einem bunten, wechselvollen Leben, dann in den Banden einer ihn ganz beherrschenden Leidenschaft, fast kaum gedacht hatte, lebte sie still und ruhig und hatte Zeit gehabt, an die wenigen Personen, die ihre Erinnerung ausmachten, immer und immer wieder zu denken. Sie kannte dieses Gesicht noch ganz genau, sie entsann sich noch sehr wohl, wie froh es aussah in der Freude, wie furchtbar im Zorn und in der Leidenschaft, wie kalt und abstoßend gewöhnlich, aber sie hatte es nie leidend und traurig gesehen und sie hatte nie daran gedacht, daß es auch fähig sei, diesen Stempel zu tragen. Es lag ein Zug von Schmerz und Resignation darin, der so gar nicht zu ihm zu passen schien, daß sie mit richtigem Gefühl daraus schloß, daß schwere Seelenleiden ihren Vetter heimgesucht haben mußten.
Es lag ihr fern, ihm ihr Mitleid aufzudrängen, aber sie war innerlich voll Theilnahme und Mitgefühl.