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2.
»I. G. Deutschland.«

Perspektiven

Es ist ein freundlicher Brauch, eine historische Abhandlung damit ausklingen zu lassen, die Perspektiven des künftigen Geschehens zu umschreiben. Bei aller festen Überzeugung, die Dinge der Zeit unter dem richtigen Blickwinkel zu betrachten, scheint es fast unmöglich, Prognosen zu stellen. Denn das politische Geschehen ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten.

Wie wird die weitere Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland aussehen? Wieweit wird es den Propagandisten des Dritten Reichs gelingen, ihren nebulosen Wunschvorstellungen Geltung und Wirksamkeit zu verschaffen? Diese Fragen dürfen als müßig bezeichnet werden. Die einzige Prognose, die man der Zukunft des Nationalsozialismus mit Bestimmtheit stellen kann, ist die folgende: wird der Lärm der Gazetten auch noch so laut die NSDAP umbranden, und mag eine Welt sich in dem Wahn wiegen, vom Zucken der Augenbrauen des Münchener Diktators hinge Wohl und Wehe von Generationen ab – der innere Wert und die historische Bedeutsamkeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei wird immer im umgekehrten Verhältnis stehen zu der öffentlichen Beachtung, die sie findet.

Es mußte im Verlauf unserer Untersuchungen immer wieder darauf hingewiesen werden, daß die Revolutionierung des Kleinbürgertums zwangsläufig bei der Vertretung der Interessen der herrschenden Klasse endet. Es mußte immer wieder gesagt werden, daß die NSDAP aus eigener Kraft nur sehr beschränkte Lebensfähigkeit hat, und daß sie ihr Gewicht erst durch Triebkräfte erhält, die außerhalb ihrer Parteiorganisation und ihres Parteiprogramms liegen.

Von der Demokratie zur Diktatur

Die allmähliche, pseudo-legale Überführung des demokratischen Regimes in die Diktatur, der Prozeß der Fascisierung Deutschlands, das langsame Abbröckeln des Konkurrenzkapitalismus und die von Tag zu Tag wachsende Macht des Trustkapitals sind der Boden, auf dem die nationalsozialistische Agitation hat Wurzel schlagen können. Und in diesem Überleitungsprozeß hat die NSDAP eine Rolle zu spielen, die ihr von ihren hochkapitalistischen Gönnern und Auftraggebern diktiert worden ist. Zu Ende des Jahres 1931 haben der Geheimrat Hugenberg und der Justizrat Claß innerhalb der NSDAP mehr Einfluß als die Diktatoren der Partei. Werden diese Fascisierungstendenzen nicht rechtzeitig durch politische Gegenwirkungen paralysiert, so wird das Trustkapital bestimmen, wie die Entwicklung des Nationalsozialismus in den nächsten Jahren in Deutschland aussehen wird.

Aber sind in dem politischen Gefüge der Diktaturrepublik Deutschland Kräfte zu erkennen, von denen energische Impulse zur Unterbrechung oder Überwindung des Fascismus ausgehen werden? Die Analyse der antifascistischen Front wird dadurch erschwert, daß dem äußeren Anschein nach die NSDAP von den bürgerlichen Parteien der Mitte und der Linken heftig bekämpft wird. Man darf sich aber von diesem äußeren Anschein nicht täuschen lassen: diese Kampfstellung gegen den Nationalsozialismus richtet sich lediglich gegen deren exzessiven antisemitischen und chauvinistischen Charakter, denn es werden weder die engen Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Trustkapital erkannt, noch will man sich zur Anerkennung der Identität von Fascismus und Monopolkapitalismus entschließen.

Gibt es noch eine deutsche Republik?

Es heißt Ursache und Wirkung miteinander verwechseln, wollte man hoffen, den Nationalsozialismus überwinden zu können, ohne die heutige soziale Struktur der deutschen Republik anzutasten. Möglichkeiten zu einer erfolgversprechenden Abwehr des Fascismus bietet lediglich eine Volksbewegung, die von der Erkenntnis der ökonomischen Grundlagen des Nationalsozialismus ausgeht. Diese politische Gegenströmung darf und wird freilich nicht bei den Symptomen haltmachen, sondern wird bis an den Herd der Krankheit vordringen ...

Sommer 1931.

Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine neue Notverordnung Eckstein um Eckstein aus dem Gebäude der Weimarer Verfassung bricht. Und der Reichstag ist zu politischer Ohnmacht verurteilt. In panischer Ratlosigkeit erstarren die republikanischen Parteien.

Keine Notverordnung, die nicht wieder dem Staat die einschneidendsten Eingriffe in das wirtschaftliche Leben des deutschen Volkes gestattet. Lasten um Lasten werden auf die breite Masse abgewälzt, der die Notverordnungen das Recht genommen haben, gegen die täglich wachsende Bedrückung aufzubegehren und auf die inneren Ursachen ihrer ungeheuren Verelendung hinzuweisen.

Wer ist »der Staat«, dessen rücksichtslose Allgewalt gigantische Ausmaße anzunehmen beginnt? Glaubt man in ihm immer noch an die »Verwirklichung einer sittlichen Idee«? Wer regiert eigentlich in Deutschland?

Es ist schwer und fast unmöglich, auf diese Frage eine Antwort zu geben, die sich im Rahmen der Gesetze der demokratischen deutschen Republik hält.

Wer regiert eigentlich in Deutschland?

Am 25. Juli 1931 brachte das demokratische »Berliner Tageblatt«, eine der wenigen deutschen Zeitungen, die Weltgeltung besitzen, einen Leitartikel, dessen Hauptsätze hier folgen mögen:

»Wer regiert heute in Deutschland? Die Parteien sind es bestimmt nicht. Auch die großen Wirtschafts- und Wehrverbände haben heute weniger zu sagen denn je. Die Herrschaft des Kabinetts Brüning im Reich und, ihm sekundierend, des Systems Braun in Preußen scheint unumschränkt zu sein. Gewisse Symptome deuten aber daraufhin, daß anonyme Kräfte, großkapitalistische, großindustrielle Kräfte, ihren Einfluß auf das Kabinett Brüning mehr und mehr verstärkt haben ... Wer regiert heute in Deutschland? – Als die Notverordnung von Anfang Juni herausging, die eine außerordentliche steuerliche Bevorzugung des Produktivkapitals gegenüber allen übrigen Kapital- und Einkommenarten festsetzte, hat einer der wirklich Eingeweihten in einem Zeitungsartikel geschrieben: »Wer hinter die Kulissen sehe, der könne erkennen, welchen außerordentlichen Einfluß die Großindustrie auf die Formulierung des Gesetzestextes genommen habe«. Und das geschah bei einem Kabinett, das sich stets für das kleinere und mittlere Unternehmertum, für die selbständigen Kräfte in der Wirtschaft und gegen die großen Trust- und Konzerngewalten ausgesprochen hat! Diese Notverordnung brachte der chemischen Großindustrie, also der I. G. Farben, die Verwirklichung zweier Spezialwünsche: nämlich die Heraufsetzung des Benzinzolls, der als Finanzzoll gedacht war, aber nun – da keine Ausgleichsabgabe erhoben wird – als reiner Schutzzoll wirkt, und die Einführung von Stickstoffzöllen.

Großindustrie und Notverordnung

Allein der Benzinzoll bringt der I. G. neun Millionen Mark Mehrerlös. Auch die übrigen Gruppen der Großindustrie sind durch jene Notverordnung, die der gesamten übrigen Bevölkerung schwere Opfer auferlegte, beschenkt worden: im Arbeitsbeschaffungsprogramm, in der Eröffnung der Möglichkeit, die Soziallasten des Kohlenbergbaues zu senken. Wenige Tage später ist an die Firma Borsig eine größere Summe aus Reichsmitteln gezahlt worden – nicht als Subvention, wie es hieß, sondern als Vorschuß für später zu bewirkende Lieferungen an Reichsbehörden ... Senkung der Löhne, der Gehälter, der Sozialleistungen, radikaler Abbau der öffentlichen Ausgaben, partielle Enteignung des Privatkapitals und Bankkapitals zugunsten des Werkkapitals oder vielmehr zugunsten der Arbeitsfähigkeit der Betriebe: so sieht in dürren Worten das Programm jener entschiedensten und radikalsten Teile der Industrie aus. Die Repräsentanten dieser Auffassung finden sich beim alten Besitz der Schwerindustrie, mehr noch vielleicht in den jungen, technisch vollkommenen und finanziell intakten Großindustrien, und bei der jungen Generation, die überall in den Betrieben steckt ... Im übrigen sind die entfesselten nationalen Instinkte im Inneren die beste Schutzwehr gegen den ›Marxismus‹, der allein jene Entwicklung zur Werksherrschaft hin stören könnte. Mit dem Stahlhelm und mit den Nationalsozialisten kommt man gut aus: die christlichen Gewerkschaften stören nicht, wie man hofft, und mit den Kommunisten gedenkt man fertig werden zu können ... Man soll nicht prophezeien. Dagegen muß man versuchen, das Gegenwärtige klar zu erkennen. Und in der Gegenwart marschiert der Geist von Leuna, der Werksgeist, der am Werke ist, aus unserem Vaterland eine I. G. Deutschland zu machen.«

I. G. Deutschland

Bedarf es anderer Kronzeugen als dieser erschütternden Darstellung eines republikanischen Weltblatts? Darf man angesichts solcher Tatsachen noch fragen, wohin der Weg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei führen wird, auf dem sechs Millionen hoffnungsloser, verzweifelter, von apokalyptischen Ängsten gepeitschter deutscher Bürger dem großen Gaukler Hitler nachtaumeln?

Zur I. G. Deutschland.

Zur hemmungslosen Diktatur des Trustkapitals. Zum blutigen Schreckbild des deutschen Fascismus ...

Kann dieser Entwicklung Einhalt geboten werden?

*

 


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