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»Sie haben kein Recht, uns sozialistische Bestrebungen vorzuwerfen.«
Reichstagsabgeordneter Gottfried Feder
Das ökonomische Fundament
Der große, schöne Traum von einem heiligen deutschen Reich, in dem jeder einzelne Volksgenosse nur für das Ganze und durch das Ganze da ist, das Gartenlaubenideal der großen deutschen Volksgemeinschaft, unter dessen Zwang sich während des Weltkrieges das deutsche Volk so organisch in Kriegsgewinner, Etappenoffiziere und Frontschweine teilte, es soll Wirklichkeit werden durch die Arbeit der NSDAP.
Kann ein Gebilde, in dem die widerstrebendsten wirtschaftlichen Interessen durch eine verschwommene Ideologie notdürftig aneinandergekittet sind, auf die Dauer Bestand haben? Wird der Unternehmer und der Proletarier, der Großgrundbesitzer und der Landarbeiter, der General und der Handlungsangestellte friedlich Schulter an Schulter am Ausbau des Dritten Reichs arbeiten können?
Die geschichtliche Erfahrung spricht gegen diese Annahme. Aber der Nationalsozialist will uns zwingen, zu glauben, daß mit dem Erscheinen des Nationalsozialismus auf der welthistorischen Bühne Analogien und Rückschlüsse unmöglich gemacht sind. Deshalb sträubt er sich gegen den Vergleich mit der christlichsozialen Partei Stöckers. Deshalb will er nichts mit dem politischen Antisemitismus des Kaiserreichs gemein haben. Deshalb versinkt seine Skepsis in dem wilden Schwall idealistischer Begeisterung. Wird sie Bestand haben?
Skandale
Man spricht viel von Zersetzung. Man rechnet damit, daß die NSDAP irgendwann einmal an ihren inneren Widersprüchen zugrunde gehen wird. Gewiß: es muß in diesem Zusammenhang von dem Wirrwarr persönlicher Gehässigkeiten und Ehrgeize gesprochen werden, der um die Person Adolf Hitlers brodelt; es wird zu sprechen sein von dem Schicksal der Sturmabteilungen, die die Luft der Illegalität zum Leben brauchen und das Majoritätsprinzip der Parteileitung ablehnen. Es wird zu sprechen sein von ihren antikapitalistischen Neigungen und den Explosionen, zu denen sie geführt haben. Aber man täusche sich nicht: das Schicksal der NSDAP und der Angelpunkt ihrer künftigen Entwicklung kann nicht in der Partei selbst gefunden werden, sondern in den ökonomischen Verhältnissen, in die sie, wie alles politische Geschehen, gestellt ist ...
Man braucht nicht in den Fehler zu verfallen, in jeder Skandalaffäre eines nationalsozialistischen Führers den Anbruch der Katastrophe der NSDAP zu erblicken. Man braucht nicht mit ironischem Lächeln auf die mangelnden geistigen Qualitäten eines großen Teils jener 107 Abgeordneten hinzuweisen. Aber man darf doch sagen, daß es in keiner anderen politischen Partei in Deutschland jemals soviel widerwärtige und sinnlose Zänkereien unter den Führern gegeben hat. Es ist bezeichnend, daß es bei der Parteizentrale in München einen eigenen »Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß« gibt, der ständig vollauf zu tun hat. Noch bezeichnender, daß der General a. D. Heinemann den Vorsitz in diesem Ausschuß niederlegte, als wieder einmal Adolf Hitler die Verfehlungen eines nationalsozialistischen Oberführers deckte. Man könnte ein ganzes Buch allein mit jenen kindischen »Richtungskämpfen« innerhalb der NSDAP füllen, in denen sich der hemmungslose Geltungshunger der Führer des Dritten Reichs austobt.
Der Klumpfuß des Herrn Goebbels
Nur einige Proben von dem Geist, der in Hitlers nächster Umgebung herrscht: die Männer, denen angeblich einzig und allein die Rettung Deutschlands am Herzen liegt, haben Zeit genug für die leidenschaftlichsten Intrigen. Weigand v. Miltenberg, der bereits mehrfach zitierte revolutionäre Nationalist, gibt davon ein anschauliches Bild: »Zwischen der Mehrzahl der Führer herrschen grimmige, von Hitler niemals behobene, sogar mit Bedacht genährte Feindschaften. Straßer und Goebbels sind seit Bamberg Feinde bis aufs Messer. Beide bezeichnen einander als ›Judenstämmlinge‹ (der schwerste und daher gebräuchlichste Vorwurf in der NSDAP). Um ein Gebrechen des Dr. Goebbels (Klumpfuß) hat jahrelang ein wüster Kampf getobt, da die Brüder Straßer behaupteten, es sei ein Geburtsfehler, was Goebbels natürlich bestritt. Bestreiten mußte, da die nationalsozialistische Rassenlehre derartige Gebrechen für ein Zeichen der Minderwertigkeit nimmt. Goebbels Rednereitelkeiten wurden jedesmal von den Straßers freudig auf die Nadel gespießt, wozu sie bei Goebbels' Trieb, den Heros zu spielen, oft Gelegenheit hatten. Die nachweislich erlogene Behauptung des Dr. Goebbels, er habe im Ruhrkampf in einem belgischen Gefängnis vierzehn Tage lang Peitschenhiebe erdulden müssen, hat wochenlang die gesamte deutsche Presse beschäftigt. Die anderen ›Ausgleichskämpfe‹ spielten sich mehr hinter dem Parteizaun ab. So verkehren zum Beispiel der Direktor des Parteiverlages Amann und der Chefredakteur Alfred Rosenberg seit Jahren nur noch brieflich, und zwar über Hitler (!). Amann, im Kriege Hitlers Kompagniespieß, nennt Rosenberg nur noch den ›größenwahnsinnigen Balten‹, was dieser mit einem ›aufgeblasenen Feldwebel‹ quittiert. Wenn Rosenberg im Zuge ist, nennt er auch Herrn Esser, den Leiter des nationalsozialistischen ›Illustrierten Beobachter‹, einen ›Lügner‹, ›Betrüger‹ und ›Zuträger an die jüdische »Frankfurter Zeitung«‹. Im nächsten Zimmer wirft der bayerische Landtagsabgeordnete Buttmann dem Julius Streicher aus Nürnberg an den Kopf, daß er Parteigelder vom letzten Reichsparteitage falsch quittiert habe ... Symptomatisch sind all diese Dinge nur darum, weil Hitler niemals auch nur versucht hat, die Korruptionsdecke energisch abzustreifen. Sein System könnte ohne sie nicht existieren ...
Kleine Zänkereien erhalten die Freundschaft
Das sind keine Zufälligkeiten: die NSDAP ist zu jung. Diese Männer sind fast alle zu früh zu Macht und Ansehen gelangt. Der Erfolg hat sie berauscht, die Mühelosigkeit ihres Aufstiegs sie skeptisch gemacht, unsicher, mißtrauisch. Irgendwo ist in ihnen die wache Angst, dies alles könnte eines Tages vorbei sein. Der »Frontgeist« der Kameradschaftlichkeit, der die ersten Anhänger der Deutschen Arbeiterpartei beseelt haben soll, ist längst dahin. Jeder glaubt sich gegen jeden wehren zu müssen. Jeder vermutet in dem Nebenmann den glücklicheren Konkurrenten im Wettlauf um die Gunst Hitlers ...
Da man nicht im entferntesten mit einem derartigen Wahlerfolg gerechnet hat, hatte man manche Kandidaten, die keineswegs die Qualifikation zum Parlamentarier besaßen, nur pro forma aufgestellt. Nun sind diese Männer Abgeordnete und müssen von der Fraktionsleitung mit durchgeschleppt werden.
Korruption der Antikorruptionisten
Der aus der Partei ausgeschlossene Nationalsozialist Dr. Dinter, der Verfasser des berüchtigten Romans »Die Sünde wider das Blut«, erzählt in seiner Zeitschrift »Geistchristentum« Wunderdinge von dem System Hitler, das jeden aufrechten Mann korrumpiere und ihn zu einem skrupellosen Stellenjäger und Konjunkturisten mache. Es lohnt sich, in der NSDAP ein Amt zu bekleiden: die einzelnen Gauführer erhalten ein Monatsgehalt, das über tausend Mark beträgt. Honorare für Reden in Massenversammlungen, Sondervergütungen für journalistische Arbeiten, wozu bei vielen leitenden Funktionären die ebenfalls recht erheblichen Abgeordnetendiäten kommen, das alles erzeugt eine Atmosphäre der Streberei und des Denunziantentums, die durch Welten getrennt ist von jener fundamentalen These des Parteiprogramms »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«.
Otto Straßer gibt in seiner Rechtfertigungsschrift einen sehr bezeichnenden Passus seines Gespräches mit Hitler wieder; Hitler weist den Abtrünnigen auf seinen Bruder Gregor hin, der sich löblicherweise der höheren Einsicht des Parteiführers unterworfen habe, und Otto Straßer darf es wagen, ihm folgende Frage zu stellen, auf die er keine Antwort erhält: »Glauben Sie, Herr Hitler, mein Bruder wäre bei Ihnen geblieben, wenn er nicht finanziell von Ihnen abhängig wäre?«
Gregor Straßer haßt Goebbels, der Osaf-Stellvertreter Ost, Hauptmann Stennes, kann den Osaf von Pfeffer nicht ausstehen, der Führer des Gaus Hannover hält den des Gaus Ruhr für einen Spitzbuben, einer verklagt den anderen beim »Uschla«, gebrochene Ehrenwörter, Fehlbeträge in der Gaukasse, Urkundenfälschungen, Sittlichkeitsvergehen, es gibt kaum ein Verbrechen, dessen sich diese Führer des Dritten Reichs nicht gegenseitig bezichtigen.
Divide et impera
Und über diesem Getriebe thront in unnahbarer Hoheit Adolf Hitler, spielt den einen Unterführer gegen den anderen aus und sieht in deren Eifersüchteleien das beste Mittel zur Sicherung seiner Autokratie: ein getreuster Schüler des Hauses Habsburg und dessen Politik der unentschlossenen Bauernschlauheit, die manchmal doch zum Ziele führt.
Aber Zersetzung? Hin und wieder spielt sich hinter den Kulissen einmal eine Palastrevolution ab, die auch vor dem Vorhang zu bemerken ist. Dann wird dieses kleine Malheur in der Öffentlichkeit maßlos überwertet, weil man nicht sehen kann, daß Derartiges in der NSDAP zu den Alltäglichkeiten gehört. Wie sollte es anders sein? Der soziologische Mischmasch der NSDAP ist der Ausbildung eines politischen Ethos so abträglich wie nur möglich. Das Fehlen jeglicher philosophischer Fundierung des Parteiprogramms hindert die Einsicht in das zu erstrebende Ziel, unter dem sich von vier Nationalsozialisten drei etwas Verschiedenes vorstellen. Aber all das hat es von Anbeginn der NSDAP an gegeben, ohne daß es den Massenerfolg gehindert hätte. Betrachtet man die Partei lediglich unter psychologischem oder ideologischem Gesichtswinkel, mag man freilich zu der Ansicht gelangen, die Kabalen und Intrigen in Adolf Hitlers Hofstaat könnten über kurz oder lang zu einer Zersetzung der NSDAP von innen heraus führen. Aber dieser Gesichtswinkel ist falsch gewählt.
Wesentlich anders verhält es sich bei der Bewertung der Konfliktsstoffe, die zur Zeit der Legalität in der bloßen Existenz der Sturmabteilungen liegen, in denen vorzugsweise die proletarischen Elemente der Partei organisiert sind.
Der Stoßtrupp des Dritten Reiches
Schon im Jahre 1923 hat das Schwergewicht der Bewegung in den proletarischen Sturmabteilungen gelegen, deren Aggressivität und Entschlossenheit die zivilen Parteistellen mitriß. Es ist festzustellen, daß im Laufe der Jahre jeder Nationalsozialist, der noch ernsthaft an die Möglichkeit einer »Deutschen Revolution« glaubte, sich die SA zum Feld seiner Tätigkeit aussuchte. So sind diese Organisationen mehr und mehr zu einem derartigen Machtfaktor geworden, daß sich in der Vorstellung der Allgemeinheit die Begriffe NSDAP und SA miteinander vermischen.
Soziologisch gesehen sind die SA das Interessanteste an der ganzen nationalsozialistischen Bewegung. Von ehemaligen Offizieren geleitet, die ihre Erfahrungen in den Revolutionskämpfen jetzt in den nationalsozialistischen Straßenschlachten gegen Kommunisten und Sozialdemokraten anwenden, umschließen sie in ganz Deutschland etwa achtzigtausend »wehrhafte Männer«, die zum größten Teil proletarischer Herkunft sind. Aus dieser unbestreitbaren Tatsache wird von Nationalsozialisten gern der Schluß gezogen, daß ihre Argumentationen von besonderer Wirkung auf Proletarier sein müssen. Man übersieht dabei eines: jeder SA-Mann erhält für die Zeit, in der er »Dienst tut« eine Entschädigung. In einzelnen bekanntgewordenen Fällen beläuft sich dieser Sold auf vierzig Mark in der Woche. Es braucht nicht auseinandergesetzt zu werden, was dieses Geld für einen halbverhungerten Proletarier an Beweiskraft bedeutet, der ohne seine Zugehörigkeit zur SA vielleicht mit acht bis zehn Mark Arbeitslosenunterstützung in der Woche auskommen müßte. Von dem »SA-Proleten« wird außerdem keineswegs die Aufgabe seiner Klasseninteressen verlangt. Im Gegenteil: ihm wird fortwährend klargemacht, daß er mitarbeitet an der Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats, wenn er für das Dritte Reich kämpft.
Hitlers Bürgerkriegsarmee
Die SA sind ihrer Geschichte und ihrem Zweck nach ausgesprochene Bürgerkriegsformationen, deren Aufgabe die Durchführung der nationalsozialistischen Revolution sein sollte, der Stoßtrupp gegen den »marxistischen Terror«. Der Oberste Sturmabteilungsführer (»Osaf«) Pfeffer von Salomon beschreibt in einem Brief vom 13. Oktober 1928 den Daseinszweck der SA folgendermaßen: »Wir stehen auf dem Standpunkt, daß die SA als die Trägerin der zukünftigen Wehrmacht so ausgebildet und so organisiert werden muß, daß schon heute langsam, aber stetig und unaufhaltsam sich ein Staat im Unstaat heranbildet.«
Aus dem Jahre 1928 liegen weiter einige »Lehrbriefe« vor, in denen Instruktionsunterricht für SA-Leute abgehalten wird. Gegenstand dieses Unterrichts ist nicht etwa staatsbürgerliche Erziehung oder Rassentheorie, sondern: das Infanteriegewehr 1898, die Schießlehre der alten Armee, gefechtsmäßiges Schießen, Vorposten- und Patrouillendienst.
Sinnlosigkeit der SA in der Legalität
Als Bürgerkriegsarmee haben die SA ihren tiefen Sinn gehabt. Als Wehrverband einer legalen Partei sind sie zur Sinnlosigkeit verurteilt. Im Sommer 1930 beschwört Hitler in einem Prozeß in Schweidnitz, die NSDAP arbeite ausschließlich mit legalen Mitteln. Später wiederholt er diesen Schwur noch zweimal: im Leipziger Prozeß gegen die Reichswehroffiziere und im Berliner Prozeß um den Feuerüberfall einer Sturmabteilung auf das Tanzvergnügen eines kommunistischen Sportvereins in Charlottenburg. Zur gleichen Zeit erläßt plötzlich die Parteileitung der NSDAP einen Befehl, wonach jeder SA-Mann, der im Besitz einer Waffe getroffen würde, sich damit automatisch aus der Partei ausschließe. Die SA-Männer können einen derartigen Beschluß nicht begreifen. Wie können sie ihre doppelte Aufgabe, einmal die Träger der zukünftigen Wehrmacht im Dritten Reich zu sein und weiter den marxistischen Terror mit allen Mitteln zu brechen, anders erfüllen als dadurch, daß sie bis an die Zähne mit Revolvern, Dolchmessern, Gummiknüppeln, Bleirohren und Stahlruten ausgerüstet sind? Wie anders können sie ihre Existenzberechtigung erweisen als durch die Strecke der erschossenen und erschlagenen marxistischen Volksverräter?
Es handelt sich ja nicht um einzelne Haufen rauflustiger und verwegener Gesellen. Es handelt sich bei den SA um einen riesenhaften Apparat, in dem der Organisierungswahnsinn kaltgestellter Generalstäbler seine Orgien feiert. Es handelt sich um eine illegale Armee, die seit Jahren systematisch zu Mord und Totschlag erzogen worden ist. Um Männer, denen Mut und Entschlossenheit als letzte und höchste Tugenden eines Soldaten des Dritten Reichs gepredigt werden. Die bedingungslose Unterwerfung unter den Willen des Vorgesetzten, auf der die SA basieren, könnte ein wirksames Mittel sein, den Beschluß der Parteileitung in die Wirklichkeit umzusetzen, wenn – diese Vorgesetzten von der Notwendigkeit der Legalität ebenso überzeugt wären wie Herr Hitler selbst. Aber das ist nicht der Fall.
Die Hüter der Legalität
An der Spitze jener fünf Distrikte, in die die gesamte SA in Deutschland eingeteilt ist, stehen die »Osaf-Stellvertreter«, und man braucht nur ihre Namen zu hören, um zu wissen, daß sie sich im Notfall weniger um die hochpolitischen Argumentationen der Münchener Parteileitung kümmern werden als um ihre aktivistischen Instinkte, die sich tausendfach auf den Schlachtfeldern der deutschen Republik betätigen ließen. In Dresden residiert der Kapitänleutnant Manfred v. Killinger, aus zahlreichen Mordprozessen bekannt, ein Mann, der nicht nur Herrn Hitler, sondern auch dem Chef der OC, dem Kapitän Ehrhardt, ewige Treue geschworen hat, und dessen politische Intentionen sind wesentlich andere als die Hitlers. In Berlin herrscht der Hauptmann Stennes, bekannt als ehemaliger Baltikumkämpfer und Führer jener berüchtigten »Hundertschaft zur besonderen Verwendung« der Berliner Schutzpolizei, die im ersten Jahre nach der Revolution ihre Hauptaufgabe in der Beseitigung mißliebiger Kameraden erblickte. Der Fememörder Heines, der Vater der schwarzen Reichswehrfeme, Oberleutnant Paul Schulz, – jeder einzelne dieser SA-Führer ist politisch derart belastet, daß der Optimismus eines gesetzestreuen Republikaners dazu gehört, an ihre Legalität zu glauben.
Der Militarismus kann in einem Staat, der sich durch ratifizierte Friedensverträge zur Abrüstung verpflichtet hat, immer nur illegal sein und muß mit den Gesetzen des Staates ständig kollidieren. Und an den Militarismus der SA kann der berühmte »Geist der alten Armee« kaum heranreichen.
Nachstehend einige besonders charakteristische Befehlspunkte aus einem Allgemeinen Befehl, den der Osaf zum Nürnberger Parteitag 1929 erlassen hat (MZ heißt Musikzug, SZ heißt Spielmannszug):
Soldatenspiel
»Marschordnung: Gruppenkolonne, ausnahmsweise nicht zu Vieren, sondern zu Fünfen oder zu Sechsen breit, je nach Sonderbefehl, Gruf als rechter Flügelmann eingetreten. Truf am rechten Flügel ausgetreten. 6 Schritt vor dem Strumf marschiert (die Standarte 6 Schritt davor) Staf, Brif, Obf gemeinsam. 6 Schritt davor das Ende des MZ oder SZ.
»Alles dauernd die linke Hand am Koppelschloß. Keine Stöcke! Rauchen verboten! Singen sehr erwünscht, jedoch nur Lieder, die alles kräftig mitsingt! Marxistische Störungen sind nicht zu erwarten. Anordnungen der Verkehrspolizei genau befolgen.
»Verboten sind: Hoch- und Niederrufe, Juda verrecke und ähnl. Erlaubter Sprechchor einzig »Deutschland erwache«, aber nur, wenn Staf persönlich vorspricht.
»Führer und Fahnen rücken vom Denkmale links um die SA herum auf die Rasenterrassen. Die Führer sind nicht zu grüßen. Die Standarten-Gru der neuen Standarten rücken zur mittleren Terrasse.
›Preußens Gloria‹ durch Sonder-MZ und SZ.
»Auf der Brücke nimmt jedermann den Gleichschritt nach dem Takt, der vom Hauptmarkt schallt, auf.
»Jedermann hebt heim Betreten des Hauptmarktes den rechten Arm zum Gruße und ruft solange aus voller Kehle ›Heil‹, bis er an Hitler und Osaf vorbei ist. Nur Gleichschritt; Exerziermarsch verboten. SZ heben Arm, MZ nicht.«
Und nun soll diese wunderschöne Militärspielerei plötzlich sinnlos geworden sein?
Revolte der Berliner SA
Aus der tiefen Verärgerung über die Entschlußlosigkeit der Münchener Parteileitung und aus der Wut der proletarischen Elemente innerhalb der SA auf die kapitalistischen Lebemannsallüren der zivilen Parteifunktionäre entsteht schließlich im September 1930 jene berühmte Revolte der SA-Männer in Berlin, deren stürmischer und bedrohlicher Verlauf Adolf Hitler zu höchstpersönlichem Eingreifen veranlaßt. Der äußere Anlaß dieser Revolte ist höchst prosaischer Natur: die SA-Leute verlangen von der Parteileitung, für ihren äußerst anstrengenden Dienst bei der Wahlpropaganda besonders entschädigt zu werden. Diese Mißstimmung der SA-Proleten wird geteilt von den SA-Offizieren, die der Ansicht sind, bei der Vergebung von Parlamentsmandaten schlecht weggekommen zu sein. So kann es geschehen, daß die kleinlichen Zänkereien den Charakter einer hochpolitischen Aktion annehmen. Einige SA-Männer reisen – höchstwahrscheinlich auf Veranlassung des Osaf-Stellvertreters Hauptmann Stennes – nach München, um Adolf Hitler ihre Bitten vorzutragen. Der große Häuptling würdigt sie nicht einmal eines Empfanges, sondern läßt sie durch einen untergeordneten Sekretär nach Berlin zurückscheuchen.
Goebbels, die Primadonna der NSDAP in Berlin, versteht es nicht, die Meuterer zur Raison zu bringen. Und so kommt es am 27. August 1930 zur offenen Rebellion. Hauptmann Stennes teilt der Münchener Parteileitung mit, die Berliner SA würden zukünftig jeden Dienst verweigern. Etwa gleichzeitig stürmt eine Kolonne Berliner SA-Männer das Berliner Parteigebäude in der Hedemannstraße, verprügelt die dort zu Goebbels persönlichem Schutz bereitstehenden »Schutzstaffel«-Leute, schlägt sämtliche Möbel kurz und klein, demoliert die Fensterscheiben und zieht hochbefriedigt wieder ab. Das vor der Tür haltende Auto eines Berliner Arztes, der seinen Freund Doktor Goebbels besucht hat, wird so nebenbei ebenfalls zertrümmert.
Sozialistische Verschwörung
Welche gefährlichen Hintergründe diese Rebellion der SA-Männer gehabt hat, zeigt ein Flugblatt, das kurz vor dem Wahltag unter den Berliner Sturmabteilungen verteilt wird: »Deutsche Volksgenossen! Das erwachende Deutschland von Goebbels verraten! Die Sturmabteilung Adolf Hitlers, der Sturmtrupp für die deutsche Zukunft marschiert nicht mehr ... Wochenlang wurden wir von unseren Führern Goebbels, Wilke usw. betrogen. Die jungen Arbeiter der Faust und der Stirn in Hitlers Sturmabteilung, die freiwillig jeden Tag ihr Blut für Deutschlands Zukunft einsetzen, die den Wahlkampf für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei führen, sollen noch mehr Opfer bringen, während sich unsere Führer bereichern. Unser Grundgedanke ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ wird von unseren Führern mit Füßen getreten. Die Sturmabteilungen sollen außer dem Opfer ihres Blutes auch alle ihre Propaganda, ihre Autofahrten, ihre Fahrgelder bezahlen, weil die Partei angeblich kein Geld hat. Doch kauft Herr Goebbels in einer Zeit, wo unsere Bewegung kein Geld hat, einen neuen Mercedes-Wagen, der mindestens 15.000 bis 20.000 Mark kostete. Herr Goebbels läßt sich von der Partei jede Rede bezahlen, Herr Wilke, Gaugeschäftsführer, kann sich von seinem Parteigehalt ein Zigarrengeschäft kaufen. Kein Arbeiter, kein SA-Mann ist aussichtsreicher Kandidat für die Reichstagswahlen. Wir müssen uns herumschlagen. Unsere Führer, Parteiangestellte, ehemalige Offiziere, bürgerliche Geschäftsleute, Schriftsteller oder Fabrikanten werden Abgeordnete. Sie werden im Reichstag ebensowenig erreichen für uns wie Minister Frick in Thüringen. Wir haben eine ganze Anzahl von Parteigenossen, die eigene Fabriken haben. Diese Parteigenossen kommen in ihren Privatwagen zu unseren Kundgebungen, denn sie glauben, daß wir ihre Geldschränke schützen werden. Aber diese Herren irren sich. Der Arbeiter der Faust und der Stirn läßt sich die sozialistische Idee, die für Herrn Goebbels nur ›Mittel zum Zweck‹ ist, nicht ausreden. Für uns ist das Ziel der nationale Sozialismus, die Befreiung vom ausländischen und inländischen Kapital ...«
Taktische Erwägungen
Das sind neue Töne, die die Parteidiktatoren in München aufhorchen lassen. Adolf Hitler, der noch vor wenigen Tagen die Meuterer, die beschwerdeführend zu ihm nach München wallfahrteten, abweisen ließ, Adolf Hitler setzt sich in ein Flugzeug und fliegt nach Berlin.
Weigand von Miltenberg – nicht nur gefühlsmäßig auf Seite der »ehrlichen Jungens von der SA«, gibt von diesem allerhöchsten Eingreifen folgende Schilderung: »Jetzt hätte sich die Stärke des großen Manitou erweisen sollen. Jetzt gab es nur einen Befehl: ›Hiermit löse ich die gesamte Berliner SA auf‹. Aber wie denn? Stehen wir nicht vor den Wahlen? Brauchen wir nicht die SA zur Propaganda? Kann uns das nicht zwei, drei, – ja, beim Himmel, sogar dreißig Mandate kosten, da sich den Berliner Meuterern bereits zwanzigtausend SA-Leute im Reich angeschlossen haben? Sind wir nicht bereits derart in das legal-parlamentarische Getriebe der Demokratie, die wir doch eigentlich töten sollten, anstatt ihre Diäten zu verzehren, verstrickt, daß wir alle Konzessionen machen, selbst unsere Imperatorenbinde demütig in den Staub werfen müssen, nur um die Diäten zu retten?«
Hitler weint
Hitler fliegt nach Berlin. Direkt vom Flugplatz begibt er sich in die einzelnen SA-Lokale, wo seine Sturmtrupps ihn in drohendem Schweigen erwarten. Augenzeugen berichten, Hitler sei in einem hypomanischen Zustand der Verzweiflung gewesen, seine pathetischen Phrasen hätte schlitterndes Schluchzen unterbrochen: der Große weint. Weint wie ein Kind.
Aber die Tränen, die in der effiminierten Umgebung des Imperators vielleicht ihr Ziel erreicht hätten, erregen hier Trotz und verständnisloses Kopfschütteln. Die SA-Männer bleiben bei ihren Forderungen.
Und schon sind hinter den Kulissen die Gschaftlhuber am Werk, für sich herauszuschlagen, was herauszuschlagen ist: ein oder zwei oder drei Mandate mehr für den Reichstag, wofür einige »Zivilisten« fallen gelassen werden.
Hitler trocknet seine Tränen und – bewilligt alles. Alles. Die Berliner SA-Männer haben ihren Führer besiegt. Das vergessen sie niemals. Ein einziger Faustschlag auf den Tisch hat das prunkende Prachtgebäude seines Allmachtdünkels zusammenstürzen lassen wie ein Kartenhaus. Ihr Glaube an den »Führer« hat einen schweren Stoß erlitten, der tödlich werden kann, wenn die Zeit reif ist.
Hitler hingegen ist hochbeglückt und gerät in ein hitziges Regieren: auf der ersten Seite bringt der »Völkische Beobachter« vom 5. September 1930 einen großaufgemachten Befehl des obersten Parteiführers: »Ich verfüge ...« Ich? Die Berliner SA-Männer lächeln verächtlich: der besiegte Diktator rettet sich in die heldische Phrase: »Ich verfüge ...« Als ob es auf ihn noch ankäme!
Der Inhalt dieser Kapitulationsakte besteht in der Anordnung, eine Sonderbesteuerung sämtlicher Parteimitglieder durchzuführen, deren Ertrag ausschließlich den SA zugute kommen soll. Am nächsten Tag bereits ziehen die Glaser in das Parteihaus in der Hedemannstraße ein, und plötzlich erscheint auch der tapfere Dr. Goebbels wieder, von dem man während der Rebellion nichts gehört und gesehen hatte.
Pfeffer muß gehen
Diese Rebellion gibt Hitler willkommenen Anlaß, sich endlich von dem Osaf Pfeffer von Salomon zu trennen, der in seinem Befehlsbereich der Diktatur des Parteioberhaupts empfindliche Konkurrenz macht. Von heute auf morgen wird Pfeffer seines Dienstes enthoben, und Hitler figuriert jetzt selbst als »Osaf«. Da er aber nicht in der Lage ist, den riesenhaften Apparat zu übersehen, bittet er seinen alten Putschkameraden, den Hauptmann Röhm, das Amt eines »Chef beim Stabe des Osaf« zu übernehmen. Röhm sagt zu.
Interessant, daß dieser nationalsozialistische Oberkommandeur sich in den letzten Jahren als – Oberstleutnant beim Kriegsministerium der Republik Bolivia durchs Leben geschlagen hat, wo er als Adjutant des deutschen Generals Kundt eine wichtige Rolle in den Konterrevolutionskämpfen dieses Landes gespielt hat ...
Privater Bürgerkrieg
Osaf von Pfeffer ist beseitigt, aber geblieben ist der Osaf-Stellvertreter Ost, der Hauptmann Stennes, Herr und Gebieter über alle Sturmabteilungen östlich der Elbe, Kommandeur einer Armee von zwanzigtausend Mann. In München hat sich der Hauptmann unbeliebt gemacht. Seine Rolle bei der Rebellion der SA-Leute in Berlin ist mehr als zweideutig gewesen. Man unterstellt ihm usurpatorische Machtgelüste, und man weiß, daß er gegen den zivilen Häuptling der NSDAP Berlins, den Doktor Goebbels, mit den gröbsten Mitteln Stimmung macht. Dem von München aus befohlenen Legalitätskurs der Partei setzt die Berliner SA einen stummen, aber erfolgreichen Widerstand entgegen, und man vermutet in Hitlers Umgebung, der Osaf-Ost unterstütze diese Fronde mit der Autorität seines verantwortlichen Amtes.
Inzwischen geht in Berlin der private Bürgerkrieg der SA gegen proletarische und republikanische Organisationen fröhlich weiter. Es häufen sich die Terrorakte, die nach Hitlers oft ausgesprochener Ansicht ja der einzige Lebenszweck der SA sind. Aber bei jeder neuen Gewalttat kommt aus München ein hysterischer Aufschrei. Hitler fleht, droht, bittet, beschwört, schimpft, die SA möchten sich um Gotteswillen legal benehmen. Aber die Unterführer lächeln augurenhaft und erzählen ihren Untergebenen etwas von revolutionärer Taktik. Besonders tut sich dabei wieder Goebbels hervor, der sich in einer großen Massenversammlung in Berlin ganz offen über Hitlers Legalitätspsychose lustig macht.
Und so terrorisieren die SA-Leute weiter, wie sie es gelernt haben: sie erschießen und erschlagen niemals Industrielle, niemals Bankiers, kaum jemals einen Juden, immer Proletarier, Kommunisten oder Reichsbannerleute. Herr Goebbels predigt im »Angriff« weiter die deutsche Revolution, und das ratternde Funktionieren der Parteimaschine übertönt das bedrohliche Knistern im Gebälk des Berliner Parteigebäudes.
»Hilfsdienst« und Strafgesetz
Allein in den Monaten November 1930 bis Januar 1931 sind Angehörige der Berliner SA in nicht weniger als acht Mordtaten verwickelt, die nach und nach zur Aburteilung durch die Schwurgerichte Berlins kommen. Die Aufklärung eines dieser Terrorakte – die heimtückische Erschießung zweier Reichsbannerleute – fördert erstaunliche Einzelheiten über den »Hilfsdienst« zutage, den die NSDAP für SA-Leute eingerichtet hat, die sich strafbar gemacht haben. Es stellt sich heraus, daß einer der Mörder auf dienstliche Weisung hin von einer nationalsozialistischen Dienststelle zur anderen heimlich weitergeleitet worden ist, bis er an der österreichischen Grenze verhaftet wurde. Sein Reiseziel war Innsbruck, wo der reichsdeutsche Hauptmann a. D. von Maltitz, ein Vertrauensmann der NSDAP, den Auftrag hatte, solche abgeschobenen SA-Leute in Sicherheit zu bringen. Man verhaftet diesen Offizier, läßt ihn aber bereits nach wenigen Tagen wieder frei.
Bei dieser Gelegenheit sollen – so melden die Blätter, die dem Ministerium nahestehen – im Innenministerium Erwägungen darüber angestellt worden sein, ob man nicht wegen dieser unzweifelhaften Mordbegünstigung die gesamte SA verbieten solle. Aus ungewöhnlich spitzfindigen juristischen Erwägungen heraus unterläßt man diese Maßnahme, die vor Jahren bei dem Verbot des »Rotfrontkämpferbundes« eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, obwohl damals für ein Verbot viel weniger stichhaltige Gründe vorgelegen hatten ...
Am 1. April 1931 kommen endlich jene Gegensätze zur Entladung, die die Berliner SA seit Monaten von der Münchener Parteileitung trennen. Die Tatsache, daß der typische Süddeutsche Hitler sich in Berlin wenig Sympathien erwerben konnte, der Legalitätskurs der Partei, die Primadonnenallüren des Herrn Goebbels, die unbequeme Machtstellung des Hauptmanns Stennes, das alles führt zu einer offenen Meuterei der Berliner SA, die von der Presse maßlos überschätzt wird.
Osaf Stennes macht sich selbständig
Aus durchaus nebensächlichen Gründen stellt sich Osaf Stennes in Gegensatz zu den Anordnungen des Hauptmanns Röhm. Hitler setzt ihn kurzerhand ab und ernennt zu seinem Nachfolger den aus den Femeprozessen hinlänglich bekannten Oberleutnant Paul Schulz. Stennes weigert sich, sein Amt niederzulegen, räumt das Parteigebäude nicht seinem Nachfolger, beschlagnahmt die Druckerei des »Angriff« und erklärt Hitler den Krieg. Augenscheinlich rechnet er damit, daß die gesamten SA Norddeutschlands gleich ihm den Bruch mit Hitler vollziehen werden. Nach einigen Tagen voller dramatischer Ereignisse ergibt sich jedoch die unumstößliche Tatsache, daß hinter Stennes nur ein geringer Teil der zwanzigtausend SA-Leute steht, die er als Osaf-Ost befehligt. Immerhin genügt das Vorgehen Stennes', um eine ungeheure Verwirrung in den Reihen der oppositionellen Sturmabteilungen anzurichten und die Stellung des Berliner Gauleiters Dr. Goebbels endgültig zu erschüttern.
Ähnlich wie bei der Rebellion vom September 1930 hat der Doktor es verstanden, ein Hervortreten an die Öffentlichkeit zu vermeiden. Es scheint, als habe er erst den Erfolg der Stennesschen Aktion abwarten wollen, um dann seine Entschlüsse zu fassen. Jedenfalls ist er während der entscheidenden Tage von Berlin abwesend und nimmt keine Gelegenheit, in den schwebenden Streit in irgend einer Form einzugreifen. Nachdem sich herausgestellt hat, daß Stennes keineswegs die NSDAP in zwei ungefähr gleich starke Lager hat spalten können, erscheint Goebbels wieder auf dem Plan und wird von Hitler mit der »Säuberung« der Berliner Bewegung beauftragt.
Dieser Säuberungsaktion fallen eine ganze Reihe prominenter Führer des Gaus Berlin zum Opfer, die zum größten Teil zu Stennes übergehen. Der Abtrünnige verfügt plötzlich über einige Geldmittel, kann in einer vornehmen Gegend des alten Berliner Westens sich Büroräume einrichten und gibt eine eigene Zeitung heraus »Arbeiter, Bauern, Soldaten«, in der fortgesetzt mit den gröbsten Mitteln gegen Hitlers Diktatorengelüste vom Leder gezogen wird.
Möglichkeiten der Stennes-Sezession
Wer ist Stennes? Man darf diesen Mann und die Bedeutung seiner Aktion nicht überschätzen. Der ehemalige Osaf-Ost und Chef der neuen Partei ist ein nationaler Aktivist, dem es offensichtlich weniger auf scharfe programmatische Abgrenzungen ankommt, als auf die Aktion schlechthin. Seine Einflußsphäre ist begrenzt. Seine ehemaligen Kameraden, die Osaf-Stellvertreter Norddeutschlands, halten ausnahmslos zu Hitler, und die wenigen Eroberungen, die ihm innerhalb der SA gelungen sind, bedeuten nicht viel.
Im Berliner Prozeß vom Mai 1931, in dem Stennes neben Hitler als Zeuge für die angeblich von parteiamtlicher Stelle geduldete Illegalität der SA auftrat, erlebt man es, daß Stennes womöglich noch schärfer als Hitler sich zur Legalität bekennt. Die revolutionäre Phrase, die er als Titel seiner Zeitung gewählt hat, steht in schroffem Widerspruch zu dem Auftreten dieses korrekten Militärs, den erst seine Gegnerschaft zu Hitler in den Augen der Öffentlichkeit zu einer politischen Größe gemacht hat.
Es ist für denjenigen, der nicht in die Parteigeheimnisse eingeweiht ist, schwierig, wenn nicht unmöglich, sich ein klares Bild von den tatsächlichen Gründen des Konflikts Hitler-Stennes zu machen. Die proletarische, rein gefühlsmäßige Antipathie der Berliner SA gegen den Parteipapst in München ist offenbar in diesem Falle ganz privaten und persönlichen Interessen dienstbar gemacht worden.
Gewiß ist die Stennes-Bewegung symptomatisch für die innere Korrumpiertheit des Systems Hitler, aber in ihr eine Zersetzungserscheinung der Partei an sich sehen zu wollen, heißt die soziologischen Grundlagen der NSDAP verkennen.
Zersetzung von außen
Weder das System Hitler noch die mißtrauische, proletarische Aggressivität der SA sind in eigentlichem Sinne Zersetzungserscheinungen. Wenn tatsächlich von Zersetzung gesprochen werden kann, so liegen die Gründe wieder einmal nicht in der Partei selbst, sondern in der wesentlichen Verschiebung der Zielsetzungen, die im Jahre 1931 in der Innenpolitik der deutschen Republik erkennbar werden.
Noch im Januar 1930 glaubte der deutsche Kapitalismus – Fricks Wahl zum thüringischen Innenminister auf Veranlassung der deutschen Volkspartei beweist es – sich in der NSDAP eine Hilfstruppe für die kommenden großen Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Demokratie und Diktatur sichern zu müssen. Das deutsche Unternehmertum hat sich verrechnet: es glaubte, bei dieser Entscheidung müsse man das Risiko eines Bürgerkriegs in Rechnung stellen. Diese Furcht ist unbegründet gewesen: die Zustimmung des Reichstags zu den Diktaturgesetzen der Regierung Brüning bedeutet die Anerkennung der Diktatur und die Ausschaltung des Parlaments mit parlamentarischen Mitteln. Von den 577 Abgeordneten des Deutschen Reichstags stehen rund 300 bedingungslos zu der Regierung. Der legale Fascismus ist kein Wunschtraum mehr, sondern Wirklichkeit.
Legaler Fascismus
Die Notverordnungen der Regierung Brüning bedeuten faktisch das Ende der Demokratie. Die Hilflosigkeit der deutschen Republikaner gegenüber diesem todbringenden Angriff auf die in der Verfassung deklarierten Grundrechte des Deutschen ist erstaunlich, aber nur für den, der die Haltung dieser republikanischen Parteien unter dem psychologischen Gesichtswinkel betrachten will. Die Krise des Kapitalismus, drohend und dunkel gefühlt, äußert sich in der stillschweigenden Übereinkunft, daß die schwebenden Fragen nicht mehr mit den Mitteln des Parlamentarismus gelöst werden können. Man setzt die republikanische Verfassung außer Kraft und tröstet sich schlechten Gewissens damit, diese Maßnahme habe nur vorübergehenden Charakter, gelte nur bis zur »Überwindung der Weltwirtschaftskrise«. So wird Deutschland den Beweis dafür erleben, daß sich der Fascismus mit legalen Mitteln einführen läßt. Und das ist genau dasselbe, was Adolf Hitler seit dem Sommer 1930 bei jeder passenden Gelegenheit feierlich verkündet und beschwört. Seit Sommer 1930, das heißt: seitdem das deutsche Unternehmertum die Werbekraft der NSDAP erkannt hat und die Energie der Partei, die sich bisher in der Agitation erschöpft hat, auf praktische Ziele zu lenken sich bemüht.
Die NSDAP hat seit Jahren das Kleinbürgertum für den Gedanken der Diktatur mobilisiert. Der Reichstag hat dieser Diktatur seine Genehmigung erteilt. Man sieht ein, daß man das Endziel – die Überführung des Parlamentarismus in die Diktatur – auch ohne das Risiko eines Bürgerkriegs erreichen kann, den man noch, vor wenigen Monaten für unvermeidlich hielt. Aus ihrer engen ideologischen und materiellen Verflechtung mit der herrschenden Klasse heraus können die hundertsieben Sendboten des Dritten Reichs dieser parlamentarischen Entwicklung keinen Widerstand entgegensetzen und verurteilen sich selbst zur Bedeutungslosigkeit. Während der wenigen Monate ihrer Zugehörigkeit zum Reichstag hat das Kapital folgende Erfolge errungen:
Errungenschaften des Kapitals
Einer Senkung der Lebenshaltungskosten um höchstens 3.7 Prozent steht eine Senkung der Tariflöhne um 10 bis 15 Prozent gegenüber. Neu eingeführt ist die Getränkesteuer, die Ledigensteuer und die Kopfsteuer: Belastungen, die ausschließlich von der Masse zu tragen sind. Die Erwerbslosenversicherung wird Schritt für Schritt abgebaut. 475 Millionen Mark werden jährlich bei der Arbeitslosenversicherung eingespart, 50 Millionen bei der Knappschaftsversicherung, 15 Millionen bei der Wöchnerinnenfürsorge. Die staatlichen Zuschüsse zum Wohnungsbau werden um 50 Prozent vermindert. Die letzte Million für die Schulspeisung hungernder Kinder wird gestrichen. Die Tabaksteuer bringt 170 Millionen Mark im Jahr: das sind einige der Auswirkungen der Diktaturgesetze, die man den Massen aufgebürdet hat.
Könnte der blutige Sieg des Fascismus in Deutschland mehr für das Kapital erreichen?
Die arbeitende Bevölkerung wird ungefähr mit vier Milliarden mehr im Jahr belastet, denen folgende tatsächliche Erleichterungen für das Kapital gegenüberstehen: Senkung der Besitzsteuern um dreiviertel Milliarden Mark, Senkung der Kapitalertrags-, der Kapitalverkehrs- und Vermögenssteuer und der Verminderung der Realsteuern um rund 400 Millionen Mark. Zur gleichen Zeit erfordert der Wehretat der deutschen Republik etwa dreiviertel Milliarden Mark ...
Braucht man Herrn Hitler noch?
Wenn es möglich ist, derartig riesenhafte Gewinne durch legale parlamentarische Maßnahmen zu erreichen – wo sollte für das Kapital der Anreiz zum Bürgerkrieg liegen, zu dessen Durchführung man die Nationalsozialisten gebrauchen müßte?
Die Rolle der NSDAP als Partei der Deutschen Revolution ist ausgespielt. Ihre Agitation hat dem Fascismus die Wege geebnet. Die bürgerlichen Parteien sind stolz darauf, die Diktatur Hitlers durch ihre selbstmörderische Willfährigkeit unmöglich gemacht zu haben und rechnen sich die Tatsache der Diktatur Brüning noch zum Verdienst an. Die Deutsche Republik im Jahre 1931 trennen vom Dritten Reich nur gewisse Grad-, keine Artunterschiede mehr.
Hierin liegt das eigentliche, das einzige Moment für die Zersetzung der NSDAP: die Nationalsozialisten sind bis zu einem gewissen Grade überflüssig geworden. Die mobilisierten Massen in Stimmung zu erhalten, ist weiterhin ihre Aufgabe. Aber diese Funktion läßt sich nicht im Parlament erfüllen. Im Gegenteil: entscheidende Abstimmungen drohen, das wahre Gesicht der NSDAP zu enthüllen. Die Ideenverbindung »Parlament und Nationalsozialismus« beginnt sinnlos zu werden ...
So liegen die Dinge im Februar 1931, als die Welt plötzlich von der Tatsache überrascht wird, daß die Nationalsozialisten zusammen mit der Deutschnationalen Volkspartei als »nationale Opposition« den Reichstag verlassen.
Die »Nationale Opposition«
Was ist geschehen? In der berühmten Nachtsitzung vom 9. Februar hat der Reichstag beschlossen: eine radikale Verschärfung des an sich schon reaktionären Preßgesetzes, eine rigorose Abänderung der Geschäftsordnung des Reichstags, die die Opposition praktisch mundtot macht, und die Genehmigung sämtlicher staatsanwaltlicher Anträge auf Aufhebung der Immunität von Reichstagsabgeordneten. Insgesamt handelt es sich hierbei um 427 Strafverfahren, die ohne jede sachliche Prüfung vom Plenum en bloc genehmigt werden.
Der Zeitpunkt für die Sezession der Nationalsozialisten ist nicht ungeschickt gewählt: 46 Abgeordnete können nun wegen 268 Verfahren strafrechtlich belangt werden. Diese Zahlen fördern die Fiktion einer revolutionären Partei, die von der Regierung brutal unterdrückt wird. Allerdings – und das wird verschwiegen – handelt es sich bei diesen Verfahren meist um Bagatellsachen: unbefugte Titelführung, Untreue, Urkundenfälschung, Körperverletzung, Preßvergehen, Disziplinarverfahren und ein einziger Fall von versuchtem Hochverrat!
Dagegen sind 34 Kommunisten in 139 Verfahren verwickelt, bei denen es sich in 20 Fällen um Hochverrat handelt, in anderen um Preßvergehen, Vergehen gegen das Gesetz zum Schutze der Republik usw., Verfahren, die den Beschuldigten Jahrhunderte von Zuchthaus einbringen können.
Innenarchitektur und die Schicksalsstunde Deutschland
Durch die Indiskretion eines deutschnationalen Versammlungsredners erfährt man, daß die Initiative zu diesem pompösen Auszug der nationalen Opposition ausgegangen ist – vom Geheimrat Hugenberg, dem Vertreter der schwärzesten Reaktion! Adolf Hitler, den man in diesen Tagen in Berlin erwartet, hat in München soviel mit der Inneneinrichtung des »Braunen Hauses« zu tun, daß er seine Reichstagsfraktion ihrem Schicksal und dem Geheimrat Hugenberg überläßt. Später erklärt er freilich wütend, er sei von allem vorher informiert gewesen und es geschehe überhaupt nichts ohne seinen Befehl oder seine Anregung ... Tatsache bleibt jedoch, daß in den Tagen, in denen die getäuschten Nationalsozialisten mit dem Ausbruch der deutschen Revolution rechnen, Adolf Hitler im »Völkischen Beobachter« einen neun Spalten langen Artikel über seine fabelhaften Leistungen bei der Innenausstattung des Parteipalais veröffentlicht! Zu einer Zeit, wo nach dem Urteil der nationalen Presse Deutschland am Rande des Abgrunds steht.
Die Idee eines Gegenparlaments, die in Kreisen der nationalen Opposition erwogen wird, scheint bald wieder aufgegeben zu werden. Auch bei dieser Gelegenheit zeichnen sich die Blätter des Geheimrats Hugenberg durch besonderen Gedankenreichtum aus: auch hier liegt die Initiative durchaus bei der Partei der Reaktion.
So tatsächlich überraschend dem Parlament der Entschluß der NSDAP gekommen ist, den Beratungen des Reichstags fernzubleiben, bis es »eine besonders tückische Maßnahme der Mehrheit gegen die Minderheit abzuwehren gilt«, so wenig Wirkung hat der Auszug der 160 Abgeordneten in der Öffentlichkeit. Interessant und typisch für die politische Bedeutung dieser scheinbar beziehungslosen Geste ist ein Artikel, der am Tage nach dem Ereignis in der schwerindustriellen »Deutschen Allgemeinen Zeitung« erschien, und der die kühlerstaunte Überschrift trägt: »Wohin, Herr Hitler?« Man macht dem Nationalsozialismus das Kompliment, eine junge, tatkräftige, von dem allerbesten Wollen getriebene Kampfbewegung zu sein, aber man warnt vor Demonstrationen, die praktisch geringe Bedeutung haben werden, und man fürchtet, der Wahlerfolg könne die NSDAP dem Größenwahnsinn anheimfallen lassen, der die tatsächlich gegebenen Möglichkeiten nicht richtig einschätzt.
Hohle Gassen
Ist es ein Zufall, daß Hitler dem faktisch antilegalen Schritt des Auszugs aus dem Parlament keinen weiteren Schritt in dieser Richtung folgen läßt, sondern immer weiter krampfhaft und nun erst recht seine Legalität beteuert? Mit einer hysterischen Überbetonung, die an die Freiwilligkeit dieses Entschlusses nur schwer glauben läßt?
Am 1. April – am Tage der Stennes-Revolte – ist in Thüringen auch die Herrlichkeit des Ministers Frick zu Ende. Der Organisationsleiter der NSDAP in Thüringen hat das Verbrechen begangen, die »tatsächlichen Möglichkeiten« gründlich zu verkennen und in einem Anfall von Größenwahnsinn einige heftige Worte gegen die industrielle Volkspartei fallen zu lassen. Gegen dieselbe Partei, von deren Initiative es abgehangen hat, daß Herr Frick Minister geworden ist!
Das Kapital erteilt der NSDAP eine heilsame Lehre: fast unmittelbar folgen diesen Angriffen parlamentarische Komplikationen, und Herr Frick erscheint plötzlich als inopportun. Man vergißt alles, was er angeblich für die Erneuerung Deutschlands getan hat und sieht in ihm nur so etwas wie einen unbequemen Angestellten, der sich des Rahmens seiner Befugnisse nicht bewußt ist. Die Blätter der Volkspartei fordern eine nachdrückliche Maßregelung der unbotmäßigen Nationalsozialisten, und ihre Kraft reicht aus, Herrn Frick nach einigem parlamentarischen Hin und Her zum Rücktritt von seinem Posten zu veranlassen.
Die »Deutsche Revolution« in den letzten Zügen
In diesen unterirdischen Zusammenhängen liegen die wahren Gründe für die Zersetzung der NSDAP, die tatsächlich nicht mehr zu verkennen sind. Diese Zersetzung braucht sich freilich nicht in einer zahlenmäßigen Niederlage der Partei zu äußern. Im Gegenteil: es ist anzunehmen, daß die fortschreitende Proletarisierung des Kleinbürgertums der NSDAP immer neue Wählermassen zuführen wird. Aber die letzten Reste oppositionellen Wollens, die in den letzten Jahren ohnehin nur noch schwach oder kaum mehr in den Handlungen der NSDAP zu erkennen gewesen sind, werden mehr und mehr verschwinden, so daß letzten Endes auch für den unpolitischsten Laien zu erkennen ist, daß die NSDAP die Interessen des Großkapitals vertritt.
Die näheren Begleitumstände von Fricks Sturz sind höchst blamabel. Adolf Hitler schleudert nicht etwa seinen Bannfluch gegen die Deutsche Volkspartei, sondern er eilt höchstpersönlich nach Weimar und versucht in langwierigen Besprechungen zu retten, was zu retten ist. Er ist zu Konzessionen jeder Art bereit, nur um seinen Vertrauensmann im Kabinett zu halten. Aber seine Zeit ist vorbei: das Kapital braucht ihn in der Epoche des legalen Fascismus nicht mehr. Es braucht die Massenagitation der NSDAP im Lande, aber ihre parlamentarische Mitarbeit ist so lange unerwünscht, als man im Parlament auch ohne diese turbulente und peinliche Bundesgenossenschaft die Endziele des deutschen Unternehmertums erreichen kann.
Vielleicht greift man eines Tages doch noch auf Herrn Hitler zurück. Vielleicht wird man ihn eines Tages doch ersuchen, ein Amt in der Reichsregierung zu übernehmen. Aber man täusche sich nicht: der Anlaß dazu wird nicht die Machtstellung der NSDAP sein, sondern das Bedürfnis des Kapitals. Hitler in der Reichsregierung – das bedeutete die Anerkennung, daß der Weg aus der legalen Diktatur heraus nur über den Bürgerkrieg führen kann. Die Anerkennung, daß die proletarische Revolution in Deutschland vor der Türe steht. Bedeutete die allerletzte Machtzusammenraffung des Kapitalismus ...
Der lärmende Tote
Zersetzung?
Der Auszug der nationalen Opposition hat Hitlers Legalitätspsychose zur höchsten Blüte gebracht. Für den gesamten Bereich des Freistaats Preußen ernennt er plötzlich Gregor Straßer zum Organisationsleiter und läßt den Doktor Goebbels, dessen radikale Phrasen der Bourgeoisie manchmal auf die Nerven fallen, bedenkenlos fallen. Mit Goebbels ist auch die letzte revolutionäre Fiktion der NSDAP geschwunden. Übrig geblieben ist eine Partei, die sich zur Schutzgarde des Kapitals ebenso leidenschaftlich bekennt, wie sie sich früher zur Revolution bekannt hat.
Zersetzung?
Die NSDAP als Partei von eigenem Wollen und eigenem Gesicht hat heute schon aufgehört zu existieren. Ihr hysterisches Gekreisch soll beweisen, daß sie noch lebt. Das ist ein Irrtum.
Der Nationalismus hat seine Lebensaufgabe erreicht: er wird nach dem Willen des Kapitals sterben, damit der Fascismus lebe.
Und vor der welthistorischen Entscheidungsschlacht zwischen dem Fascismus und dem deutschen Proletariat wird eine Erscheinung wie die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei von so untergeordneter Bedeutung sein, daß man von ihr nicht mehr zu sprechen braucht ...