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4.
Auf der Höhe der Macht

 

»Mit einer Zehnmillionenpartei kann man keine Revolution machen.«

Adolf Hitler

 

Etappensieg

Januar 1930. Frick regiert als Innenminister den Freistaat Thüringen. Die nationalsozialistische Presse überschlägt sich förmlich in wildem Triumph. Das einfache Parteimitglied sieht in der Tatsache, daß einer der ihren Minister eines parlamentarisch regierten deutschen Landes sein darf, ein Zeichen für den ungeheuren Vormarsch der nationalsozialistischen Idee.

Die NSDAP zählt um diese Zeit etwa zweihunderttausend eingeschriebene Mitglieder, die in 28 Gauverbänden in ganz Deutschland organisiert sind. Zweihunderttausend Menschen, die bedingungslos den Weisungen des »Obersten Parteiführers« folgen. Die Parteileitung hält die Zeit für gekommen, eine Mitgliedersperre für bestimmte Zeit zu verhängen, um die Bewegung zu »säubern«. Ein Geheimbefehl an die einzelnen Gauleiter bestimmt, daß alle diejenigen, »von denen angenommen werden kann, daß sie in Zukunft für die Partei ohne praktischen Nutzen sind (säumige Zahler, faule Versammlungsbesucher, schwache und feige Charaktere, Konjunkturanhänger, Lärm- und Radaumacher, Säufer usw.)« aus der Partei ausgeschlossen werden sollen. Man kann es sich jetzt leisten, exklusiv zu werden: Auf der Höhe der Macht.

Aber die Macht muß genutzt werden. Die Augen ganz Deutschlands sind auf Thüringen gerichtet, wo Frick das nationalsozialistische Wollen in die befreiende Tat umsetzen wird. »Parteigenosse Frick« wird zu einer mythologischen Persönlichkeit in den Augen der Nationalsozialisten.

Was wird er tun? Die Auguren lächeln, sie wissen: nichts, was der herrschenden Klasse gefährlich werden kann.

Kameralistische Komödien

Frick ist Verwaltungsbeamter. Er beherrscht die Kniffe, mit denen arrogante und intrigante Untergebene ihren Vorgesetzten das Leben schwer machen können, ohne sich dabei Blößen zu geben, und von dieser Fähigkeit macht er ausgiebig Gebrauch. Fricks erste Regierungsmaßnahmen betreffen die Polizei des Freistaats Thüringen. Die demokratische Presse schäumt vor Wut, wie Frick systematisch die Polizei mit nationalsozialistischen Elementen durchsetzt. Die Republikaner haben vergessen, daß Severings Methode, die unzuverlässigen kommunalen Polizeiorgane auf dem Wege der Verordnung zu verstaatlichen, seinerzeit als Tat höchster staatsmännischer Klugheit gepriesen worden ist. Gut: Frick tut das Gleiche, genau das Gleiche. Er überschreitet nicht die Grenzen, die die Verfassung ihm gezogen hat, wenn er die kommunale Polizei in allen größeren Städten des Landes auflöst und sie unter die Befehlsgewalt zuverlässiger nationalsozialistischer Kommandeure stellt.

Der Reichsinnenminister Severing sperrt dem Freistaat Thüringen die Unterstützungen, die das Reich an das Land für dessen Polizeikosten zu zahlen hat. Sperrt sie mit der plausiblen Begründung, daß die thüringische Polizei eines Tages vielleicht den Bestand des Reiches gefährden kann, wenn sie in der Hauptsache aus Nationalsozialisten besteht. Er vergißt nur eines: daß Deutschland eine parlamentarische Republik ist, und daß die Mehrheit eines Parlaments mit Fug und Recht mit dem Lande tun kann, was ihr behagt.

Kampf um die Polizei

Der Kampf um die thüringische Polizei endet mit einem vollen Mißerfolg des Reichsinnenministeriums. Fricks Klage gegen das Reich wird vom Staatsgerichtshof zwar nicht in offizieller Verhandlung entschieden, doch hält der Vorsitzende dieses Gerichts die Rechtslage für das Reich für so ungünstig, daß er dem neuen Reichsinnenminister Joseph Wirth die Annahme eines Vergleichsvorschlags dringend empfiehlt. Die von Frick wegen des Verdachts sozialdemokratischer Gesinnung entlassenen Polizeibeamten und -offiziere werden vom Freistaat Preußen übernommen, und im übrigen darf Frick tun, was er will.

Die Umgestaltung der Polizei ist aber auch das einzige, was an Fricks Regierungsmaßnahmen ernst zu nehmen ist. Alles übrige ist Scharlatanerie, Verbeugung vor der Galerie eines nationalsozialistischen Theaters. Da sind die berühmten Gebete, die Frick durch eine Verordnung für alle Schulen des Freistaats Thüringen obligatorisch gemacht hat. Kindische Haßgesänge, die mit dem Artikel 148 der deutschen Reichsverfassung nicht vereinbar sind und deshalb vom Staatsgerichtshof nach einiger Zeit für ungültig erklärt werden. Immerhin haben monatelang sämtliche Schulkinder des Freistaats Thüringen folgendem »Gebet« lauschen müssen:

»Vater, in Deiner allmächtigen Hand
Steht unser Volk und Vaterland.
Du warst der Ahnen Stärke und Ehr,
Bist unsre ständige Waffe und Wehr.
Drum mach uns frei von Betrug und Verrat,
Mache uns stark zu befreiender Tat,
Schenk uns des Heilandes heldischen Mut,
Ehre und Freiheit sei höchstes Gut!
Unser Gelübde und Losung stets sei:
Deutschland erwache! Herr mach uns frei!
Das walte Gott!«

Sogenannte Kulturpolitik

Die Kulturpolitik ist überhaupt Fricks ureigentliche Domäne. So tritt er kurz nach diesen Bemühungen um die Religion für die Erhaltung der deutschen Musik ein und verbietet kurzerhand für seinen Machtbereich die Jazzmusik, untergeordneten Polizeiorganen dabei die Entscheidung überlassend, was man darunter zu verstehen habe.

Der Universität Jena oktroyiert er den Dr. Günther, den nationalsozialistischen Rassentheoretiker, als »Professor für Rassenbiologie« auf. Der Senat wehrt sich empört gegen die Zulassung dieses Phantasten, aber es hilft ihm nichts. Die altberühmte Universität Jena muß es weiter dulden, daß auch der berühmte Adolf Bartels Gastvorlesungen über deutsche Literatur an der Universität hält. Ein braver literarischer Handwerker, der seine künstlerische Lebensaufgabe seit Jahrzehnten darin sieht, den toten Juden Heinrich Heine in zahllosen Pamphleten mit Dreck zu bewerfen.

Bis weit in die Kreise der großbürgerlichen Hintermänner hinein erregt diese sonderbare Betätigung nationalsozialistischen Kulturwillens peinliches Erstaunen. Zum Krach kommt es jedoch, als Frick den Bildhauer Schultze-Naumburg mit der Leitung der staatlichen Kunstschule und der staatlichen Sammlungen beauftragt. Schultze-Naumburg, ein pedantischer Verfechter des seligen Biedermeier, entfernt kurzerhand Plastiken und Bilder von Ernst Barlach, Klee, Picasso und Chagall aus dem Weimarer Museum mit der einleuchtenden Begründung, diese Künstler seien »ostische Untermenschen« und hätten in deutschen Kunstsammlungen nichts zu suchen.

Selbst die schwerindustrielle »Deutsche Allgemeine Zeitung« kann nicht umhin, in einem Leitartikel die sture Banausenhaftigkeit dieser Kunstpolitik und Schultze-Naumburgs Engstirnigkeiten – die er auf einer Vortragstournee durch ganz Deutschland verzapft – energisch zu verwerfen.

Die Klassiker und der Fememörder

Daß der Minister Frick das Weimarer Nationaltheater, vor dem die Statuen Goethes und Schillers stehen, an Goethes Todestag dazu prostituiert, als Versammlungslokal für eine Agitationsrede des Fememörders Paul Schulz zu dienen, kann schon nicht mehr überraschen: selbst der größte Optimist hat eingesehen, daß Nationalsozialismus und Kunst trotz und wegen Adolf Hitlers Künstlerberuf nichts miteinander zu tun haben.

Über andere Maßnahmen des Ministers Frick kann man jedoch nicht mehr lachen: sie enthüllen in erschreckender und erfreulicher Weise die absolute Ideenlosigkeit der NSDAP, wenn es sich darum handelt, praktische Wirtschaftspolitik zu treiben. Es wird unwidersprochen bezeugt, Frick habe sich einmal in größerem Kreise dahin ausgelassen, er sei froh, daß die NSDAP kein Wirtschaftsprogramm habe. Man merkt es.

Fricks Wohnungspolitik beginnt damit, daß er zur Deckung der erheblichen Staatsdefizite die gesetzliche Miete um 6 Prozent erhöht. Gleichzeitig hebt er das Wohnungsmangelgesetz für rund 70 Prozent aller thüringischen Orte auf, so daß nur noch in 33 Gemeinden des Staates der Mieter vor der Willkür des Hausbesitzers geschützt war. Diese offene Mieterfeindschaft sucht Frick freilich dadurch zu verbergen, daß er für die sogenannten »teuren Wohnungen« eine Mietserhöhung von 20 Prozent einführt. Zugleich aber setzt er die Stichzahl für die teuren Wohnungen so sehr herab, daß in einzelnen Städten Monatsmieten von nur 50 Mark bereits als »teuer« gelten. Das sind Vergünstigungen für den Hausbesitz, die die Wirtschaftspartei im Reich bisher nur als sehnsüchtig erstrebtes Ziel kennt ...

Ja, Bauer, das ist ganz was anderes

»Futterkrippenpolitik« – ein Vorwurf, den die Nationalsozialisten unentwegt gegen das parlamentarische System erheben. Der Minister Frick hingegen bedingt sich bei seinem Amtsantritt ein Gehalt aus, das dem eines Reichsministers entspricht, und bringt als »Fachberater« in die einzelnen Ministerien Parteigenossen, deren Gehalt fast so hoch ist wie das der zuständigen Ressortminister.

Aber das alles sind Dinge, von denen das Kleinbürgertum nichts weiß. Die »unpolitische« Provinzpresse, die so gut wie ausschließlich von dem Geheimrat Hugenberg kontrolliert wird, berichtet von solchen Dingen nichts. Die nationalsozialistischen Agitatoren, die im Hinblick auf die kommende Reichstagswahl das Land überschwemmen, haben ebenfalls anderes zu tun, als von diesem Fiasko nationalsozialistischer Politik zu sprechen. So kann es kommen, daß ganz Deutschland immer noch in einem wahren Taumel der Verzückung auf das Wunder nationalsozialistischer Befreiung hofft.

Das flache Land entscheidet

Um diese Zeit stellt das Institut für Konjunkturforschung fest, daß die industrielle Produktion Deutschlands um rund ein Viertel, auf einzelnen Teilgebieten sogar um die Hälfte unter dem Niveau der Vorkriegsproduktion liegt. Das Aufschnellen der Arbeitslosenziffern ist nur noch mit dem Tempo der Markentwertung zu vergleichen. Arbeiter, Angestellte, Beamte, Landarbeiter und Bauern – alle stehen unter einem unerhörten Druck wirtschaftlicher Not, der sich von Tag zu Tag verstärkt. Soweit sie ihn je besaßen, haben sie den Glauben an die deutsche Republik restlos verloren. Die Katastrophenstimmung im Kleinbürgertum bewirkt eine Abkehr von allen bestehenden politischen Programmen. Das flache Land, von jeher bei der politischen Agitationsarbeit vernachlässigt, hört und sieht nur nationalsozialistische Versammlungsredner. Bereits im Sommer 1930 setzt eine Wahlkampagne ein, die ausschließlich im Zeichen des Nationalsozialismus steht.

Kein noch so entlegenes Dorf in ganz Deutschland gibt es, in dem nicht nationalsozialistische Wahlversammlungen abgehalten werden. Die Kosten dieser Wahlpropaganda gehen in die Millionen.

Man hat ausgerechnet, daß die Nationalsozialisten insgesamt etwa 34.000 Wahlversammlungen in Deutschland abgehalten haben. Trotz allen Verschiedenheiten, die Rednergabe und das Temperament des einzelnen Agitators bedingen, ist der Tenor aller dieser Wahlreden der gleiche: »Wenn wir die Macht bekommen, werden sofort die Young-Zahlungen eingestellt. Dadurch erspart das Reich 1700 Millionen Reichsmark jährlich. Diese Ersparnis wird dazu verwendet, um die Steuern herabzusetzen. Die Gewerbesteuer wird aufgehoben. Rechnet euch selbst aus, was das für jeden einzelnen ausmacht. Wählt ihr nun lieber die Young-Parteien, die den Tribut weiter entrichten wollen, oder uns, die wir das deutsche Volk von seinen Bedrückern und den Mittelstand von seinen Steuern befreien wollen?«

Wer bezahlt die Kosten dieser Propaganda?

Burgfriede mit Hugenberg

Der Geheimrat Hugenberg hat mit der NSDAP ein Übereinkommen getroffen, das er von Hitler nicht umsonst bekommen haben wird: zwischen der Deutschnationalen Volkspartei und der NSDAP wird der Burgfriede erklärt. Die Deutschnationalen verzichten auf Störung der Wahlkampagne der NSDAP, wofür diese sich verpflichtet, nicht gegen die DNVP zu agitieren. Die günstigere Position hat – wenigstens bei der ländlichen Bevölkerung – die NSDAP.

Die Gründe dafür sind unendlich einfach. Die Nationalsozialisten versprechen allen alles, mit einer Skrupellosigkeit, die nur noch in der blinden Vertrauensseligkeit der Zuhörer einen Ausgleich findet. Sie versprechen dem Großgrundbesitzer Erhöhung der Schutzzölle und Reduzierung der Landarbeiterlöhne; dem Kleinbauern Herabsetzung der Düngemittelpreise, Sperrung der Frisch- und Gefrierfleischeinfuhr und Erhöhung der Fleischpreise; dem Landarbeiter, der in stallähnlichen Katen haust, menschenwürdige, komfortable Wohnungen, Siedlungsland und Erhöhung der Deputate.

Kurz vor dem Wahltag gelangt durch die gleiche parlamentarische Konstellation wie in Thüringen auch im Freistaat Braunschweig ein Nationalsozialist in die Regierung: der preußische Amtsgerichtsrat Dr. Franzen wird Innenminister. Man erkennt in den übrigen Parteien jetzt die Gefährlichkeit der NSDAP. In den Industriezentren versuchen die sozialistischen Parteien Einbrüche in die proletarische Front zu verhindern. Aber das flache Land überläßt man kampflos dem Nationalsozialismus. Und das flache Land entscheidet.

Plötzlich ist jener verhängnisvolle 14. September des Jahres 1930 da, der die Weltuntergangsstimmung über die deutsche Republik hereinbrechen sieht.

Sieg!

Einhundertsieben nationalsozialistische Abgeordnete!

Die »Nazis« die zweitstärkste Fraktion im deutschen Reichstag!

Sechsmillionenvierhunderttausend Stimmen für Hitler!

»Und schon in den ersten Morgenstunden reißen bepelzte Rittergutsbesitzer, würdige, kaiserlich-republikanische Beamte, Handwerker, Prokuristen, Studenten, Kommis, Lebedamen auf der Friedrichstraße den Zeitungshändlern den ›Völkischen Beobachter‹ aus der Hand: ›Das Blatt unserer Partei‹.«

Die Aktienkurse fallen rapid, ausländische Konsortien werfen ein Aktienpaket nach dem andern auf den Markt. »Brief! Brief!!« Die Devisennotierungen an den Weltbörsen geraten ins Schwanken. Die Reichsbank muß sich zu erheblichen Goldabgaben entschließen, um die Mark zu halten. Große Depots werden auf den Banken gekündigt. Die Paßstellen der Polizeipräsidien können sich vor Anträgen um Bewilligung von Auslandspässen kaum retten ...

Der Reichsbankpräsident Luther stellt fest, daß dieser eine einzige Tag dem deutschen Kapitalmarkt etwa ein bis eineinhalb Milliarden Goldmark entzogen hat!

Hitler wird salonfähig

Und mit dieser Börsenpanik erfüllt sich das Schicksal einer »Arbeiterpartei«. Adolf Hitler, der Kleinbürger aus Braunau am Inn, wird plötzlich zu einer welthistorischen Persönlichkeit, um den sich Wallstreet und Wilhelmstraße, Quai d'Orsay und Downing Street in gleicher Weise bemühen. Der Chef der englischen reaktionären Presse, Lord Rothermere, begibt sich höchstpersönlich nach München. Dort hat man vergessen, daß man diesen Mann noch vor wenigen Monaten als Judenstämmling gebrandmarkt hat. Dort hat man vergessen, was die »Daily Mail« dem Deutschen Volk während des Krieges angetan hat: man empfängt den Zeitungslord hochbeglückt, und Adolf Hitler erfüllt die Aufgabe, die der deutsche Kapitalismus ihm zugewiesen hat. Er erklärt in einem seitenlangen Interview, es sei alles nicht wahr, er dächte gar nicht an den Revanchekrieg, selbstverständlich wollten auch die Nationalsozialisten die Reparationen weiterzahlen, sie bäten nur um gelegentliche, freundliche Revision des Debetkontos, um friedliche Revision der Friedensverträge. Genau wie ein Demokrat ...

Die Aktienkurse erholen sich. Die Mark bleibt fest. Die deutsche Republik ist gerettet. Gerettet durch das Bekenntnis Adolf Hitlers, er sei ein loyaler Staatsbürger, und kein Mensch hätte das Recht, ihm etwa die Revolutionierung Deutschlands in die Schuhe zu schieben.

Alles, was Hitler und die NSDAP nach diesen Rothermere-Interviews getan und unterlassen haben, – es sind nichts weiter als Illustrationen, Wiederholungen und Unterstreichungen dessen, was auf diesen Blättern immer wieder gesagt wird: daß die NSDAP die Schutzgarde des deutschen Kapitals ist, das für die Überführung der republikanischen Staatsform in die fascistische Diktatur Hilfstruppen gesucht und gefunden hat. Der Führer einer ehemals »revolutionären« Partei wird mit der Verantwortung für die Allgemeinheit beladen und ist zu schwach, sie zu tragen.

Freilich: man gehabt sich revolutionärer als je, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der unerhörte Machtzuwachs der NSDAP nicht auf Kosten der marxistischen Parteien gegangen ist, sondern auf Kosten des Bürgertums: der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei. Die Radikalisierung des Kleinbürgertums erlebt seine Vollendung, aber die politischen Triebkräfte dieser Gesellschaftsklasse sind gleich null und führen zwangsläufig dazu, die Geschäfte der Bourgeoisie unter veränderter Firmenbezeichnung weiterzuführen.

Kommt das Dritte Reich?

Die große deutsche Weltpresse beginnt nach dem 14. September von heute auf morgen, Hitler und den Nationalsozialismus ernst zu nehmen. Irgendwo dämmert die Erkenntnis auf, die deutsche Republik erhalte mit diesem Wahlausgang die Quittung für zahllose politische Fehler, die im Laufe der letzten zehn Jahre begangen worden sind. Man versenkt sich in alle Einzelheiten des nationalsozialistischen Programms, man diskutiert, und immer wieder steht da die große Frage, die das Herz jedes Republikaners beunruhigt: Kommt die Diktatur? Kommt das Dritte Reich?

Der primitive Stolz eines jungen Republikaners auf seine Staatsform übersieht leicht und gern, daß die Frage der Diktatur bereits im Juni des Jahres 1930 durch die ersten Notverordnungsgesetze der Regierung Brüning stillschweigend zu ungunsten der Republik entschieden worden ist ...

Unverkennbar ist das Bemühen der Regierungspresse, die NSDAP administrabel zu machen, durch die Stoßkraft ihrer Sturmabteilungen zu korrumpieren durch die Verantwortung, durch die Rücksicht auf die »staatspolitischen Notwendigkeiten«.

Kleinbürger und Landarbeiter, Bourgeois und Proletarier – chiliastische Hoffnungen auf ein Reich der Erfüllung, auf die Gemeinschaft aller Deutschen in einem Geiste des Deutschtums erheben sich. Die

Run auf das Hakenkreuz

Presse der NSDAP schwelgt in Siegesstimmung und in ekstatischen Zukunftshoffnungen. In den Parteibüros reißt die Kette derer nicht ab, die sich für ein Amt im Dritten Reich in empfehlende Erinnerung bringen wollen: stellungslose Akademiker mit der Angst vor dem Proletarierdasein im Herzen, pensionierte Beamte und Militärs, Berufspolitiker, die ohne Mandat geblieben sind, Landsknechte, Desperados ... In allen Provinzen Deutschlands entstehen neue nationalsozialistische Zeitungen. Die Partei verfügt jetzt über 12 Tageszeitungen, 34 Wochenzeitschriften, eine illustrierte Wochenzeitung, eine Parlamentskorrespondenz und mehrere Monatszeitschriften. Die Auflageziffer des »Völkischen Beobachters« schnellt in die Höhe. Von den Kommunisten hat man das System der Straßen- und Betriebszelle als kleinster Einheit der Partei übernommen, die eine straffe Zusammenfassung der Gesamtorganisation gewährleistet: Auf der Höhe der Macht ...

Mit Bangen und Sorgen sieht man der Eröffnung des Reichstags entgegen, in dem zum ersten Male 107 Braunhemden ihren Einzug halten werden. In der Berliner Innenstadt drängen und schieben sich Menschenmengen hin und her: irgend etwas liegt in der Luft. Riesiges Polizeiaufgebot. Dumpfe Erregung, die sich allen Passanten mitteilt. Ein bedrohliches Omen für die parlamentarische Tätigkeit der NSDAP. Aber es geschieht nichts weiter, als daß plötzlich von einem organisierten Janhagel die Schaufensterscheiben von etwa einem Dutzend jüdischer Geschäfte eingeschlagen werden. Zwar läßt die Parteileitung bereits am nächsten Tag erklären, es habe sich bei den Fensterstürmern nicht um Nationalsozialisten, sondern um kommunistische Lockspitzel gehandelt, aber die Verhafteten gehören fast ausnahmslos der NSDAP an, und der nationalsozialistische Minister Dr. Franzen aus Braunschweig macht der Berliner Polizei falsche Angaben, um einen verhafteten Parteifreund freizubekommen, der sich unbefugterweise eines Abgeordnetenausweises bedient hat ...

Einzug der Gladiatoren

Die Uniform der Nationalsozialisten ist in Preußen verboten. Die 107 Abgeordneten der NSDAP erscheinen am 13. Oktober 1930 im Plenarsaal des Reichstags in braunen Hemden. Ein effektsicherer Auftritt, dem leider keine scharfpointierten dramatischen Handlungen folgen. Der ungeheure Umschwung von einer Revolutions- zu einer Mehrheitspartei, der einer Selbstaufgabe gleichkommt, dokumentiert sich darin, daß der Abgeordnete Dr. Frank II zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Stoehr zum Vizepräsidenten des Reichstags und ihr Parteigenosse Dr. Frick sogar zum Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses gewählt wird, jener Kommission, die letzten Endes für die Außenpolitik der deutschen Republik verantwortlich zeichnet.

Auf der Höhe der Macht.

Wichtige parlamentarische Ämter in den Händen der Nationalsozialisten. Draußen im Lande wächst die Bewegung von Tag zu Tag. 28 Gauverbände mit rund 400.000 Mitgliedern. Eine riesige Organisation mit zahllosen Einzelressorts, an deren Spitze hochbezahlte Parteifunktionäre stehen, – das ist der Rückhalt der Partei im Reich. Eine Organisation, deren innere Gliederung es ermöglicht, daß einzig und allein der Wille des Führers, der nur sich selbst verantwortlich ist, in den politischen Maßnahmen der Bewegung zum Ausdruck kommt. Trotzdem die NSDAP sich im Parlament notgedrungenermaßen dem Majoritätsprinzip beugen muß, lehnt sie es für sich selbst durchaus ab: Adolf Hitler ist in der Partei allmächtig.

Aus dem Hinterzimmer einer obskuren Vorstadtkneipe, in dem noch vor 10 Jahren die »Deutsche Arbeiterpartei« residierte, ist inzwischen ein Palast geworden, in dem alle zivilen Dienststellen der Partei vereinigt sind. Das »Braune Haus« in München, Brennerstraße 45, das am 5. Juli 1930 von der NSDAP gekauft und mit einem Kostenaufwand von rund 1 Million Mark zum Heim einer »Arbeiterpartei« ausgebaut worden ist!

Ein phantastischer Aufstieg, der kaum mehr übertroffen werden kann.

Schatten über der SA

Neben den »zivilen« Organisationszentren der Partei warten zirka 80.000 gutgedrillte und bewaffnete Mitglieder der Sturmabteilungen auf den Befehl des Führers zum Losschlagen. Ärzte, Juristen und Lehrer haben sich zu besonderen Fachverbänden zusammengeschlossen, um nationalsozialistischen Grundgedanken auf ihrem speziellen Arbeitsgebiet Geltung zu verschaffen. Aber das innere Leben dieser Riesenorganisation kontrastiert bedenklich zu ihrem äußeren Umfang. Der revolutionäre Elan ist dahin. Lediglich in den Lokalen der SA-Leute brodelt und gärt eine dumpfe Erregung, die sich Luft schaffen will. Im übrigen sind jedoch die Verbindungen der Partei zu amtlichen Stellen und zu den politischen Machtfaktoren der Reaktion und des Kapitals so stark geworden, daß jeder Rebellionsgedanke paralysiert wird von der Verantwortlichkeit für das Bestehende, die immer mehr der NSDAP zugeschoben wird.

Ein klägliches Schauspiel, wie sich die parlamentarischen Vertreter einer Arbeiterpartei zu den dringenden und drängenden Fragen der Sozial- und Finanzpolitik stellen. Ist es wirklich nur Gedankenlosigkeit, daß die NSDAP im neuen Reichstag nicht einen einzigen Antrag eingebracht hat, der sich mit der Besserung der Lage der Arbeitslosen befaßt? Wirklich nur sachliche Politik, wenn die nationalsozialistische Fraktion nicht nur keinen Antrag auf Milderung der Massensteuern einbringt, sondern im Gegenteil bereits am 9. Dezember 1930 ausdrücklich die Erhöhung dieser Massensteuern billigt?

Analyse des nationalsozialistischen Parlamentarismus

Die Aktivität der NSDAP geht an den großen Fragen des deutschen Proletariats vorbei und beschränkt sich auf agitatorische Anträge, die einen wahren Abgrund urreaktionärster Gesinnung enthüllen. Da ist die berühmt gewordene »Drucksache Nr. 1741«, die den Entwurf eines Gesetzes »zum Schutze der deutschen Nation« enthält. Zwölf nationalsozialistische Abgeordnete – unter ihnen Dr. Frick, Feder, Dr. Goebbels, Graf Reventlow und Gregor Straßer – beantragen ein Gesetz, nach welchem »wegen Wehrverrats mit dem Tode bestraft« werden soll, »wer für die geistige, körperliche oder materielle Abrüstung des deutschen Volkes wirbt ... oder wer die Wehr- und Dienstpflichtentziehung billigt oder verherrlicht«. Des weiteren verlangt dieser Antrag die Einführung neuer strafrechtlicher Tatbestände, wie die des Volksverrats, des Wirtschaftsverrats, des Rassenverrats und des Kulturverrats, die ebenfalls mit dem Tode oder mit Zuchthaus bestraft werden sollen. Der § 6 dieses Gesetzentwurfes verlangt die Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung für diejenigen Verbrecher, die »lebende oder tote Nationalhelden, Heerführer oder Inhaber der höchsten deutschen Tapferkeitsorden, oder die frühere oder die jetzige deutsche Wehrmacht oder Abzeichen oder Symbole der Landesverteidigung, insbesondere Ehrenzeichen, Uniformen, Flaggen« beschimpfen, verächtlich machen oder in Ärgernis erregender Weise mißachten.

Für Verteuerung der Lebenshaltung

Ein ähnlicher Tätigkeitsdrang der NSDAP ist nur noch zu erkennen in den zahlreichen Anträgen, die – sich mit der Heraufsetzung der Schutzzölle für Getreide und Lebensmittel beschäftigen. Es bleibt den Antragstellern überlassen, zu entscheiden, wie diese skrupellosen Angriffe auf die Lebenshaltung der Arbeiterschaft mit dem Aushängeschild der NSDAP als »Arbeiterpartei« in Einklang zu bringen sind. Durch den Antrag Nr. 612 geben die Nationalsozialisten ihren Willen kund, daß in Deutschland fortan der Preis für eine Tonne Weizen auf 300 Mk. festgesetzt werden soll gegenüber einer Weltmarktnotierung von höchstens 120 Mk.! Die Erhöhung des Butterzolls von 30 auf 50 Mk. pro Doppelzentner, die Einführung eines ausreichenden Weizenkleiezolls, eines Schutzzolls für Futtermittel und die Einführung eines staatlichen Südfruchtmonopols – das sind einige andere Heldentaten der NSDAP im Reichstag. Unter den 107 Abgeordneten befinden sich zahlreiche Grundbesitzer, deren Interessen der Gesamtpartei offensichtlich weit wichtiger sind als die Anstrebung eines erträglichen Lebensstandards für die arbeitende Bevölkerung Deutschlands.

Besonders aufschlußreich für die bedingungslose Unterwerfung der NSDAP unter das Diktat der kapitalistischen Parteien ist die Stellung, die die Fraktion gegenüber einem Antrag der kommunistischen Partei eingenommen hat. Am 6. Dezember 1930 steht im Reichstag folgender Antrag zur Debatte:

Gegen Sonderbesteuerung des mühelosen Einkommens

»1. Alle Vermögen über 500.000 Mk. werden einer einmaligen Steuer von 20 v. H. unterworfen.

2. Alle Dividenden und sonstigen ausgeschütteten Gewinne bei gewerblichen Unternehmungen werden einer Steuer von 20 v. H. unterworfen.

3. Alle Aufsichtsratstantiemen und ähnlichen Vergütungen unterliegen einer Sondersteuer von 20 v. H.

4. Alle Einkommen über 50.000 Mk. werden mit einer Sondersteuer von 20 v. H. belegt.«

In namentlicher Abstimmung stimmen die Nationalsozialisten gegen diesen kommunistischen Antrag! Freilich bringen sie, nachdem ihre Stellungnahme zu diesem Antrag in der Presse der Partei heftig kritisiert worden ist, eine Woche später einen eigenen Antrag ein, beschränken ihn aber lediglich auf die Besteuerung von Dividenden und sagen kein Wort von einer Sonderbesteuerung der großen Vermögen.

Daß die NSDAP sich weiter gegen jeden Ausbau der Erwerbslosenversicherung wendet, daß sie im Gegenteil gewillt ist, die Erwerbslosenversicherung weiter zu verschlechtern, beweist jener Antrag »Nr. 468«, in dem »Dr. Frick und Genossen« die Einführung eines Arbeitsdienstpflichtjahres beantragen »zur Behebung der Arbeitslosigkeit mit besonderer Rücksicht auf die durch die bestehenden Arbeitslosen-Versicherungs-Bestimmungen auf dem ländlichen Arbeitsmarkt entstandenen unhaltbaren Zustände«.

Gegen Einstellung der Tributzahlungen

Den schlechthin nicht mehr zu überschreitenden Höhepunkt in der Ableugnung ihres Programms und ihrer gesamten Entwicklungsgeschichte erreicht die NSDAP, als sie kurz nach Zusammentritt des Reichstags im Auswärtigen Ausschuß sich bei folgendem Antrag, den die kommunistische Fraktion einbringt, der Stimme enthält: »Der Reichstag wolle beschließen: Alle Zahlungen auf Grund des «Youngplans sind mit sofortiger Wirkung einzustellen.« Das ist genau dasselbe, was die Nationalsozialisten seit zehn Jahren als A und O ihrer Politik und als einziges Mittel zu Deutschlands Rettung gepredigt und gepriesen haben. Inzwischen hat man aber in München den Lord Rothermere empfangen, und Hitler ist mit seiner gesamten NSDAP eingeschwenkt in die Front des internationalen Kapitals, dessen einer Frontabschnitt sich immer und immer gegen die Revision der Friedensverträge richten wird.

Alfred Rosenberg blieb es vorbehalten, im »Völkischen Beobachter« vom 8. November 1930 diesen erstaunlichen Verrat an der eigenen Sache damit zu begründen, daß »der Antrag der KPD nichts gewesen ist als ein provokatorischer Versuch, das deutsche Volk auf Grund der heutigen Lage einer ›berechtigten‹ Vergewaltigung preiszugeben, es von der ganzen Welt zu isolieren«. Eindeutiger und offener kann man sich nicht für die Erfüllungspolitik einsetzen, die die NSDAP seit zehn Jahren als Ausgeburt marxistischen Wahnsinns hinzustellen nicht müde geworden ist.

Der bequeme Rückzug hinter die Konstruktion eines »provokatorischen Versuchs« ist jedoch nicht immer gegeben. Wenn die NSDAP am 9. Dezember 1930 unter anderm auch gegen einen kommunistischen Antrag stimmt, der die Wochenbeihilfe für stillende Mütter um 1 Mk. pro Woche heraufsetzen will, so mag der Himmel wissen, was an diesem Antrag provokatorisch sein soll.

Die Warenhaussteuer

Dieser fortlaufenden Kette von Niederlagen, die die NSDAP bei der Verwirklichung ihrer Programmforderungen erleidet, steht eine Heldentat gegenüber, auf die die NSDAP sehr stolz ist: es ist ihr gelungen, eine Sonderbesteuerung für Warenhäuser und Konsumgenossenschaften mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien durchzudrücken. Die NSDAP versprach sich von dieser Sonderbesteuerung eine einschneidende Besserung der Lage der Kleingewerbetreibenden. Keiner der erleuchteten Volkswirtschaftler der Partei kam auf den Gedanken, daß die Warenhäuser diese Sondersteuer ohne die geringste Schwierigkeit wieder auf den Konsumenten abwälzen können, indem sie ganz einfach die Qualität der Ware verschlechtern. Die Kleingewerbetreibenden, die der NSDAP ihre Stimme gegeben haben, können schon heute entscheiden, ob die Einführung dieser Steuer auf ihre gedrückte wirtschaftliche Lage auch nur den geringsten Einfluß gehabt hat.

Das ist die Analyse von vier Monaten parlamentarischer Tätigkeit der NSDAP, einer Partei, die auf der Höhe ihrer Macht steht, die sechseinhalb Millionen radikalisierte und fanatisierte deutsche Bürger hinter sich hat, die als revolutionäre Partei begonnen hat und in der Vertretung mittelständischer Interessen versandet.

Am 10. Februar des Jahres 1931 verläßt die gesamte Fraktion der NSDAP den Reichstag. Mit ihr geht die Partei des Geheimrats Hugenberg, die sich der NSDAP durch gemeinsame Interessen verbunden fühlt. Diese pompöse Geste hätte einen Sinn gehabt, wenn ihr unmittelbar die entscheidende Aktion gefolgt wäre. Aber man will die Aktion ja gar nicht mehr. Und so offenbart sich in diesem Auszug der »nationalen Opposition« nicht der Kampfwille einer revolutionären Partei, sondern die vollendete Hilflosigkeit einer Gruppe Mißvergnügter, die die praktische Unmöglichkeit ihres Programms einzusehen gelernt hat.

Der große Erfolg wird zum großen Bankrott. Wo liegen die Gründe?


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