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»Wir müssen die Revolution gewinnen.«
Moeller van den Bruck
»Am deutschen Wesen ...
Es ist ein blanker Zufall, daß der Citoyen Chauvin nicht als Herr Müller in das internationale Vokabular eingegangen ist. Der Chauvinismus ist international, er ist dem Franzosen so wenig eigentümlich wie dem Deutschen oder dem Italiener. Die Bezeichnungen wechseln: die Sache bleibt dieselbe. Ob der Franzose sich an der Vorstellung entzündet, er marschiere an der Spitze der Zivilisation, ob der Italiener sich als der berufene Hüter der lateinischen Kultur fühlt, ob der Engländer daran glaubt, Gott habe ihn dazu berufen, die Freiheit der Meere zu schützen, oder ob der Deutsche schlicht und ernst sich für die Krone der Schöpfung hält und der Welt die Forderung entgegensetzt: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.«
Es gibt eine Internationale der katholischen Kirche, eine Internationale des hohen Adels aller Nationen, eine Internationale der Rüstungsindustrie, und es gibt eine Internationale der Nationalisten. Alle anderen überstaatlichen Bindungen sind Hoffnung oder Utopie.
Der internationale Nationalismus ist eine durchaus singulare Erscheinung im Geistesleben der Menschheit. Jede Idee strebt danach, die andere Idee zu überwinden, sich an ihre Stelle zu setzen, Allgemeingut zu werden. Jede ideale Organisation hat die Tendenz, sich selbst überflüssig zu machen. Nämlich dadurch, daß sie die Welt umspannt, dem gesamten Dasein ihren Stempel aufdrückt. Der Nationalismus nicht. Er ist der vollendete Zweck an sich, der vollendete Widerspruch, der vollendete Irrsinn. Der Nationalismus kann sich nicht selbst aufheben, weil er von der Negation lebt, weil er den Gegensatz braucht, damit er selbst Gegensatz sein kann. Der deutsche Nationalismus will den Franzosen bekämpfen, aber nicht vernichten. Täte er das, würde er ja überflüssig werden, eine brotlose Idee, ein hilfloses Etwas. Der deutsche Nationalist braucht den französischen und umgekehrt, wie der Mensch die Luft.
»Idee« des Nationalismus
Der deutsche Nationalist sagt »Volk ohne Raum« und will damit sein Expansionsbedürfnis begründen und rechtfertigen. Es gab eine Zeit, da hatte er diesen Raum und betrachtete doch als seine Lebensaufgabe den Imperialismus. Der Fascist schreit »Italien muß größer sein«, und nichts Schlimmeres könnte ihm geschehen, als daß Italien wirklich größer wäre: er dürfte dann ja nicht mehr schreien.
Jeder politischen oder weltanschaulichen Organisation liegt eine Idee zugrunde. Der Nationalismus hat keine andere Idee als die, da zu sein.
Man sieht, die Dinge liegen verworren genug, um von ausgeruhten Köpfen durchdacht und auf eine klare, schlüssige Formel gebracht zu werden. Seit Jahren bemühen sich Idealisten um die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Sie haben bisher wenig mehr erreicht als das zögernde Zugeständnis, daß auch jenseits der schwarz-rot-goldnen oder blau-weiß-roten Grenzpfähle nicht Tiere wohnen, sondern Menschen. Liest man die Deklamationen unserer Politiker, so müßte man annehmen, es gäbe im Jahre 1931 keine wichtigere, überhaupt keine andere Frage als die Nationalitätenfrage, vor der alle menschliche Klugheit versagt. Ein Problem ungeheurer Schwierigkeit!
Nationalitätenfrage und Privateigentum
Inzwischen hat man in Rußland die Nationalitätenfrage ganz einfach und ohne viel Aufhebens gelöst. Der Tatar und der Baschkire, die sich früher nicht sehen konnten, ohne haßerfüllt zum Messer zu greifen, leben heute friedlich nebeneinander und arbeiten gemeinsam an der Ausgestaltung ihres gemeinsamen Lebens. Ein Sechstel der Erde hat ein Problem überwunden, an dem die übrigen fünf Sechstel zugrunde gehen zu müssen fürchten ...
Die kleine Tatsache, daß jenes eine Sechstel sozialistisch ist, kann freilich nicht übersehen werden. Man könnte auch nicht leugnen, daß die Lösung der Nationalitätenfrage und die Aufhebung des Privateigentums in einem – wie immer gearteten – Zusammenhang stehen müssen. Also bleibt nichts übrig, als diese Lösung und jene Tatsache zu ignorieren und weiter Kanonen zu bauen und dann zu überlegen, wie man den Bau von Kanonen verhindern könnte. Weiter bunte, schillernde Ideen zu produzieren und sich als tragischer Held zu fühlen, wenn die Seifenblasen zerplatzen. Nein, mehr: auch noch das Zerplatzen dieser Seifenblasen für notwendig, wunderschön und gottgewollt zu halten, um gleich darauf neue zu produzieren, damit auch sie wieder zerplatzen können ...
Der Deutsche haßt den Franzosen, der Italiener den Jugoslawen, der Pole den Litauer, der Ungar den Rumänen, der Albaner den Serben – warum? »Schicksal«, sagen die internationalen Nationalisten. »Bestimmung«, tief aus volklichen, blutlichen Mysterien erwachsen. Kein fetischgläubiger Südseeinsulaner kann inbrünstiger an das dämonische Walten einer selbstgeschnitzten Holzfigur glauben als diese Herren des zwanzigsten Jahrhunderts an die Gewalttätigkeit des von ihnen selbst geschaffenen Nationalitätenbegriffs.
Fetischisten
Gibt es Menschen, die freiwillig sich selbst entäußern und an diesen Wahnsinn glauben? Millionen gibt es, die sich in erschauernder Wollüstigkeit beugen unter ein selbstgezimmertes Schicksal, das ihnen Bestimmung heißt. Wie es ja auch Millionen gibt, die daran glauben, daß die Juden zu Ostern ein Christenkind schlachten, damit die Mazzes besser schmecken.
Ökonomische Tatsachen sind siebzig Jahre nach Karl Marx dazu da, um übersehen oder mit allem idealistischen Nachdruck geleugnet zu werden. Man heißt uns, an die völkische Bestimmung eines Landes zu glauben, die darin besteht, den Angehörigen eines anderen Landes nötigenfalls zu erstechen, zu erschießen oder zu ersticken. Man zwingt uns, der Predigt ewiger Unfreiheit zu lauschen, daß der Mensch nicht imstande sei, die Welt zu formen, daß der Mensch, dem sich die letzten Geheimnisse der Natur zu entschleiern beginnen, unter das sinnlose Gesetz eines sinnlosen Werdens und sinnlosen Vergehens gestellt ist, aus dessen Zwang es keine Rettung gibt. Man nötigt uns, aus der simplen Tatsache, daß wir Deutsche und beileibe nicht etwa Tschechen sind, zu folgern, daß der Sinn der Schöpfung in unserem Opfer oder in unserem Mord liege. Wer uns darauf aufmerksam zu machen wagt, der Staat sei nicht von Anfang an, sondern ein Instrument des Klassenkampfes, ist ein Marxist, der vernichtet werden muß. Wer einzuwenden wagt, Nationalcharakter sei viel, aber nicht alles, ist ein Jude, der rechtens aus der Liste gestrichen zu werden verdient. Wer sich beiden Ansichten nicht verschließen zu können glaubt, ist ein marxistischer Judenknecht und ein Verräter am Volkstum obendrein, den die alten Germanen – wie sie es nach Tacitus' Bericht mit den Geschlechtskranken getan haben sollen – in einem Sumpf erstickt hätten.
Chauvin oder Müller?
Es ist kein Zufall, daß der Citoyen Chauvin lebt. Es ist ein Irrtum: er sollte Herr Müller heißen und ein deutscher Kleinbürger sein. Denn dem Volke des Herrn Müller gebührt das Verdienst, die Naturnotwendigkeit und Gottgewolltheit des ewigen Kapitalismus als Postulat der praktischen Vernunft, als Zwangsprodukt eines dreitausendjährigen Idealismus entdeckt zu haben.
Im Deutschland der Dichter und Denker hat es zu jeder Zeit Denker und Dichter gegeben, die genau und scharf genug begriffen, welchen gesellschaftlichen Auftrag die herrschende Klasse an sie zu stellen hatte: die philosophische Fundierung des Chauvinismus ist deutsches Eigengewächs wie das Münchener Bier, Herr Adolf Hitler oder die Rheinromantik.
Der Erzbischof von Canterbury kann vielleicht in stillen Stunden über die Behauptung lachen, seine salbungsvollen Predigten röchen nach Petroleum, nach eben jenem Petroleum, an das Herr Deterding denkt, wenn er in der Berliner klerikalen »Germania« die Ausdrücke Kultur und Christentum gebraucht. Der Franzose, dem man den Zusammenhang zwischen der gloire und der Verzinsung der Staatsanleihen klarmacht, zuckt unschuldig die Achseln, macht eine verbindliche Handbewegung und lächelt erstaunt »Quand même?«. Der Deutsche hingegen wird rot, wenn er von wirtschaftlichen Interessen sprechen hört. (Der Italiener kann in diesem Zusammenhang nicht genannt werden: er hat seit dem Morde an Giacomo Matteotti das Sich-Schämen verlernt.)
Philosophische Fundierung des Chauvinismus
Der gesellschaftliche Auftrag an die deutschen Dichter und Denker lautete klar und unmißverständlich dahin, nicht rationelle Begründung, sondern ethische, religiöse Appelle zu liefern. Sie sind geliefert worden: von Kant, von Hegel, von Lagarde und Nietzsche, von Spengler und Moeller van den Bruck ...
Nicht von Adolf Hitler und seinen Jüngern. Diese konnten nur Begründungen übernehmen, die durch jahrzehntelangen Gebrauch abgegriffen waren wie billiges Kleingeld, konnten sie blank putzen und als neu geprägt der gläubigen Masse weitergeben. Dazu langte ihr Roßtäuschergeschick, zu mehr nicht. Höchstens noch dazu, als letztes Argument im Kampf der Geister Schlagring und Gummiknüppel salonfähig zu machen oder – wie der hocharische Dr. Goebbels zu fisteln beliebt – »fünfundzwanzig auf den ebräischen Hintern«. Und mit diesen Argumenten erhält das Volk der Dichter und Denker die Quittung dafür, daß es jahrzehntelang glaubte, das Volk der Dichter und Denker zu sein, als es schon längst nichts mehr war als ein Kind, das den rauschgoldenen Weihnachtsbaumschmuck idealistischer Theorien für das lautere Gold ewiger Wahrheiten hielt.
»Marxgrün!« rufen die Schaffner auf dem Bahnhof des einsamen Gebirgsdörfchens achtmal. »Berlin!« ruft niemand. Es versteht sich von selbst. Das Deutschtum des deutschen Kleinbürgertums versteht sich nicht von selbst. Es braucht Begründungen. Es wird soviel davon gesprochen, daß man vor dem lauten Schall des Wortes »deutsch, deutsch, deutsch« nichts mehr von einer soziologisch sehr interessanten Gesellschaftsklasse hört, die Kleinbürgertum heißt, und deren Entwicklungsgang zur Zeit das Gefüge der kapitalistischen Staaten Europas erschüttert ...
Gibt es ein deutsches Nationalgefühl?
Die Selbstverständlichkeit, Deutscher, nicht Tscheche zu sein, ist nicht von Anbeginn der deutschen Geschichte zu einer weltbewegenden Idee sublimiert worden. Die Geschichte des deutschen Nationalgefühls ist außerordentlich kurz. Ja – es hat gerade unter den Ideologen, die am meisten zu dieser Sublimierung beigetragen haben, nie an Stimmen gefehlt, die das Dasein dieses Nationalgefühls einfach und energisch leugneten, und es als das erst zu erstrebende Ziel einer fernen Zukunft bezeichneten.
Noch im Jahre 1866 kämpfte der Preuße gegen den Hannoveraner, der Bayer gegen den Preußen und der Mecklenburger und Hanseate gegen den Österreicher. Auch die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main trat mit dem Anspruch auf den Plan, ein »Vaterland« zu sein und das Lebensopfer ihrer Bürger als Tribut fordern zu dürfen. Noch im Jahre 1866 gab es im Bereich des späteren Deutschen Reiches soviel verschiedene Nationalgefühle, wie es Kleinstaaten und Duodezfürsten gab. Nationalistische Historiker können von diesem bedauernswerten Faktum nur als von einem hellen Wahnsinn sprechen, der ihnen die Schamröte ins Gesicht treibt. Der Gedanke jedoch, daß die Entwicklung von vierunddreißig Vaterländern zu einem Vaterland ein analoger Vorgang sein könnte zur Bildung eines noch größeren »Vaterlands«, heißt ihnen Verbrechen oder Utopie.
Staatsbegriff des Kleinbürgers
Das deutsche Kleinbürgertum hat sich seinen Anteil an den allgemeinen Menschenrechten von 1789 erst fünfzig Jahre später erkämpfen müssen. Das deutsche Kleinbürgertum wußte nichts von der Existenz eines dritten Standes: es sah nur die geheiligte Person des Landesherrn und glaubte gern und voraussetzungslos, das Anwachsen des Privatkapitals eines Fürsten, etwa von Schwarzburg-Rudolstadt, sei gleichbedeutend mit dem Wachsen des Allgemeinwohls. Da bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein die Idee des Staates von der Person des Dynasten untrennbar gewesen ist, mußte dieser Staatsbegriff vergottet, aus der Sphäre des Zufälligen oder des Zweckmäßigen weit herausgehoben und auf die Ebene der reinen Idee projiziert werden.
Es ist hier nicht der Ort, einen Abriß über die Entwicklung des Staatsbegriffs in Deutschland zu geben; hingewiesen sei nur auf die Tatsache, daß die nationale Zerrissenheit Deutschlands die Voraussetzung dafür wurde, daß diese Zerrissenheit ebenfalls als Selbstzweck, als Endergebnis ausgegeben werden mußte. Was bleibt von Hegel – wenn man von seinem Einfluß auf Karl Marx absieht – praktisch im letzten Grunde übrig, als daß er es fertiggebracht hat, den preußischen Staat als die vollendete Verwirklichung der sittlichen Idee an sich darzustellen und nachzuweisen?
Die Gründung des Deutschen Reiches entfachte keineswegs allgemein jenen Begeisterungstaumel, den die Barden des Deutsch-Französischen Krieges in ihren Gedichten auf Eis gelegt haben. Der Widerstand der feudalen Partikularisten war ebenso groß wie die Ablehnung durch jene Romantiker, die in dem neuen Staatengefüge nicht die Erfüllung jener tausendjährigen Verheißung erblicken konnten, die als Sage vom Kaiser Barbarossa in den Köpfen aller ewigen Gymnasiasten spukte.
Ideologie der Bourgeoisie
Die nationale Einigung Deutschlands war eine wirtschaftsgeschichtliche Notwendigkeit. Aber diese Einsicht genügte nicht. Konnte niemals genügen einem Volk, das jahrhundertelang in dumpfer Despotie gehalten worden ist, und das darum in echt christlicher Demut und Unbefangenheit aus der Tatsache seines Elends den Schluß zog, ein auserwähltes Volk zu sein. »Wen Gott lieb hat, den züchtiget er.« Das deutsche Kleinbürgertum ist so lange gezüchtigt worden, bis aus der verprügelten und verkrüppelten Psyche die Sehnsucht nach einer verheißungsvollen Zukunft emporstieg. War das Reich, das 1871 gegründet wurde, die Erfüllung?
Die ökonomischen Erschütterungen, die, wie wir sahen, das Kleinbürgertum als erste Segnungen des neuen Reiches überfielen, waren nicht danach angetan, an diese Erfüllung glauben zu machen. Aber der Pomp des Militärstaates, die berauschende Gewißheit, den Erbfeind Frankreich besiegt zu haben, und schließlich die ins Übermenschliche erhobene Gestalt Bismarcks, mit der sich der Gedanke an das neue Reich identifizierte, – das alles produzierte eine kleinbürgerliche Ideologie, die das Kaiserreich noch erheblich überdauerte. Das Kleinbürgertum ließ sich so völlig von der Großbourgeoisie ins Schlepptau nehmen, daß es – wie Karl Marx in seiner Schrift »Der 18. Brumaire« formuliert – glaubt, »die besonderen Bedingungen seiner Befreiung (seien) die allgemeinen Bedingungen, innerhalb deren allein die Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann«.
Typ des deutschen Kleinbürgers
»So stellte der Kleinbürger der Vorkriegszeit einen Typus dar, dem ganz besondere Kennzeichen zu eigen waren. In politischer Beziehung haltlos und schwankend, zu keiner selbständigen Entscheidung fähig und entschlossen, in einem unerschütterlichen Respekt vor der gottgewollten und angestammten Ordnung befangen, voller Haß gegen alle Neuerungen und andererseits in ewiger Unzufriedenheit und Erbitterung gegen die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, unter denen er so schwer zu leiden verurteilt war. Bar jedes Kampfesmutes und jedes Selbstvertrauens, sich in Klagen um die gute alte Zeit erschöpfend, nichts weniger als revolutionär, aber ein ewiger Nörgler, in seinem Unvermögen, die großen geschichtlichen Zusammenhänge und Triebkräfte zu erkennen, nur allzu bereit, auf jedes Schlagwort hereinzufallen, das an seine tiefsten Instinkte rührte: Eine gewisse Harmonieduselei und die Sucht, sich um jeden Preis – auch für das bescheidenste Linsengericht eines Almosens – seine Bravheit mit einem Privilegium bezahlen zu lassen. Denn es ist klar, daß eine Übergangsklasse wie das Kleinbürgertum, in dem sich ›die Interessen zweier Klassen zugleich abstumpfen‹, seiner Klassenlage sich nicht nur nicht bewußt ist, sich vielmehr über jeden Klassengegensatz erhaben dünkt und infolge seiner sozialen Zersplitterung das Kollektivgefühl und das diesem entspringende Solidaritätsbewußtsein der Fabrikarbeiterschaft gar nicht besitzen kann.«
Dieses Bild, das Leo Lania vom deutschen Kleinbürger der Vorkriegszeit gibt, rundete sich jedoch erst dadurch, daß das dumpfe, völlig unbewußte, instinkthafte und nicht zu kontrollierende Nationalgefühl dieser Schicht im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts erhebliche Wandlungen durchmachte. Der blinde Glaube, daß die allgemeinen Bedingungen auch die besonderen Bedingungen der Befreiung dieser Klasse seien, konnte nur entstehen, nachdem die kleinbürgerliche Intelligenz die Lebensarbeit zweier Generationen darangesetzt hatte, die Einigung Deutschlands als den Anbruch des Paradieses auf Erden zu verkünden. Die notwendige Reaktion auf die kristallene Klarheit der idealistischen und rationalistischen deutschen Klassik bildete die Romantik mit ihrer vermeintlichen Wiederentdeckung und -erweckung des deutschen Mittelalters, unter dem die Arnim, Brentano, Schlegel und Tieck nichts anders verstehen und formen konnten als das Spiegelbild ihrer eigenen Wunschträume. Das Mittelalter, das alle Wesenszüge einer chiliastischen Sehnsucht trug.
Vormärz und Romantik
Sollen wir wirklich glauben, es sei blinde Willkür jenes sagenhaften Weltenlenkers, daß die romantische Wendung zur »guten alten Zeit«, die tränenselige und von Edelmut triefende Lobpreisung der Vergangenheit in die Zeit des Vormärz, der widerwärtigsten und brutalsten Tyrannei der Metternich und Konsorten fiel? Die deutschen Romantiker waren keine Revolutionäre mehr. Am Anfang ihres Lebens stand nicht mehr wie an dem der Klassiker die leidenschaftliche Auflehnung gegen den Zustand des historisch Gewordenen und die Durchdringung des Bestehenden mit den Elementen und Forderungen einer freieren, gerechteren Geistigkeit. Die Romantiker hatten ihren gesellschaftlichen Auftrag wohl begriffen: sie predigten die Flucht in die Vergangenheit, die Verachtung der drückenden und lähmenden Gegenwart. Sie appellierten nicht, sie reflektierten. Und sie reflektierten immer nur sich selbst und ihre lebensferne Zeitgelöstheit.
Ist diese Entdeckung der deutschen Vergangenheit gerade zur Zeit der finstersten Reaktion ein Zufall? »Des Knaben Wunderhorn«, die Volkslieder, die Märchen der Gebrüder Grimm, aus denen kleinbürgerliche Philologen mit der peinlich falschen Begeisterung eines alexandrinischen Bücherwurms die Elemente der »deutschen Seele« herauszudestillieren versuchten, sie bereiteten den Weg vor, der plötzlich bei Tacitus endete.
Es ist nicht bekannt, ob die Perser sich für ein ganz besonders hervorragendes Volk halten. Sicher tun sie es, sofern es nationalistische Perser gibt. Sie können stolz sein auf den seligen Hafis, der die Rosengärten von Schiras besang, oder auf die alten Könige, deren wilder Machthunger eine halbe Welt erschütterte. Jedenfalls sind sie aber nicht darauf stolz, daß einmal ein französischer Schriftsteller namens Montesquieu seinen Landsleuten einen ironischen Spiegel vorhielt in einem Buch, das er »Lettres persanes« nannte.
Die Sünde des Cornelius Tacitus
Die Standpredigt, die Cornelius Tacitus seinen Volksgenossen in der »Germania« zu halten sich verpflichtet fühlte, hat nach fast zwei Jahrtausenden in der deutschen Intelligenz schauerliche Verwüstungen angerichtet. Tacitus als historische Quelle kritisch anzuzweifeln bedeutet unseren Teutobolden das gleiche Sakrileg, das im Mittelalter etwa eine Textkritik der biblischen Bücher bedeutet hätte. Keine der faustdick aufgetragenen Polemiken, die Tacitus in seinem Buch einstreut, ist dick genug, um den historischen Wahrheitsgehalt eines tendenziösen Pamphlets in Frage zu stellen. Schon die alten Germanen waren treu, gut, tapfer, großmütig, trunkfest, fromm und keusch. Tacitus, der landfremde, rassisch außerordentlich unzuverlässige Tacitus hat es gesagt, und darum muß es stimmen. Daß die Spruchweisheit der Edda keineswegs so veilchenblau und gartenlaubenhaft ist, daß sich die Helden der mittelalterlichen Volksepen häufig ausgesprochen jüdisch benehmen – nicht die Edda, nicht die Nibelungen: Tacitus, Tacitus!
Der alte Germane wird entdeckt
Die Entdeckung der alten Germanen und die Reaktion – hier keinen Kausalzusammenhang sehen kann nur der, der nicht sehen will. (Richard Wagner konnte es nicht: er entdeckte den Germanen auf eigene Faust und projizierte alles das, was er – der rassisch höchstwahrscheinlich Unterwertige – nicht sein konnte, in seine strahlenden Heldengestalten, die ein internationales Parkett schmelzen ließen. Fällt uns heute einmal etwa eine alte Bühnenphotographie in die Hände, auf der ein reichbebarteter fetter Mann neben einer Frau von der Statur eines mäßigen Stubenofens lebhaft mit den Händen agiert, so können wir uns eines peinlichen Gefühls nicht erwehren. Unser »blutlicher« Instinkt sträubt sich gegen die schreckliche Vorstellung, in diesen aufgeregten und lächerlichen Leuten Vorbilder und Vorfahren zu sehen. Jede Epoche sieht die Vergangenheit so, wie sie sie sehen muß. Und die Reaktion brauchte den sentimentalen Pomp Wagners, der das Deutsche Reich mit jenem »Kaisermarsch« begrüßte, in dem ihn alle guten Geister verlassen hatten.)
Zu der Entdeckung der alten Germanen tritt noch ein Zweites, das die Ideologie des deutschen Kleinbürgertums nachhaltig beeinflußte: die blinde, fast masochistische Hochachtung vor dem Helden, dem
Helden und Heldenverehrung
Führer, die sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der deutschen Gemüter bemächtigt. Auch das steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den reaktionären Tendenzen der Romantik: die Idealisierung der Vergangenheit bedingte notwendig die Idealisierung und Heroisierung historischer Gestalten. Mit Hermann dem Cherusker begann es und endete mit Friedrich II., dem bekannten Helden unzähliger Lesebuchanekdoten.
Die blindwütige Heldenverehrung als typisch deutsch, als völkisch oder als germanisch ausgeben kann nur derjenige, der nicht die Urformen der germanischen Gesellschaft zum Vergleich heranzieht, sondern die verrotteten und korrumpierten Untertanenvölker der Merowinger- und der Karolingerzeit. Eine ideelle Verbindung zwischen dem germanischen, durchaus zweckbestimmten »Herzog« und Herrn Adolf Hitler herzustellen, ist ein halsbrecherisches Wagnis, zu dem die Tollkühnheit nationalsozialistischer Wissenschaftler gehört ...
Männer machen die Geschichte
Der Professor Heinrich von Treitschke in Berlin, ein Historiker von bedeutender stilistischer Begabung, aber platt und gewalttätig bis zur Unerträglichkeit, wurde in Anerkennung seiner Verdienste um die Heroisierung der Hohenzollern zum Historiographen des preußischen Staates ernannt und lieferte in dieser seiner Eigenschaft dem Volk jene These, auf deren bequeme Plattform sich der denkfaule und ängstliche Untertanenverstand jederzeit zurückziehen kann: »Männer machen die Geschichte!« Von der ungeheuren Verheerung, die dieser Satz in deutschen Schulen und Universitäten angerichtet hat, kann sich ein Außenstehender nur schwer eine Vorstellung machen. In dieser Behauptung ist die Sinnlosigkeit der Negierung wirtschaftlicher Grundtatsachen bis zur Vollendung übersteigert. Männer machen die Geschichte, und der Mann, den eine politische Partei oder eine hinter den Kulissen arbeitende Clique auf einen exponierten Posten geschoben hat, ist ein Held übermenschlichen Formats, gleichgültig, ob es sich um den Gewerkschaftssekretär Stegerwald oder um den strebsamen Bankangestellten Hjalmar Schacht handelt. Der Glaube an den politischen Messias, der Herrn Hitler die Wege geebnet hat, ist das Ergebnis kleinbürgerlicher Geschichtsauffassung, deren Wirksamkeit im Praktischen der herrschenden Klasse die Durchführung ihrer Pläne erst ermöglicht. Der Führer mit den übermenschlichen Eigenschaften, der Mann, der die Geschichte macht – die herrschende Klasse braucht sich nur schlüssig zu werden, wen sie dem Volk als diesen Führer servieren will, angenommen wird er auf jeden Fall. Einmal war es der Generaldirektor Wilhelm Cuno, heute ist es der Schriftsteller Hitler oder der Frontsoldat Brüning.
Ein Professor erzählt seinen Schülern von der Generalsansprache, die Friedrich d. Große vor Beginn des Siebenjährigen Krieges gehalten hat: »Meine Herren, nun beginnen wir also den Siebenjährigen Krieg ...« Dieser blutige Kalauer ist tausendmal Wirklichkeit geworden. Diese generöse Zubilligung übermenschlicher Eigenschaften hat Wilhelm II. dreißig Jahre lang das Air eines geschichtlichen Heros geben können, »um den uns die Welt beneidet«. Der Führer ist unfehlbar wie der Papst, hellseherisch wie der Salonexperimentator der letzten Saison, sittenstreng wie Cato und Robespierre und allmächtig wie der liebe Gott, zu dem er in äußerst engen Beziehungen steht.
Das Endergebnis dieser ideologischen Bemühungen bildet jener »Deutsche« des Kaiserreichs, vor dem ein Mann wie Friedrich Nietzsche in einen wahren Wutrausch des Entsetzens fiel: schlecht erzogen, vollmundig, bis in die Tiefe seiner Seele von seiner Gottähnlichkeit durchdrungen, das deutsche Schwert, die deutsche Ehre, schimmernde Wehr und gleißende Brünne, trocken das Pulver, scharf das Schwert, Dichter und Denker, deutsche Frauen, deutsche Treue, den deutschen Leutnant macht uns keiner nach ...
Und das Ende heißt Imperialismus, heißt Alldeutscher Verband, Krupp, Bagdadbahn, Flottenpolitik, Weltkrieg ...
Die Ideologie des deutschen Bürgers der Vorkriegszeit kennt nur Gradunterschiede: die feudalistischen Widerstände und die romantische Erfüllungssehnsucht manischer Idealisten münden gleicherweise in den 4. August 1914. Trotzdem wird von diesen Gradunterschieden zu reden sein, weil sie zehn Jahre nach der deutschen Revolution als lebenswichtige und zukunftsträchtige Ideen und Entwicklungslinien angesehen werden und in der Agitation der NSDAP eine bedeutende Rolle spielen.
Antikapitalistischer Idealismus
Wir sahen schon im Antisemitismus die Differenzierung in einen feudalistischen und einen kleinbürgerlichen Antisemitismus, in dem sich nichts anderes äußerte als ein dumpfer, nur nicht als ökonomisch erkannter Widerstand gegen die Entwicklung des Kapitalismus im Deutschen Reich. Dieselbe Erscheinung – ebenfalls von der Negation ausgehend, aber zu scheinbar positiven Zielen gelangend – sehen wir in jenen geistigen Strömungen, die ihre antikapitalistischen Neigungen in Übereinstimmung mit den Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts bringen wollen, mit der Wiederentdeckung des Germanentums und dem Glauben an den politischen Messias. In beiden sind sie die gewollte und widerstrebende Ergänzung zu Nietzsche, der dem Hochkapitalismus mit seiner Lehre vom Übermenschen und der blonden Bestie die ihm gemäße Philosophie geliefert hat.
Ursprung und Ausgangspunkt dieser kleinbürgerlichen Ideologen ist der Protestantismus, der Glaube an die Lebenswichtigkeit des Individuums, den Luthers Predigt von der Notwendigkeit eines persönlichen Verhältnisses zu Gott herbeiführen half.
Die instinktiven Abwehrbewegungen des antikapitalistischen Kleinbürgertums im Antisemitismus waren zwar schon genug mit Ideologie verbrämt und umlogen, aber ihre wirtschaftliche Grundlage ließ sich doch nicht verkennen. Vollendet war jene Entwicklung erst durch den »völkischen Gedanken«, der sich völlig von jedem realen Erlebnisgrund gelöst und entfernt hatte. Auch dieser »völkische Gedanke« trat zunächst auf als antikapitalistische Tendenz und fand seine Fundierung erst durch jene Ideologen, die sich selbst als Verkünder eines mystischen »deutschen Wesens« fühlten, als Apostel jener »deutschen Sendung«, von der sie selber nicht sagen konnten, worin sie bestände. Des deutschen Wesens jenseits der nationalen Phrase, das wir haben müßten, aber nicht haben, das erst noch »zu Wahrheit und Wirkung bei uns kommen müßte ...«
Paul de Lagarde
Jene nationalen Revolutionäre, die die Wendung der NSDAP zum Fascismus nicht mitgemacht, sondern die sich den Glauben an die Möglichkeit einer »Deutschen Revolution« bewahrt haben, sehen als einen der Väter dieser Revolution Paul de Lagarde an, den Göttinger Theologieprofessor, der in einer Unzahl von Schriften gegen die in Deutschland mehr und mehr als herrschend und zielgebend hervortretenden materialistischen, das heißt kapitalistischen Entwicklungslinien Stellung nahm. Er hielt ihnen das Ideal eines »Deutschtums« entgegen, das es in dieser Form niemals in der ganzen deutschen Geschichte gegeben hatte. Dieser idealistische Frondeur hat während seines Lebens nicht viel Erfolge gehabt: die Bedeutung seines Lebenswerks besteht vielmehr darin, daß heute ein Großteil seiner Ideen von der NSDAP annektiert worden ist. Hitler hat freilich Lagardes Namen niemals genannt: er darf es auch nicht, da er sich und wieder sich und sein heiliges Ich als den »Schöpfer« des Nationalsozialismus verkündet.
Revolutionärer Konservatismus
Lagarde sah als Rettung aus dem Nichts jenen »revolutionären Konservatismus« an, der in der ideologischen Wegbereitung des Nationalsozialismus eine so große Rolle spielt: Vaterland, aber ein idealistisches Vaterland; Privateigentum, aber keinen Kapitalismus; Unternehmerinitiative, aber keine Ausbeutung; Landesgrenzen, aber nur gerechte Kriege; Gottesglaube, aber ohne organisatorische Gewalten. Und das alles mit den Prädikaten »Deutsch« versehen. Das Ideal eines autoritären Nationalstaats mit monarchischer Spitze und ornamentiert mit Germanismen à la Tacitus.
»Wiederherstellen ist ein Rückschritt. Rückwärts müssen wir auch, allerdings nicht mehr zu irgendeiner irgendwann und irgendwo dagewesenen Periode der Geschichte, in der Meinung, daß sie allein schön gewesen und da capo zu spielen sei, nicht zu irgend einer Unfreiheit, als ob aus einem Erbbegräbnis hervorgekramte alte Stricke, zerfault wie sie sind, uns noch zu binden vermöchten: zurück müssen wir so weit, wie der falsche Weg uns seitab ins Holz geführt hat ... Jetzt stolpern wir über das nichtsnutzige Geröll der allgemeinen Bildung, des Kunstdusels, der Kannegießerei, der Ephemeridenweisheit, der Allmacht und Allgenügsamkeit des Staates, freilich immer weiter vorwärts, aber von der Richtung ab, in der wir gehen sollten ... Es gilt, die Einsicht zum Gemeingut des Volkes zu machen, daß konservativ und liberal nur verschiedene Seiten nicht derselben Sache, aber derselben Liebe sind ... Der Kern dieses Programms ist die Forderung einer Neuorganisation der Schulen, Universitäten, Kirchen, welche allesamt auf die Pflege ganz bestimmter Pflichten, den Ausdruck ganz konkreter und einzigartiger Individualitäten, die keusche Scheu vor den ihnen zur Hut übergebenen Menschen zu stellen sind. Die Zukunft wollen wir unserem Vaterland sichern: darum wollen wir es nicht auf den Bahnen belassen, auf denen es bisher gewandelt hat, auf den Bahnen einer christlich angetünchten heidnischen Vergangenheit ...«
Neuer Wein in alte Schläuche
Diese Worte Lagardes – in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben – geben Kunde von dem Aufbäumen des individualistischen Idealismus, der in der ökonomischen Entwicklung zu ersticken droht. Wie ja das ganze Leben dieses Mannes nichts war als ein Sich-Stemmen gegen eine Entwicklung, die sich nicht aufhalten noch abbiegen läßt.
Belanglosigkeiten? Man könnte über die rührenden Weltfremdheiten und wolkigen Wunschvorstellungen dieser Männer lächeln, sich vielleicht zu einem Feuilleton anregen lassen über den Idealismus, der sich verzweifelt gegen den Materialismus wehrt, und weiter nichts? Dreißig Jahre nach dem Tode Lagardes werden diese Belanglosigkeiten von der staunenden Welt als unerhörte Offenbarungen des erwachenden Deutschlands gefürchtet und bewundert. Und wie Lagarde seine hilflosen Versuche, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, den deutschen Idealismus mit der kapitalistischen Entwicklung in Einklang zu bringen, auf philosophische Faustformeln brachte, so wird heute in einem Wust von Mystik und heroischem Fatalismus die historische Tatsache versteckt, daß das Kleinbürgertum sich in Marsch gesetzt hat. Daß es mit stumpfer und wilder Entschlossenheit den Ausweg sucht aus jener Situation, in der es zwischen zwei Klassen erbarmungslos zermahlen wird. Und wieder glaubt es, daß die allgemeinen Bedingungen die besonderen Bedingungen seiner Befreiung seien; glaubt es, den Klassenkampf vermeiden zu können, wenn es sich in die Mystik rettet. Myo heißt: ich schließe die Augen.
Ideologie des Imperialismus
Diesen Glauben an die Gemeinsamkeit der Interessen nutzbar und aggressiv zu gestalten, konnte nicht schwer sein. Es war damals nicht schwer, als das Todesjahr Lagardes die Gründung des »Alldeutschen Verbandes« erlebte, und war es noch weniger als die Existenz Sowjet-Rußlands das deutsche Kleinbürgertum in die antikapitalistische Weltfront hineintrieb, als der Kleinbürger in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei die Verschmelzung der allgemeinen und der besonderen Bedingungen vollzogen glaubte und den Kampf gegen den Marxismus aufnahm. Gegen sich selbst ...
Die logische Konsequenz der erschauernd gefühlten »Sendung des deutschen Volkes«, die in dauerndem Widerstreit lag mit der »materialistischen« Richtung der deutschen Reichspolitik, ist der Imperialismus. Der Imperialismus nicht als ökonomische Tatsache, die auf einer anderen Ebene liegt als die gedanklichen Spielereien idealistischer Schwärmer, sondern der Imperialismus als Idee. Die Männer, die im Jahre 1891 den »Alldeutschen Verband« gründeten, gingen in ihren Proklamationen und bei ihren politischen Brandstiftungen nicht aus von ökonomischen Tatsachen, sondern umkleideten ihre Expansionsgelüste mit den schmückenden Beiwörtern der deutschen Geistigkeit. Nicht der Name und der Geist eines erfolgreichen Unternehmers war es, den sie für sich reklamierten, sondern der Geist des Hofhistoriographen Treitschke. Und der Justizrat Claß, der langjährige Vorsitzende jenes Verbandes, schrieb nicht ein Werk über die wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Imperialismus, sondern er ließ unter dem Pseudonym Einhart eine »Deutsche Geschichte« erscheinen, in der die ältesten Ladenhüter der historischen Methodik renoviert und frisch gestrichen die These von der deutschen Sendung glaubhaft machen sollten.
Justizrat Claß schreibt Bücher
Und sie taten es: Einharts Buch hat – wenn man dem buchhändlerischen Gewissen seines Verlegers vertraut – eine Auflage von mehr als hunderttausend Exemplaren erreicht. Die Männer, denen die Gewalttätigkeit des Deutschen Kaiserreichs immer noch nicht gewalttätig genug war, die päpstlicher als der Papst und bismarckischer als Bismarck sein wollten, ihnen genügte die kapitalistische Entwicklung Deutschlands nicht. Ihr stupides Säbelgerassel, ihre plumpe Anmaßung, ihr schauerlicher Mißbrauch des Adjektivums deutsch, ihre Hysterie, ihr mörderischer Chauvinismus – alles und jedes paßte in die Formel, die deutsche Dichter und Denker mit dem Phantom der »deutschen Sendung« geschaffen hatten.
Der »Alldeutsche Verband« wollte »dauernde Belebung des Deutschbewußtseins«. Und er belebte dieses Bewußtsein dadurch, daß er den Panthersprung nach Agadir als pazifistische Regung brandmarkte, daß er die Annexionen in Afrika lächerlich und unvollständig fand, daß er die Haltung der deutschen Militärs in den Kolonialkriegen schlapp und unmännlich nennen zu müssen glaubte, daß er eine Aggressivität der deutschen Außenpolitik verlangte, die folgerichtig zum Kriege führen mußte.
Prostitution des Universitätsprofessors
Aber auf den Rednertribünen der Alldeutschen standen nicht interessierte Unternehmer wie Mannesmann oder Thyssen – die Lebensäußerungen der Alldeutschen troffen von Beteuerungen der deutschen Sendung. Auf dieser Plattform tobte sich der hemmungslose Idealismus deutscher Universitätsprofessoren aus, die vor lauter Idealismus nicht sehen konnten, daß es auch in Deutschland so etwas wie eine Wirtschaft gab, die an dem Idealismus der anderen groß verdiente. Der ideologische Einfluß der Alldeutschen auf die kleinbürgerliche Intelligenz war deshalb erst recht bedeutend.
Spukhafte Erinnerung aus der Zeit des Krieges: ein rauchgeschwängerter Saal im Berliner Weinhaus Rheingold. Etwa hundert gutgekleidete Herren, die Zigarre im Mund, die Weinflasche vor sich auf dem Tisch. Der Gymnasiast, der bescheiden im Hintergrund sitzt, hört Namen, die ihn vor Ehrfurcht erstarren lassen. Ein bebrillter Professor mit gräflichem Namen liest von seinem Manuskript einen Vortrag über die Einkreisungspolitik Englands ab und weist haarscharf nach, daß der deutsche Idealismus und die Tüchtigkeit des deutschen Kaufmanns das perfide Albion zum Eintritt in den Weltkrieg veranlaßt hätten. Diskussion. Geschrei, wilde Gesten. Ein Universitätsprofessor in Hemdsärmeln: »Bethmann, dieser verbrecherische Schlappschwanz.« Deutsch, deutsch, deutsch. »Reims ist eine deutsche Stadt, Nancy ist eine deutsche Stadt, Warschau ist eine deutsche Stadt!« Das Kohlenbecken von Longwy, die Ukraine, die Notwendigkeit eines Flottenstützpunktes an der belgischen Küste: Kriegsziele. Ziele, die diskutiert werden müssen, nachdem man einem hungernden und sterbenden Volk jahrelang gepredigt hat, es habe kein anderes Ziel als das, sich gegen eine Horde aberwitziger Räuber zu verteidigen.
Das Ende des deutschen Idealismus? Seine logische Konsequenz.
Hitler und die Alldeutschen
»Die alldeutsche Bewegung hatte wohl recht in ihrer prinzipiellen Ansicht über das Ziel einer deutschen Erneuerung, war jedoch unglücklich in der Wahl ihres Weges. Sie war nationalistisch, aber leider nicht sozial genug, um die Masse zu gewinnen. Ihr Antisemitismus beruhte aber auf der richtigen Erkenntnis der Bedeutung des Rasseproblems und nicht auf religiösen Vorstellungen ...« Der so spricht, heißt Adolf Hitler. Und in diesen zwei Sätzen ist alles enthalten, was über den Antisemitismus und die deutsche Sendung von Tacitus bis Hugenberg zu sagen ist. Jenes Ventil für die antikapitalistischen Neigungen des Kleinbürgertums und dieser platte und ideenlose Chauvinismus – das ist der »völkische Gedanke«, das Lebensprinzip, unter dem nach dem Willen von sechseinhalb Millionen wahlfähiger Deutscher die Zukunft eines Sechzigmillionenvolkes stehen soll ...
Die Masse hat die alldeutsche Bewegung freilich nie in dem Sinne gewonnen, daß sie eine Massenpartei geworden wäre. Aber sie beherrschte die Vorstellungen der Masse doch so sehr, daß die schauerlichsten Giftblüten, die der Chauvinismus während des Krieges trieb, als die selbstverständlichsten Dinge von der Welt angesehen wurden. Er konnte dieses Ziel deshalb erreichen, weil die Ideologen des Kleinbürgertums tüchtige Arbeit geleistet hatten, im Frieden und besonders während des Weltkriegs. Das Kleinbürgertum glaubte. Es glaubte innig und leidenschaftlich an die deutsche Sendung, unter der der schwerindustrielle Alldeutsche freilich etwas anderes verstand als der idealistische Gelehrte.
Goethe und das Gelbkreuzgas
»Deutsche Reden in schwerer Zeit« – während des Krieges hielt in Berlin ein Dutzend der namhaftesten deutschen Universitätsprofessoren unter dieser Plakatierung Vorträge. Die Zeit war in der Tat schwer: man konnte sich nicht auf dialektische Spielereien einlassen. Man brauchte klare, knappe Formeln, man brauchte gegenständliche Argumente, die nicht erst in Jahrzehnten, sondern heute und morgen wirksam werden mußten. Der deutsche Idealismus löste auch diesen gesellschaftlichen Auftrag: es sprachen in jenen Vorträgen Theologen, Mediziner, Juristen und Historiker. Es bereitete ihnen keinerlei Schwierigkeiten, die Marokkopolitik mit der Geschichte der frühchristlichen Kunst, die Verschleppung der belgischen Zivilbevölkerung mit der ethischen Mission der Zahnheilkunde, die Aufwärtsentwicklung der Menschheit mit dem Gelbkreuzgas, Goethe mit dem Soldatenkönig und Christus mit der Notwendigkeit des uneingeschränkten U-Bootkrieges in friedliche und sinnvolle Harmonie zu bringen. Gewissensregungen wurden erschlagen mit dem Gewicht der These von der Polarität der deutschen Seele: »Potsdam und Weimar, die Wurzeln deutscher Kraft ...«
Opfer und Profit
Weil das idealistische Kleinbürgertum dem Imperialismus gräßlichste Menschenopfer brachte, mußte es auch die Ideologie liefern, die diesen Wahnsinn als den Sinn des Weltgeschehens erscheinen ließ: »das deutsche Schicksal, die deutsche Sendung«.
Sollen wir uns wirklich retten zu jenem blutigen Mysterium völkischer Bestimmung, wenn unsere Stirn an die granitene Verschmelzung von Idealismus und Imperialismus schlägt, von deutscher Sendung und Exportstatistik, von Opfer und Profit?
Man verlangt es von uns, und das Kleinbürgertum glaubt. Glaubt lieber an das unerfüllbare und unerfaßbare Geheimnis des Jenseitigen, als das Alltägliche und Selbstverständliche zu erfassen und zu durchdenken.
Es bleibt festzustellen: nicht einmal der Weltkrieg hat den ideologischen Einfluß der herrschenden Klasse auf das Kleinbürgertum vernichten können. Gewiß, man revoltierte dumpf gegen die dreiste Bevorzugung der Offiziere, man empörte sich über Kriegsgewinnler und durchhalterisches Maulheldentum, man begann drohend und verbissen nachzudenken über den Irrsinn des Krieges. Aber man ging nicht bis zum bitteren Ende: man flüchtete auch hier wieder in die Harmonieduselei vaterländischer Gemeinschaftsgefühle.
Es ist gleichgültig, ob man die Revolution nennen will den »Generalstreik einer erschöpften Armee«, oder ob man in ihr »die allgemeine Sehnsucht, Weihnachten 1918 bei Muttern zu feiern« sieht – ihre Wirkung im Ideologischen war nicht groß, im Politischen gering und im Ökonomischen gleich null. Daß sich auf dem Trümmerhaufen des alten Systems im Laufe weniger Jahre wieder jene Vorkriegsideologie des Kleinbürgertums entwickeln konnte, ist nichts Erstaunliches: es ist die notwendige Folge davon, daß die Revolution an der Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung zerschellte, daß sie vor der deutschen Wirtschaft haltmachte und so in einem Meer von Blut und Geschwätz ersoff.
Die deutsche Revolution ist nicht das Ende der deutschen Sendung, weil sie nicht das Ende des deutschen Kapitalismus geworden ist. Die Ideologie des Kleinbürgertums modifizierte sich und paßte sich den veränderten Verhältnissen an, aber es blieben in ihr alle diejenigen Grundtendenzen wirksam, die die »deutsche Seele« der Vorkriegszeit bestimmt und gebildet hatten.
Acherontisches Frösteln
Die deutsche Revolution stürzt das Kleinbürgertum in einen Abgrund von Ratlosigkeit und Verzweiflung. Es ist alles zusammengebrochen, was wie für die Ewigkeit gebaut schien. Hier und da flackert bedrohlich die Erkenntnis auf, daß die allgemeinen Bedingungen nicht die besonderen Bedingungen für die Befreiung des Kleinbürgertums seien. Aber diese Funken erlöschen schnell. Das Kleinbürgertum erfährt eine gewaltige Ausweitung seiner Grenzen. Durch die Auflösung der Armee werden Zehntausende alter Offiziere brotlos. Sie suchen nach Auswegen aus der seelischen Not und der materiellen Bedrücktheit. Sie flüchten sich in die Bürgerlichkeit und bringen in diese Lebenssphäre ihre ganze Unrast, ihre Daseinsangst, ihre aggressive Verzweiflung mit. Die Intelligenz befürchtet den Anbruch eines Zeitalters des Materialismus, das die Existenz geistiger Güter leugnet, die Kultur vernichten wird. Durch Bankpaläste und Konferenzzimmer geistert das Gespenst des Bolschewismus. Man sieht keine Zukunft, man sieht nur eine im Schimmer der Romantik erstrahlende Vergangenheit und eine Gegenwart, die man festhalten will, um die Zukunft zu verhindern, den Anbruch einer neuen Zeit.
Der Krieg und der Zusammenbruch haben die Wände des Salons eingerissen, in dem das Plüschideal kleinbürgerlicher Idealismen der Vorkriegszeit paradierte. Ein schneidender Luftzug weht durch das vermottete Gebäude. »Moralischer Verfall« nennen es die Reaktionäre. Gewiß – einiges stieß man um, anderes bröckelte von selbst ab, morsches Geröll: das Gebäude selbst bleibt.
Flucht in den Militarismus
Vor allem bleibt eines: das Militär. Der Bürger sieht in dem Freikorpsgeneral den Hüter der Ordnung. Balladeske Vorstellungen aus der Zeit der Freiheitskriege: Lützows schwarze Scharen, die Schillschen Husaren, der General Yorck von Wartenberg. Die Division des Generals von Lecquis wird nach Berlin gerufen, um die Revolution niederzuschlagen.
Die revolutionären Versuche der Spartakusbewegung werden erstickt. Die Sozialdemokratie proklamiert die Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Die Idee des Rätestaates, der Gedanke an die Diktatur des Proletariats wird aus der Geschichte der deutschen Republik gestrichen. In demselben Maße, wie die Verhältnisse sich stabilisieren und die Revolutionskämpfe aufhören, sieht das Kleinbürgertum in der Sozialdemokratie das große Sammelbecken der staatserhaltenden Kräfte, und aus den Wahlen zur Nationalversammlung geht die SPD als weitaus stärkste Partei hervor und bleibt es während der nächsten zwölf Jahre.
Kleinbürgertum und Sozialdemokratie
Kleinbürgertum und Sozialdemokratie – die Sozialdemokratie ist außerstande, in der Kürze der ihr zur Verfügung stehenden Zeit die ungeheuren Wählermassen, die ihr zuströmen, ideologisch zu durchdringen und so wird der Sozialismus korrumpiert durch die deutsche Sendung. Das Schicksal der deutschen Republik erfüllt sich, ehe noch ein Jahr seit dem 9. November vergangen ist.
Die Bourgeoisie geht vorsichtig und verschleiert aus ihren Defensivstellungen zum Angriff vor. Die Zeiten haben sich geändert. Man kann die Masse nicht gewinnen durch die Wiederaufrichtung des konservativen politischen Ideals des Kaiserreichs. Man muß Zugeständnisse machen. Die gute alte Zeit ist zu einer zweischneidigen Phrase geworden: man weiß nicht, ob die Unentschlossenen, auf die es ankommt, in ihr mehr den Obrigkeitsstaat der Unteroffiziere hassen oder dem Zustand größter wirtschaftlicher Blüte nachtrauern. Man muß sich umstellen.
Die Parteien der Reaktion, der Agrarier und der Industriellen, bleiben auch unter veränderter Bezeichnung ihrer Tradition treu. Vor allem zeichnet sie eins aus: das Wirtschaftliche versteht sich von selbst. Es wird nicht davon gesprochen. Die soziale Gesinnung des Unternehmertums steht so wenig in Frage, daß man darüber mit einigen achselzuckenden Floskeln hinweggeht. Die deutschnationale Volkspartei holt aus der Vergessenheit den uralten Grafen von Posadowski hervor, der einst als kaiserlicher Minister sich unbeliebt machte durch seine Äußerung: »Auch wir glauben an den Zukunftsstaat.« Der »rote Graf« wird zu einem Symbol, und die Partei der finstersten Reaktion will ihr Programm anerkannt haben als die Verschmelzung der drei Begriffe »national, sozial, christlich«.
Noch hält das Kleinbürgertum zur Sozialdemokratie. Noch sind die Parteien des Unternehmertums bescheidene Gruppen im Parlament. Aber die große Wendung deutet sich an.
Unterschätzung des Kleinbürgertums
Was ist jenes Kleinbürgertum, das zu einem Ordnungsferment der deutschen Republik geworden ist? Eine Klasse, die zwischen den Interessen zweier Klassen zerrieben wird, die zum Untergang bestimmt
ist, und die von selbst untergehen wird. Wie eines Tages ja auch der Staat von selbst absterben und die klassenlose sozialistische Gesellschaft gewissermaßen über Nacht Wirklichkeit werden wird ...
In diesen revisionistischen Gedankengängen, die die revolutionäre Entschlossenheit der Sozialdemokratie schon seit zwei Jahrzehnten gelähmt haben, offenbart sich die Unfähigkeit, das Kleinbürgertum ideologisch zu zersetzen. Die sozialistische Staatslehre hat von Friedrich Engels bis Karl Marx folgenschwere Wandlungen durchgemacht. Proben auf das Exempel fehlten bisher, und so glaubt man, die sozialistische Befreiung im Innern durchführen zu können, während die deutsche Republik durch den Friedensvertrag an den Ausbeutungswillen der kapitalistischen Staaten gebunden ist. Die »nationale« Befreiung wird stillschweigend aufgegeben zugunsten der Erfüllungspolitik, die – vielleicht – den Bestand der deutschen Republik sichern kann, unzweifelhaft aber den deutschen Sozialismus zum Untergang verurteilt.
Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Kapitalisten.
Zur Durchführung des außenpolitischen Programms des neuen Deutschlands braucht man die Unterstützung des Unternehmertums. Und je mehr Reparationszahlungen und Sachlieferungen in Fluß kommen, um so enger wird die Bundesgenossenschaft. Freilich nicht nur aus ideologischer Verschwommenheit oder etwa aus verbrecherischem Verrat an der Idee des Sozialismus: dieses Bündnis ist die notwendige Folge des Verzichts auf die nationale Befreiung, den die ungeheure Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit des deutschen Volkes, die »Harmonieduselei« des Kleinbürgertums und die Furcht vor dem revolutionären Proletariat herbeigeführt hat.
Das Ergebnis dieser Außenpolitik ist nicht die Befreiung im Inneren, sondern bedeutet tatsächlich eine Wiederherstellung der alten sozialen Zustände, gemildert und verschleiert durch »revolutionäre Errungenschaften«, die längst »abgebaut« sind, ehe man sich noch an die Existenz dieser Vokabel gewöhnt hat.
Niemand erkennt das schärfer als das Unternehmertum. Diese Erkenntnis, die schon im Jahre 1919 an Boden gewinnt, verändert die Frontstellung der Reaktion. Man hetzt nicht offen zum Proletariermord, man verzichtet auf jeden gewaltsamen Versuch einer Restaurierung; man führt einen hartnäckigen Stellungskrieg zäher, stiller Plänkeleien, die die Öffentlichkeit nicht bemerkt. Man benötigt keine Barrikaden und keine Kanonaden, man sitzt in Fraktionszimmern in tiefen Sesseln, man lustwandelt elegant durch die Wandelhallen der Parlamente, man unterhält sich kühl und höflich auf parlamentarischen Bierabenden, man trifft sich auf Gesellschaften, man anerkennt, daß auch auf der Gegenseite »nationale Männer« stehen – die Offensive des Unternehmertums geht lautlos vor sich wie eine Patrouillenunternehmung im nächtlichen Vorfeld der Schützengräben. Man fühlt vor, man verbessert seine Positionen Schritt für Schritt – und man hat die feindliche Stellung überrumpelt, ehe man dort überhaupt gemerkt hat, daß ein Angriff stattgefunden hatte.
Offensive des Unternehmertums
Freilich: es gibt auch Hitzköpfe, sture Kerle, die den Weg der Zeit immer noch nicht begriffen haben, denen die soziale Fiktion in den ehemals konservativen Parteien lästig und peinlich ist, die keine Konzessionen in der Form machen wollen, sondern immer gröber und unverhohlener die Notwendigkeit einer Restauration betonen. Die Frage »Monarchie oder Republik«, die längst stillschweigend zugunsten der Republik entschieden ist, scheint ihnen das wichtigste Problem. In den Ruf nach Abrechnung mit den »Novemberverbrechern« mischt sich selbstverständlich der Schrei nach Wiederherstellung der Monarchie. An jedem 27. Januar gehen Tausende von Glückwunschtelegrammen nach Doorn ab, wo Wilhelm II. noch immer zuversichtlich hofft, daß sich der Vorhang bald über dem »Rüpelspiel der deutschen Republik« senken müsse. Die »Lüge von der Alleinschuld Deutschlands am Kriege«, die prahlende Legende vom Dolchstoß, der das deutsche Heer kurz vor dem Endsieg getroffen habe, das sind die Pole, um die das Denken dieser Reaktionäre kreist, deren ausschweifende Hoffnungen im Kapp-Putsch explodieren.
Es sind mehr als nur Gradunterschiede, die die Offensive des Unternehmertums von der politischen Reaktion der Kreise um den Geheimrat Hugenberg und die mißvergnügten Militärs trennen. Dieser wesentliche Unterschied in den beiden Zielsetzungen kann nur deshalb verkannt werden, weil die unmittelbare Agitation beider Gruppen sich in gleicher Weise »gegen den Marxismus« richtet.
Veränderte Fronten
Das Unternehmertum will gar nicht die Wiederherstellung der alten Zustände schlechthin. Im Gegenteil: es mehren sich in diesen Kreisen die Stimmen, die mit Friedrich Engels die demokratische Republik für die dem Hochkapitalismus gemäßeste Staatsform halten. Wenn das Unternehmertum trotzdem Jahre hindurch an »schwarz-weiß-rot« und Kaisertum festhält, dann nur deswegen, weil eine vorzeitige Entdeckung der ökonomischen Grundlagen ihrer Angriffsstellung ihnen die Gefolgschaft der Massen genommen hätte. Und so versandete der Kapp-Putsch der Reaktionäre kläglich, weil ihm die Unterstützung der maßgebenden industriellen Kreise fehlte. Eine Erhebung des agrarisch-feudalistischen Junkertums muß im Jahre 1920 scheitern.
Die veränderten politischen Verhältnisse und die immer stärkere Ausprägung des Trustkapitals erfordern einen veränderten ideologischen Überbau. Und so muß man sich hier mit einer Gruppe konservativer Literaten beschäftigen, von denen die breite Öffentlichkeit kaum jemals etwas gehört hat, deren Wirken aber doch sehr folgenschwer geworden ist. Noch bevor Adolf Hitler überhaupt an die Gründung der NSDAP dachte, schrieb ein Mann namens Moeller van den Bruck ein Buch »Die dritte Partei«. Um diesen Mann, einen Auslandsdeutschen, der alle innerdeutschen Vorgänge nur in der Perspektive imperialistisch-außenpolitischer Zielsetzungen sehen konnte, sammelten sich junge Intellektuelle, die die Sturheit und Leere der reaktionären Agitation schmerzlich erkannten, die aber trotzdem klassenmäßig so gebunden waren, daß sie die Reaktion an sich bejahten.
Ist es verwunderlich, daß Moellers Versuche und die Arbeiten solcher Männer wie Stadtler und Stapel vor allem in industriellen Kreisen auf lebhafte Unterstützung stießen? Diese »Jungkonservativen« lieferten dem neudeutschen Imperialismus des Trustkapitals die ideologischen Verbrämungen ihrer ökonomischen Ziele.
Ideologische Umorientierung
Freilich: nach außen hin traten diese ideologischen Bemühungen kaum in Erscheinung. Es gab eine oder zwei Zeitschriften, die sich mit diesen Dingen beschäftigten, und weiter nichts. Aber plötzlich tauchten in den platten Schimpfereien der reaktionären Presse erstaunliche Formulierungen auf: man pöbelte nicht mehr, sondern man versuchte zu begründen. Und immer wieder schrieben in veränderter Form nationalistische Redakteure die Formulierung nach, die Moeller van den Bruck gefunden hatte: »Wir müssen die Revolution gewinnen!«
Bezeichnend für die Bedeutsamkeit dieser ideologischen Umorientierung ist die Tatsache, daß Moellers Buch lange nach seinem Tode, im Jahre 1931, unter dem überraschend veränderten Titel erscheinen konnte: »Das Dritte Reich.« Hitler hat die neuen Idealismen nur in organisatorische Formen gegossen, mit denen Moeller van den Bruck lange vor ihm eine junge Generation konservativer Intellektueller infiziert hat.
Diese Formulierungen halfen dem deutschen Fascismus, auch in solchen kleinbürgerlichen Kreisen Eingang zu finden, die sich ein gewisses Maß von geistigen Ansprüchen bewahrt hatten. Denn die Bedeutsamkeit solcher Erscheinungen wie Moeller van den Bruck und seiner Schüler – zu denen heute auch der revolutionär-nationalistische Kreis um den Schriftsteller Ernst Jünger gehört – hegt eben darin, daß sie alles andere eher sind als Plattköpfe, wie sie sich in dem nationalistischen Schrifttum bisher breitgemacht haben. Es sind Männer, die mit einer gefährlich-rabulistischen Logik begabt sind, die gut deutsch sprechen und schreiben können, und die unter anderem auch Marx gelesen haben und wenigstens versuchen, ihn zu widerlegen. Daß sie ihn falsch verstanden haben und im Grunde nichts anderes als das zu sagen wissen, was schon den ersten marxistischen Schriften immer wieder entgegengehalten worden ist – das übersehen weniger Urteilsfähige leicht.
Anerkenntnis der Revolution
Um diese energische Schwenkung zur Ideologie des Trustkapitals zu erkennen, braucht man nur Thesen wie die folgenden zu hören: »Wir wollen die Revolution gewinnen. Sie ist der Durchbruch einer geänderten Geistesverfassung und der sie begleitenden Selbsterkenntnis, oder die Revolution ist unser Untergang ... Seit der Revolution ist eine Veränderung mit uns allen geschehen. Das Volk ist jetzt vor Aufgaben gestellt, die nicht mehr für das Volk gelöst werden, sondern die das Volk selbst lösen muß ... Man kann eine Revolution bekämpfen, solange es noch Zeit ist und man den Glauben hat, daß die Hilfe, die einer Nation in ihrer Not gebracht werden soll, immer noch am ehesten von derjenigen Staatsform kommt, die bis dahin ihre beste Schutzform gewesen ist. Aber sobald eine Revolution einmal Tatsache geworden ist, bleibt dem Menschen, der politisch und geschichtlich denkt, nur übrig, von ihr als einer neuen Gegebenheit auszugehen, außer der es nunmehr keine andere gibt.«
Das sind neue Töne, die man im Nationalismus noch nicht gehört hat. Das sind keine blöden Pöbeleien mehr, das sind Ansätze zu einer ideologischen Durchdringung derjenigen Schichten, auf die es dem Trustkapital ankommt: des Kleinbürgertums und – des Proletariats.
Die Reaktion entdeckt das Proletariat
Jawohl: des Proletariats. Man beginnt mit der Ideenwelt des deutschen Proletariers zu spielen, man findet in dem Begriff »proletarisch« ein schicksalsmäßiges Etwas, das durchdacht und hingenommen werden muß; man fühlt, daß das Proletariat marschiert, man erkennt, daß nichts damit geholfen ist, diesen rollenden Massen das blutleere Ideal einer seligen Vergangenheit entgegenzuhalten, und man argumentiert unbefangen mit Begriffen, die dem Erlebnisbereich des Proletariers entnommen sind. Man leistet sich gefährliche Taschenspielerkunststücke: man versucht das Proletariat zu »nationalisieren«. Und nicht auf die stupide Art, mit der Hitler es versuchen wird.
Moeller van den Bruck gibt in seinem Buch eine große Auseinandersetzung mit allen politischen Ideen, die nach der Revolution in Deutschland wirksam sind: Revolutionär, proletarisch, liberal, konservativ, reaktionär ...
Und hier tauchen zum ersten Male die erstaunlichen Entlehnungen aus der Ideenwelt des Marxismus und Leninismus auf, die später die nationalsozialistische Agitation befähigen, die wahren Ziele der NSDAP zu verschleiern: »Marx kam niemals auf den Gedanken, zu fragen, ob ein Sozialismus der Menschen erst dann möglich war, wenn es einen Sozialismus der Völker gab: und ob nicht die Menschen erst dann leben können, wenn ihre Völker leben.«
»Das Deutschtum ist in Bewegung geraten. Es stockt. Es irrt. Es sucht Raum. Es sucht Arbeit und findet sie nicht. Wir werden zu einer proletarischen Nation. Und diesmal ist es die Intelligenz, die unter die ihr entsprechende Lebenshaltung sinkt. Aber die Intelligenz hat auch die Kraft, den Willen und die Fähigkeit, sich zu wehren. Sie führt, sie zeigt Auswege ...«
Resultat: Der Fascismus
Und sie führt das Kleinbürgertum geradeswegs dem Fascismus zu, in das Sammelbecken aller mißvergnügten Kleinbürger: in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.
Viel Lärm um nichts – man muß sehen, wie Moeller van den Bruck Himmel und Erde in Bewegung setzt, sich in die Mysterien der deutschen Seele versenkt, in kurzen Abrissen eine Übersicht über die ganze Weltgeschichte mit all ihren philosophischen und religiösen Ausstrahlungen gibt, um in der platten Gegenständlichkeit einer tagespolitischen These zu enden. »Das Volk« fühlt, denkt, glaubt, sehnt sich ... Wonach? Nach dem Führer!
Der Kleinbürger erschrickt vor dem Materialismus, der sich ihm in der Klassenkampfforderung kundgibt. Er umlügt sie, will sie nicht sehen, erklärt sie für einen kleinen Irrtum, setzt nicht den Zwang der ökonomischen Tatsachen als Motiv für den Klassenkampf, sondern flüchtet sich – in den Kampf an sich, in die Idee eines ständigen, sinnlosen und unbegreiflichen Krieges. Er macht aus dem Klassenkampf des Proletariers den Klassenkampf einer proletarischen Nation gegen eine kapitalistische, auf diese Art den Begriff »Nation« mit dem der »Klasse« identifizierend. So daß zum Beispiel bei Moeller van den Bruck folgende echt deutsche Rede an die deutschen Kommunisten entstehen kann: »Es ist notwendig, euch niederzukämpfen, und zwar mit allen Mitteln, wenn es sein muß, ja, euch zu vernichten, wenn ihr uns den Bürgerkrieg ins Land tragt. Dagegen bestreiten wir nicht, daß ihr Deutsche seid. Ihr seid sogar so echteste Deutsche, wie sie es immer gegeben hat. Ihr seid abgeirrte, querköpfige, toll gewordene Deutsche, die nicht wissen, was sie tun, aber jedenfalls Deutsche, die überhaupt etwas tun, Deutsche, die in Deutschland nach der Revolution einigermaßen selten geworden sind, und von denen wir nur bedauern, daß sie auf der falschen Seite und gegen einen eingebildeten Feind kämpfen, daß sie gegen Deutsche kämpfen und nicht als Deutsche gegen Franzosen und Polen, gegen deren Griff und Gier wir uns wehren müssen ...«
Der pervertierte Klassenkampf
Es ist dem Proletarier sehr gleichgültig, ob er »vernichtet« wird, weil er »den Bürgerkrieg« ins Land trägt, oder weil er ein »toll gewordener Deutscher« ist. Die Tatsache, daß er bekämpft werden muß, wenn er seine Klassenkampfenergien dahin richtet, wo es dem Unternehmertum unbequem ist, wird jedenfalls nicht nur nicht bestritten, sondern als ethische Notwendigkeit hingestellt. Denn die Revolution muß gewonnen werden, man muß auch aus den veränderten politischen Verhältnissen seinen Vorteil ziehen lernen.
Die Entwicklung zum Trustkapitalismus zwingt den deutschen Idealisten zur Flucht in die Mystik, in die Stimmung, die von allem Anbeginn an vorhanden war als dumpf revoltierendes Gefühl gegen die ökonomische Entwicklung, und das nun durch Mystik rationalisiert werden soll. Die Forderung steht fest: zurück aus dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes unter das Diktat einer herrschenden Klasse. Der Weg dorthin muß als notwendig bewiesen werden.
Das Buch Moeller van den Brucks endet typisch mit folgendem inhaltslosen und hilflosen Gestammel: »Der deutsche Nationalismus ist Streiter für das Endreich. Es ist immer verheißen und wird niemals erfüllt. Es ist das Vollkommene, das nur im Unvollkommenen erreicht wird ... Wir denken an das Deutschland aller Zeiten, an das Deutschland einer zweitausendjährigen Vergangenheit und an das Deutschland einer ewigen Gegenwart, das im Geistigen lebt, aber im Wirklichen gesichert sein will und hier nur politisch gesichert werden kann.«
»Stimmungen«
Es ist kein Zufall, daß Oswald Spengler, der die »Stimmung« des Chronisten in die Methodik der Geschichtswissenschaft eingeführt hat, gerade in den ersten drei Jahren nach der deutschen Revolution so gewaltige Erfolge mit seinem »Untergang des Abendlandes« gehabt hat. Ebensowenig wie es Zufall ist, daß derselbe Oswald Spengler bald ein beliebter Redner auf Kongressen der Schwerindustrie geworden ist und die Forderungen nach Steuersenkung für die Großindustrie durch unerhört geistvolle und sachkundige Parallelen aus allen Gebieten der Weltgeschichte als kulturmorphologisch bedingt nachweist.
»Liberalismus – Mechanismus – organische Anschauung – Sozialismus – alles ist Schicksal. Warum 1789, warum 1914? Frage nicht, lebe es!« Das ist die vollendete Hilflosigkeit einer Generation, die sich gegen die Anerkenntnis ökonomischer Grundtatsachen verzweifelt wehrt: der vollendete Fatalismus, der vollendete Irrsinn vom Nationalismus als Weltprinzip, das am Anfang dieser Untersuchung steht.
Aber diese Gedanken bewegen nicht eine Welt und nicht ein Volk. Sie spuken in den Köpfen einer kleinen Gruppe von Menschen, deren Bindung an den deutschen Idealismus ebenso stark ist wie ihre Verbundenheit mit der herrschenden Klasse. Es sind Luftgespinste, dialektische Spielereien, die den Gang der deutschen Politik nicht beeinflussen können, sondern nur eine Illustration zu Tatsachen und Entwicklungslinien bieten, die jenseits aller Erfassung durch das Mystische der deutschen Sendung liegen.
Das Kleinbürgertum dämmert ebenso unentschlossen in der deutschen Republik vor sich hin, wie es im Kaiserreich seine Unzufriedenheit mit den unzweckmäßigsten Mitteln abreagiert hat.
Nichts Neues unter der Sonne
Zu derselben Zeit, wo sich die konservativen Ideologen zum Angriff rüsten, wo in Freikorps und Geheimbünden sorglich die Begeisterung jener fernen Konterrevolutionskämpfe gehegt wird, wo die Antisemiten ihre Antibewegung zum völkischen Gedanken ausweiten, wo das Unternehmertum langsam die Vorteile der neuen Verhältnisse zu erkennen und auszuwerten beginnt – zu derselben Zeit spricht in München ein Mann namens Adolf Hitler zum erstenmal in großen Massenversammlungen. Was er sagt, ist nicht neu. Versuche, die Klassengegensätze zu verschleiern und aufzuheben durch Appelle an das soziale Verantwortlichkeitsgefühl der Unternehmer. Aufrufe zur nationalen Befreiung, die gleichbedeutend sei mit einer sozialen Befreiung. Die Predigt des völkischen Gedankens, zu dessen Vernichtung sich die internationale Judenschaft verschworen hat. Alles schon dagewesen. Alles schon vor ihm von anderen in die Tat umgesetzt. Neu ist nur die Totalität aller dieser reaktionären Kräfte in jener merkwürdigen Bewegung, die sich Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nennt.
Die praktischen Forderungen dieser Gruppe sind die gleichen wie die aller Reaktionäre: Los von Versailles, nieder mit der Verfassung von Weimar, Ausrottung des Sozialismus, der den Bolschewismus unmittelbar nach sich zieht, und Ausschaltung des Judentums in der deutschen Politik.
»Das Ganze immer noch ein krauses Gemisch; der säbelscheppernde Reaktionär, der teutsche Rauschebart, der nach Blutmysterien suchende Antisemiterich, die keusche, ganz in Weiß gekleidete Druidenjungfrau, alle waren sie auf dieser Plattform zu Gast.«
Inflation!
Nie wäre die wütende Agitation, die Hitler damals begann, über den engsten Rahmen der Münchener Lokalbedeutung hinausgegangen, wäre nicht mit elementarer Gewalt über das deutsche Kleinbürgertum eine Katastrophe hereingebrochen, die alle Hemmungen beseitigte, alle Harmonieduselei überwand und die politischen Kräfte dieser verachteten und gestaltlosen Klasse mobilisierte: die Inflation.
Antisemitismus, völkischer Gedanke, Versailles, Weimar, die deutsche Sendung, Kriegsschuldlüge, Ruhrbesetzung, nichts hat das Kleinbürgertum aus der tödlichen Entschlußlosigkeit zu wecken vermocht, in der es als Klasse zu erstarren drohte. Der Kleinbürger hat die Revolution hingenommen, wie er den Chauvinismus der Kriegszeit hingenommen hatte. Er hat das Ende der Revolution und die beginnende Offensive des Unternehmertums miterlebt, ohne sich seiner Lage bewußt zu werden. Alle politischen Katastrophen der Nachkriegszeit, alle ideologischen Erschütterungen, nichts hatte ihn zur befreienden Tat aufrütteln können.
Inflation! Der ungeheuerlichste Betrug, der jemals in der ganzen Weltgeschichte an einem Volk begangen worden ist. Die Vernichtung des Kleinbürgertums, die sich die Väter des Sozialismus als eine Folge der Revolution oder als das Endprodukt eines langwierigen ökonomischen Prozesses vorgestellt hatten, jetzt vollendet sie sich innerhalb weniger Monate. In einem Tempo, das auch die Besonnensten und Urteilsfähigsten blind macht für das, was um sie her vorgeht. Der Kleinbürger verliert den Halt, der Boden unter seinen Füßen wankt: die große Sintflut! Weltuntergangsstimmung! Chiliastische Ängste und Bedrückungen. Not, Verzweiflung, Zorn, Verachtung, der simple, unheimliche, banale Hunger, Umwertung aller Werte ...
Nahende Entscheidung
Und dies gigantische Erdbeben, das die ökonomische Grundlage des Kleinbürgertums in einem Ausmaß verändert, das niemand je für möglich und denkbar gehalten hat, bringt alle jene untergründigen Bewegungen an die Oberfläche, die seit Jahrzehnten schon im Kleinbürgertum rumorten und grollten. In einem einzigen Aufschrei der Rebellion, der Empörung entlädt sich alles, was jemals der Kleinbürger über seine Stellung im Staat und in der Wirtschaft gedacht und räsoniert hat: das Kleinbürgertum wird revolutionär.
Eine Entscheidungsstunde geht über Deutschland auf. Zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat steht eine vielgestaltige und gestaltlose Masse voller rebellierender Instinkte und revolutionärer Energien, die vom Proletariat nichts mehr unterscheidet als der Plunder einer Ideologie, die sinnlos geworden ist.
Aber es wiederholt sich dieselbe Erscheinung, die schon nach der Revolution zu erkennen war: selbst die vollendete Proletarisierung ist nicht kräftig genug, das Kleinbürgertum zu einem revolutionären Faktor im Sinne der sozialistischen Wissenschaft zu machen. Das Kleinbürgertum findet den Anschluß an das kämpfende Proletariat nicht. Es kann keine ökonomischen Zusammenhänge sehen. Es sieht Ursache und Wirkung in einem so grob kausalen Sinn, daß es gegenständliche Angriffspunkte sucht und – findet.
Die einen schreien: die Juden. Die andern: die Sozialisten! Die dritten: die Franzosen!
Nur einer ist, der immer wieder trommelt und schreit und gellt und brüllt: »Die Juden und die Franzosen und die Sozialisten! Los von Versailles! Nieder mit Weimar! Auf zum Kampf gegen das rote Berlin! Auf zum Kampf gegen die feindliche Besatzung an der Ruhr!«
Der Kleinbürger macht Revolution
Der große Trommler: Adolf Hitler. Und weil er verwegen und unbefangen genug ist, die heterogensten Elemente für eine und dieselbe Wirkung verantwortlich zu machen, weil er mit instinktivem Fingerspitzengefühl alles und jedes als feindlich nachzuweisen behauptet, was der Kleinbürger jemals als feindlich gefühlt hat, darum hat er die Masse.
Und es sind schon in diesem Augenblick Leute da, die dafür sorgen, daß er seinen Kampfrufen nicht auch noch den Appell zufügt: Gegen die Kapitalisten!
Das Kleinbürgertum beginnt Revolution zu machen.
Aber es taumelt auf diesem Wege, der zu seinem Untergang führen muß und wird, hinter der roten Fahne mit dem schwarzen Hakenkreuz her.
Und vor ihm tanzt, spreizt und überschreit sich nicht ein Revolutionär, sondern ein Kleinbürger: Herr Adolf Hitler, Schriftsteller aus Braunau am Inn.
Das Kleinbürgertum ist in Bewegung geraten, es rebelliert, aber es glaubt immer und immer noch, die allgemeinen Bedingungen seien die besonderen Bedingungen für die Befreiung seiner Klasse. Und neben dem Postsekretär geht der General außer Diensten, neben dem Bankangestellten der Studentensohn aus reichem Hause, neben dem stellungslosen Akademiker der arbeitslose Proletarier mit der Sehnsucht nach kleinbürgerlicher Gehobenheit: so schickt sich das Kleinbürgertum an, seinen Siegeszug durch Deutschland anzutreten.
Und über diesem Flagellantenzug geistert das Gespenst der deutschen Sendung ...