Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Ich bin jetzt 40 Jahre. Ich muß endlich an die Macht kommen.«
Adolf Hitler.
Lob der Betriebsamkeit
Der Entwicklungsweg der NSDAP von der Gründung der »Deutschen Arbeiterpartei« bis zur Katastrophe vom 9. November 1923 wird im Bericht nationalsozialistischer Chronisten von einer Unzahl Anekdoten umrankt, die sich alle um die unermüdliche Betriebsamkeit Adolf Hitlers drehen. Man vergißt, wie wenig damit über die politische Bedeutung der Partei in den Jahren 1920 bis 1923 ausgesagt ist, wenn man nichts anderes zu preisen weiß als die hysterische Geschäftigkeit eines ehrgeizigen jungen Politikers.
Aber man kann ja gar nicht anders; eine ernsthafte historische Untersuchung ohne Heldenpoesie müßte die Feststellung ergeben, daß bei aller Anerkennung der propagandistischen Geschicklichkeit der ersten Nationalsozialisten niemals die innere Kraft der NSDAP für ihren Massenerfolg verantwortlich zu machen ist, sondern Triebkräfte, die in den Zielsetzungen reaktionärer und separatistischer Kreise ihren Ursprung haben.
Hitler übertreibt maßlos die Widerstände, die die NSDAP angeblich zu überwinden hatte. Er gleicht darin seinem großen Vorbild Mussolini, der ebenfalls die Welt glauben machen will, der Fascismus in Italien sei einzig und allein durch die ihm innewohnende ideelle und brachiale Schlagkraft zur Macht gelangt.
Kleine Irrtümer
In seinem blumigen Bericht über die Anfangszeit der Partei, dem Hitler die Überschrift gibt »Das Ringen mit der roten Front«, vergißt er völlig auf eine Tatsache hinzuweisen, die der damalige Leiter der politischen Abteilung im Polizeipräsidium München, der Oberamtmann Dr. Frick, in seiner Aussage im Hitler-Ludendorff-Prozeß erwähnt: »Als ich Vorstand der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums wurde, war die nationalsozialistische Partei noch klein und hätte leicht unterdrückt werden können. Wir taten es aber bewußt nicht. Wir hielten unsere schützende Hand über Herrn Hitler, weil wir darin den Keim zu Deutschlands Erneuerung sahen. Wir haben uns damals gesagt, daß es sich bei einer so jungen Partei gar nicht vermeiden läßt, eine gewisse Freiheit zu geben. Kahr hat die Haltung des Polizeipräsidiums stillschweigend geduldet ... «
Die »schützende Hand« der bayerischen Staatsgewalt, von der der offenherzige Frick spricht, das ist jenes Bündnis einer pseudo-sozialistischen Partei mit den Mächten der Reaktion, aus dem sich die NSDAP in keiner Periode ihres Bestehens hat lösen können. Zu den ideologischen und soziologischen Voraussetzungen, auf die die nationalsozialistische Agitation anfangs traf, kam die energische Förderung der bayrischen Klerikalen und der schwerindustriellen Putschisten. Beide glaubten, die junge Bewegung als Stoßtrupp für die Erreichung ihrer Privatinteressen ausbilden und einsetzen zu können. So ist die Katastrophe vom 9. November 1923 nichts anderes als die Folgeerscheinung jener politischen und ökonomischen Veränderungen, die im Herbst des Jahres 1923 die Geschichte der Deutschen Republik bestimmt haben, und deren Unkenntnis Hitler die ihm zugedachte Rolle vergessen ließ.
Hier bleibt nichts, als durch einige Daten den äußeren Entwicklungsgang der NSDAP von 1920 bis 1923 zu illustrieren.
Mitglied Nr. 7
Hitler, der vor einigen Monaten in die deutsche Arbeiterpartei als Mitglied Nr. 7 eingetreten war, hatte schon vorher in seiner Eigenschaft als »Bildungsoffizier« den Diplomingenieur Gottfried Feder kennengelernt, einen volkswirtschaftlichen Dilettanten, der in monomanischer Ausschließlichkeit bereits seit Jahren die »Brechung der Zinsknechtschaft« als Allheilmittel gegen alle sozialen und politischen Nöte Deutschlands gepredigt hat. Etwa mit dem Eintritt Feders in die Arbeiterpartei fällt die Namensänderung in »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« zusammen.
Am 24. Februar 1920 gelingt es der NSDAP zum erstenmal, eine Massenversammlung im Münchener Hofbräuhaus zustande zu bringen. Auf Plakaten, als deren Farbe in bewußter Angleichung an die sozialistischen Parteien rot gewählt worden ist, wird diese Massenversammlung folgendermaßen angekündigt: »In unermüdlicher Hetzarbeit versuchen die Agenten des internationalen Börsen- und Leihkapitals, Deutschland reif zu machen zum Zusammenbruch, um Staat und Wirtschaft dann in den Besitz internationaler Finanzkonsortien zu bringen ... Voraussetzung dafür ist die Zerfleischung und Schwächung unseres Volkes. Daher der wütende Kampf der Söldlinge des internationalen Großkapitals gegen eine Partei, die sich zum Unterschied mit allen übrigen nicht zusammensetzt aus Bourgeois und Proletariern, sondern aus den schaffenden Arbeitern des Geistes und der Hand unseres Volkes. Nur sie allein können und werden die Träger des zukünftigen Deutschlands sein.«
Das Debut
Bereits diese erste Verlautbarung der jungen Partei weist alle Wesenszüge auf, die einer kleinbürgerlichen Rebellion eigentümlich sind: die Ableugnung aller Klassengegensätze und die Predigt einer Volksgemeinschaft; die Unfähigkeit, ökonomische Zusammenhänge als solche zu erkennen und die Sucht, sie in grob kausalem Sinne als Ergebnisse höchst persönlicher Verschwörungen und Komplotte gegen das Leben des Vaterlandes anzusehen. Das alles verschmiert mit antisemitischen Tendenzen und der Phraseologie der »Deutschen Sendung«.
Außer einem Referat Adolf Hitlers: »Der Arbeiter im Deutschland der Zukunft« kündigt man eine programmatische Erklärung der jungen Partei an.
Hitler berichtet in seinen Memoiren mit all jener Gefühlstiefe, deren seine Feder fähig ist, von der weihevollen Stunde, da einem ergriffen lauschenden Publikum von Münchener Kleinbürgern zum erstenmal die 25 Sätze der neuen Bewegung bekanntgegeben wurden, die als »Programm« zu bezeichnen und mit außerordentlich bedenklichen Beschwörungsformeln zu versehen, Herrn Hitler und Gottfried Feder eine böse Stunde der Leichtfertigkeit eingegeben hat:
»Das Programm der nationalsozialistischen Arbeiterpartei ist ein Zeit-Programm. Die Führer lehnen es ab, nach Erreichung der im Programm aufgestellten Ziele neue aufzustellen, nur zu dem Zweck, um durch künstlich gesteigerte Unzufriedenheit der Massen das Fortbestehen der Partei zu ermöglichen.
Das Urprogramm
1. Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu einem Groß-Deutschland.
2. Wir fordern die Gleichberechtigung des Deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen, Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain.
3. Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedelung unseres Bevölkerungs-Überschusses.
4. Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.
5. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremden-Gesetzgebung stehen.
6. Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen. Daher fordern wir, daß jedes öffentliche Amt, gleichgültig welcher Art, gleich, ob im Reich, Land oder Gemeinde, nur durch Staatsbürger bekleidet werden darf.
Wir bekämpfen die korrumpierende Parlamentswirtschaft einer Stellenbesetzung nur nach Parteigesichtspunkten ohne Rücksichten auf Charakter und Fähigkeiten.
7. Wir fordern, daß sich der Staat verpflichtet, in erster Linie für die Erwerbs- und Lebensmöglichkeiten der Staatsbürger zu sorgen. Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung des Staates zu ernähren, so sind die Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger) aus dem Reiche auszuweisen.
8. Jede weitere Einwanderung Nicht-Deutscher ist. zu verhindern. Wir fordern, daß alle Nicht-Deutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden.
9. Alle Staatsbürger müssen gleiche Rechte und Pflichten besitzen.
10. Erste Pflicht eines jeden Staatsbürgers muß sein, geistig oder körperlich zu schaffen. Die Tätigkeit des Einzelnen darf nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern muß im Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen.
Daher fordern wir:
11. Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens. Brechung der Zinsknechtschaft.
12. Im Hinblick auf die ungeheuren Opfer an Blut und Gut, die jeder Krieg vom Volke fordert, muß die persönliche Bereicherung durch den Krieg als Verbrechen am Volk bezeichnet werden. Wir fordern daher restlose Einziehung aller Kriegsgewinne.
13. Wir fordern die Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trusts) Betriebe.
14. Wir fordern Gewinnbeteiligung an Großbetrieben.
15. Wir fordern einen großzügigen Ausbau der Alters-Versorgung.
16. Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstands und seine Erhaltung, sofortige Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende, schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbetreibenden bei Lieferung an den Staat, die Länder oder Gemeinden.
17. Wir fordern eine unseren nationalen Bedürfnissen angepaßte Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes für unentgeltliche Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke. Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation.
18. Wir fordern den rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemeininteresse schädigen. Gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse.
19. Wir fordern Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemein-Recht.
20. Um jedem fähigen und fleißigen Deutschen das Erreichen höherer Bildung und damit das Einrücken in führende Stellungen zu ermöglichen, hat der Staat für einen gründlichen Ausbau unseres gesamten Volksbildungswesens Sorge zu tragen. Die Lehrpläne aller Bildungsanstalten sind den Erfordernissen des praktischen Lebens anzupassen. Das Erfassen des Staatsgedankens muß bereits mit dem Beginn des Verständnisses durch die Schule (Staatsbürgerkunde) erzielt werden. Wir fordern die Ausbildung geistig besonders veranlagter Kinder armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand oder Beruf auf Staatskosten.
21. Der Staat hat für die Hebung der Volksgesundheit zu sorgen durch den Schutz der Mutter und des Kindes, durch Verbot der Jugendarbeit, durch Herbeiführung der körperlichen Ertüchtigung mittels gesetzlicher Festlegung einer Turn- und Sportpflicht, durch größte Unterstützung aller sich mit körperlicher Jugendausbildung beschäftigenden Vereine.
22. Wir fordern die Abschaffung der Söldnertruppe und die Bildung eines Volksheeres.
Ȇb immer Treu und Redlichkeit
23. Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen die bewußte politische Lüge und ihre Verbreitung durch die Presse. Um die Schaffung einer deutschen Presse zu ermöglichen, fordern wir, daß:
a) sämtliche Schriftleiter und Mitarbeiter von Zeitungen, die in deutscher Sprache erscheinen, Volksgenossen sein müssen;
b) nichtdeutsche Zeitungen zu ihrem Erscheinen der ausdrücklichen Genehmigung des Staates bedürfen. Sie dürfen nicht in deutscher Sprache gedruckt werden.
c) jede finanzielle Beteiligung an deutschen Zeitungen oder deren Beeinflussung durch Nicht-Deutsche gesetzlich verboten wird und fordern als Strafe für Übertretungen die Schließung einer solchen Zeitung sowie die sofortige Ausweisung der daran beteiligten Nicht-Deutschen aus dem Reich.
Zeitungen, die gegen das Gemeinwohl verstoßen, sind zu verbieten. Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen eine Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluß auf unser Volksleben ausübt, und die Schließung von Veranstaltungen, die gegen vorstehende Forderungen verstoßen.
24. Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen.
Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.
25. Zur Durchführung alles dessen fordern wir die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches. Unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über das gesamte Reich und seine Organisationen im allgemeinen.
Die Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten.
Die Führer der Partei versprechen, wenn nötig unter Einsatz ihres eigenen Lebens, für die Durchführung der vorstehenden Punkte rücksichtslos einzutreten.«
Inflation von Aposteln
Ein Jünger Hitlers – Erich Czech-Jochberg – beschreibt den Eindruck dieser ersten Massenversammlung folgendermaßen: »Hitler war zu Ende. Die letzte These drang wie ein Strahl in die Menschen unten, die dastanden, das Draußen und Drinnen vergessend, die Zwiesprache hielten mit dem Redner ... Und als dieser mit einem Male nicht mehr sprach, da mußten sie sich einen Augenblick besinnen. Dann erzitterten die meterdicken alten Hofbräuhausmauern von der Brandung des Beifalls, die an den Wänden hochsprang. Langsam leerte sich der Saal. Zweitausend Apostel einer neuen Arbeiterbewegung gingen in die Kantinen und Arbeiterkolonien, in die Cafés und an die Stammtische, in die Korpshäuser und Hörsäle, in die Werkstätten und Handwerkerstuben ...«
Sieht man von der leichten Übertreibung ab, daß alle diejenigen Teilnehmer dieser Versammlung, die ihr Mißfallen nicht zum Ausdruck brachten, ohne weiteres zu den »Aposteln« gezählt werden, dann bleibt die Frage übrig, was diese anderen denn eigentlich überzeugt haben mag. Die programmatischen Versuche Hitlers? Dieses Sammelsurium von Phrasen und mißverstandenen Theorien aller Romantiker unter den deutschen Volkswirtschaftlern von Friedrich List bis Othmar Spann und Gottfried Feder?
Motiv der Wirkung
Kaum. Man muß nach anderen Erklärungsmöglichkeiten suchen. Die »suggestive Beredsamkeit des Herrn Hitler«, der sich sogar der kluge General von Lossow nicht entziehen konnte? Vielleicht.
Aber es bleibt auch hier ein Rest, der nicht mit psychologischen Maßstäben ausgemessen werden kann. Die »neue Arbeiterbewegung«, die die Männer der NSDAP geschaffen zu haben glaubten, stützte sich zunächst nicht auf die Proletarier. Wir sahen, welch soziologisches Chaos die Niederwerfung der Räterepublik in München geschaffen hatte, wie sich die Entwurzelten aller Schichten in der bayerischen Metropole zusammendrängten, wie sie ein Ventil suchten für ihre Daseinsangst, und wie Hitler ihnen dieses Ventil dadurch geschaffen hat, daß er den Nationalismus, der im Gehirn des Kleinbürgers nach der Revolution unlösbar mit dem Begriff der Reaktion verbunden war, aus dieser Fessel löste und ihn sozial maskierte.
Für die Feststellung, daß in dem Ideenkreis der NSDAP der sture Nationalismus an der ersten Stelle stand, und daß die Fiktion des Sozialismus von allem Anfang an nur als Kulisse gedient hat, dafür gibt es einen unverdächtigen Kronzeugen: Adolf Hitler selbst.
Hitler ist von einer gefährlichen Schwatzhaftigkeit. Er hat kein Bedenken, selbst solche Dinge auszusprechen, die im Interesse der Wahrung seiner sozialen Fiktion besser ungesprochen geblieben wären. In seinen Memoiren widmet er mehrere Seiten der Beschreibung des Eindrucks, den nach der Revolution die politischen Versammlungen der reaktionären Parteien auf ihn gemacht haben. Und er findet hier den sehr bezeichnenden Vergleich: »Sie übten auf mich denselben Eindruck aus wie in meiner Jugend der befohlene Löffel Lebertran. Man soll ihn nehmen, und er soll sehr gut sein, aber er schmeckt scheußlich.«
Abgrenzung gegen die Reaktion
Man kann aus den langatmigen Ausführungen Hitlers ohne weiteres den Schluß ziehen, er sei mit dem, was in jenen Versammlungen inhaltlich vorgebracht worden ist, durchaus einverstanden gewesen, nur die Form, der Rahmen, das ganze Drum und Dran dieser Versammlungen habe ihm nicht behagt. So schildert er beispielsweise den Verlauf einer Versammlung, die in München zur Erinnerung an die Schlacht bei Leipzig stattgefunden hat. Man bekommt nicht ein einziges Wort der Kritik zu hören über das, was »ein würdiger alter Herr Professor« zu sagen gehabt hat. Aber man erfährt, daß Hitler das matte Absingen des Deutschlandliedes aufrichtig empört hat: »Da braucht der Minister für Ruhe und Ordnung wirklich keine Angst zu haben, ... daß plötzlich im Rausche der Begeisterung die Menschen aus dem Saale strömen, nicht um ins Café oder ins Wirtshaus zu eilen, sondern um in Vierreihen in gleichem Schritt und Tritt mit ›Deutschland hoch in Ehren‹ durch die Straßen der Stadt zu marschieren ...«
Im Rausche der Begeisterung? Welcher Begeisterung? Der nationalistischen. Und nun schildert Hitler mit einer erstaunlichen Unbefangenheit, wie er alle und jede Einzelheit der nationalsozialistischen Propagandataktik blindlings von den verhaßten »Roten« übernommen hat, um der nationalistischen Begeisterung auf die Beine zu helfen: die schreiend rote Farbe der Fahnen und Plakate, den straffen Versammlungsschutz, die »blinde Disziplin des Marxismus« ...
Die Sorgen eines Propagandachefs
Der Nationalsozialismus schafft sich eigene Symbole, die rote Fahne mit dem weißen Kreis und dem schwarzen Hakenkreuz im bewußten Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien. Aber Hitler fühlt sich veranlaßt, diesen Gegensatz, der doch angeblich in einer grundlegenden Verschiedenheit der Weltanschauung liegen sollte, ausgiebig zu erklären und als das bessere taktische Mittel nachzuweisen. Nur hört man nichts davon, ob dieses Ziel, das mit diesen Agitationsmitteln erreicht werden soll, nun ein anderes ist als dasjenige, das die verspöttelten »bürgerlichen Parteien« verfolgen.
Jener ersten Massenversammlung vom 24. Februar 1920 folgt fast unmittelbar der Kapp-Putsch. Das Jahr 1920 ist der stürmischen Entwicklung der NSDAP nicht sonderlich günstig: die Erfolge des Staatsstreichs in Bayern haben eine Konsolidierung der Verhältnisse zur Folge. Die Bayerische Volkspartei, das politische Instrument des Klerus, gewinnt an Boden. Es gelingt ihr, vor allem die bäuerliche Bevölkerung des Freistaats wieder unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. Die innenpolitische Agitation der Nationalsozialisten hat sich hauptsächlich an der Koalition zwischen Zentrum und Sozialdemokratie entzündet, die vor dem Kapp-Putsch in Bayern bestand. Die katholische Bevölkerung Bayerns sieht in der taktischen Schwenkung der bayerischen Volkspartei eine einschneidende Veränderung. Man glaubt den Deklamationen der bayerischen Ultramontanen, wenn sie in ihren amtlichen Verlautbarungen die Koalitionspolitik der Zentrumspolitiker im Reich zu sabotieren scheinen. Man sieht den Einfluß des Klerus täglich wachsen und gewöhnt sich an eine Wiederherstellung der alten Zustände, durch die dem Nationalsozialismus die Agitationsmöglichkeit entzogen wird.
»Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«
Immerhin hat die junge Partei aber durch freiwillige Spenden einflußreicher und reicher Freunde so an Kapitalskraft gewonnen, daß Hitler im Dezember 1920 den »Münchener Beobachter« kaufen kann, der nun als »Völkischer Beobachter« das Zentralorgan der NSDAP wird.
Die Sachlage ändert sich, als außenpolitische Komplikationen das Restaurierungswerk der bayerischen Reaktion stören. Im Januar 1920 soll das Pariser Abkommen, in dem Deutschlands Kriegsschuld auf hundert Milliarden Goldmark festgesetzt worden ist, durch das sogenannte »Londoner Diktat« ratifiziert werden. Die Empörung, die dieses Diktat in Deutschland hervorruft, können die bürgerlichen Parteien nicht für ihre Zwecke nutzbar machen: bei aller prinzipiellen Bereitwilligkeit, den Revanchekrieg gegen die Entente jetzt schon beginnen zu lassen, sind sich die militärischen Fachleute der Nationalisten klar darüber, daß ein solches Unternehmen von vornherein zum Mißlingen verurteilt ist. Die Sozialdemokraten – deren Energien restlos von der Stabilisierung der deutschen Republik in Anspruch genommen sind – raffen sich zwar zu energischen Protesten auf. Aber diese Proteste bleiben wirkungslos, weil hinter ihnen der Wille erkennbar bleibt, auf keinen Fall die ruhige Entwicklung Deutschlands durch kriegerische Abenteuer stören zu lassen.
Versammlungsflut
Diese außenpolitische Situation benützt die NSDAP zu einem umfassenden und erfolgreichen Propagandafeldzug. Hitler setzt sich in Gegensatz zu der völkischen Arbeitsgemeinschaft, die ebenfalls eine große Protestaktion in Szene setzen will, wartet deren Weisungen nicht ab, sondern beruft eine Versammlung der NSDAP in den Zirkus Krone ein. Vor sechstausend Menschen spricht er über das Thema »Zukunft oder Untergang« und erreicht mit diesem sichtbaren Erfolg seiner Massenpropaganda, daß die NSDAP von den Nationalaktivisten Bayerns endgültig als politischer Faktor gewertet wird, mit dem zu rechnen ist.
Am 11. Februar spricht Hitler vor zweitausend Studenten im Hofbräuhaus über »Deutsche Jugend, Deutsche Zukunft«. Am 24. an derselben Stelle über »Ein Jahr deutsche Geschichte und unser Programm.« Und von nun an reißt die Kette der nationalsozialistischen Massenversammlungen nicht ab.
Freilich: die organisatorischen Erfolge dieser agitatorischen Bemühungen bleiben zunächst noch gering. Der größte Teil von Hitlers Zuhörern ist bereits organisiert: in den bayerischen Selbstschutzverbänden, in Kriegervereinen, im Stahlhelm, im Jungdeutschen Orden. Aber trotzdem gelingt die Bildung von Keimzellen in den bayerischen Städten.
Die Sozialdemokratie Münchens wehrt sich verzweifelt gegen den Aufschwung des Nationalsozialismus. Der Abgeordnete Auer beruft in einem Monat fünf große Versammlungen ein. Hitler spricht in zehn Versammlungen. Und da sich allmählich die Taschen der bayerischen Industriellen, die bisher nur die Protektoren der Einwohnerwehren gewesen sind, auch für die NSDAP öffnen, machen Propaganda und Massenversammlungen keine Schwierigkeiten mehr.
Unter dem gemeinsamen Ansturm der klerikalen und nationalsozialistischen Agitation verliert die Sozialdemokratie in München immer mehr an Boden. Entschlossene Proletarier versuchen, Hitlers Versammlungen zu sprengen und haben zunächst damit auch Erfolge.
Münchhausens Erzählungen
Hitler und die nationalsozialistischen Chronisten stellen es aus begreiflichen Gründen so dar, als habe es sich hier um den von langer Hand vorbereiteten Terror weitaus überlegener Kräfte gehandelt. In einigen der von Parteigenossen geschriebenen Parteichroniken erfährt man sogar von tausend organisierten »Roten«, die einmal von der Parteileitung der SPD in eine nationalsozialistische Versammlung geschickt worden seien. Was von diesen Zahlenangaben zu halten ist, geht daraus hervor, daß der nationalsozialistische Saalschutz von ganzen 45 Mann diese riesige Sprengkolonne aus dem Saale werfen konnte!
Am 4. November wird ein Sprengversuch kommunistischer Arbeiter mit einer Saalschlacht beantwortet, die man pathetisch als die »Geburtsstunde der Sturmabteilungen« zu bezeichnen pflegt. Seine Erfahrung in der Technik von Massenversammlungen hat Hitler schon frühzeitig davon überzeugt, daß das durchschlagendste Argument in geistigen Auseinandersetzungen die brutale Gewalt ist. Das Verprügeln von Zwischenrufern und unbequemen Diskussionsrednern wird zu einem freundlichen Brauch, der fortan in allen nationalsozialistischen Versammlungen geübt wird.
Bezeichnend für die Entwicklung der SA ist die Tatsache, daß jene »Ordnertruppe« nach der Saalschlacht vom 4. November plötzlich in »Sturmabteilung« umgetauft wird. Offiziere der alten Armee finden sich genug in München, die sich der militärischen Durchbildung jener Sturmabteilungen annehmen, aus denen sich bald eine regelrechte Bürgerkriegsarmee entwickelt, die zu Beginn des Jahres 1923 bereits in München und Oberbayern allein sechstausend gut bewaffnete und gut gedrillte Leute umfaßt.
Die Jagd nach der eigenen Note
Trotz allen gegenteiligen Versicherungen der Nationalsozialisten waren die größten Gefahren für den Aufschwung des Nationalsozialismus nicht bei der »roten Front«, sondern im Lager der Reaktion zu suchen. Wir haben gesehen, daß die ideologische und politische Abgrenzung der NSDAP gegen die Parteien der Reaktion und des bayerischen Separatismus die schwierigste Aufgabe war, die Hitler in München vorfand. Die Katastrophe vom 9. November 1923 ist ja nur erklärlich, wenn man die grundlegenden Interessenkonflikte erkennt, die seit Bestehen der NSDAP immer zwischen den einzelnen Richtungen der nationalen Aktivisten bestanden haben, aber freilich hinter dem dichten Nebel idealistischer Zielsetzungen verschwanden.
Trotzdem ist dieser Interessenkonflikt im nationalistischen Lager die einzige Tatsache, die für den weiteren Entwicklungsgang der NSDAP entscheidend geworden ist.
Die »deutschvölkische Freiheitspartei«
Im Jahre 1922 droht der Partei eine Gefahr, die Adolf Hitler wichtig genug erscheint, um in druckbogenlangen Untersuchungen den Unterschied zwischen seiner Partei und jener »völkischen Bewegung« klarzustellen, die in Norddeutschland immer mehr an Boden gewinnt: auf dem Görlitzer Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei erklären drei Reichstagsabgeordnete ihren Austritt aus der Partei, ohne jedoch auf ihr Parlamentsmandat zu verzichten. Die Abgeordneten v. Graefe, Wulle und Hennig konstituieren sich als »Deutschvölkische Freiheitspartei«. Die ökonomischen und ideologischen Grundelemente dieser neuen Partei sind genau die gleichen, denen die NSDAP ihr Bestehen verdankt, jedoch verzichten die norddeutschen Völkischen durchaus auf die soziale Fiktion. Sie fühlen sich infolge ihrer nahen Verbundenheit mit den Kreisen der Revanchepolitiker stark genug, um den Kampf gegen den Marxismus ohne die unbequeme Maskerade sozialen Empfindens aufzunehmen.
Mit dieser Neugründung wird eine Entwicklung wieder aufgenommen, die, wie wir sahen, in den ersten Jahren des deutschen Kaiserreichs begonnen hat. Die zahlreichen antisemitischen Debattierklubs, Vereine und Orden, die in allen Teilen Deutschlands ein kümmerliches Leben führen, sehen in der Existenz der deutschvölkischen Freiheitspartei die Möglichkeit zu unmittelbarer politischer Wirkung gegeben. Die Gefahr, daß die NSDAP nicht eine Massenbewegung, sondern auf das Niveau jener völkischen Grüppchen beschränkt bleiben würde, erkennt Hitler und überwindet sie durch geschickte Ausnutzung der in Bayern herrschenden Interessenkonflikte innerhalb der Reaktion.
Hitler selbst sieht die Differenzierung der NSDAP zur völkischen Bewegung in Norddeutschland nicht etwa gegeben in einem Art-, sondern lediglich in einem Gradunterschied. Seine Ausführungen gipfeln in der Feststellung, daß die NSDAP den mysteriösen »völkischen Gedanken« für den praktischen Gebrauch nutzbar gemacht habe. Das ist alles, was er über die Abgrenzung einer angeblich sozialistischen Partei gegen die sture agrarische Reaktion der Graefe und Genossen auszusagen weiß.
Erste Machtprobe
Die besondere Stellung, die der Nationalsozialismus in der Putschpolitik Bayerns einnimmt, ermöglicht ihm, kleinere völkische Gruppen in ihren Verband aufzunehmen und in das Jahr 1923 als eine Partei einzugehen, die mit zahlreichen Ortsgruppen in ganz Süddeutschland und mit einer Sturmabteilungsarmee von etwa 6000 Mann in München einen wichtigen politischen Faktor darstellt.
Am 1. Mai 1923 glaubt sich Hitler bereits stark genug, die von der Münchener Polizei genehmigten Demonstrationszüge der Sozialdemokraten und Kommunisten mit Waffengewalt zu verhindern. Eine peinliche Überschätzung der eigenen Kraft: während Hitler seine Sturmabteilungen aus Beständen der Reichswehr mit Unterstützung des Hauptmanns Röhm bewaffnet, wird ihm von der bayerischen Regierung bedeutet, man sei nicht gewillt, diesen Eingriff in die Polizeigewalt zu dulden. Hitler erkennt die Lage nicht: »Nur über meine Leiche geht der Demonstrationszug der Novemberverbrecher!« schreit er ekstatisch.
Herr Hitler lebt noch lange, und die Demonstration zur Maifeier wird ungestört durchgeführt. Vor der entschlossenen Haltung der bayerischen Landespolizei versagt der revolutionäre Elan der SA-Leute, und am Abend geben sie friedfertig ihre Waffen wieder in der Reichswehrkaserne ab, ohne auf Arbeiter geschossen zu haben ...
Derartige peinliche Niederlagen erleidet die NSDAP jedesmal dann, wenn es sich Hitler einfallen läßt, gegen den Willen Herrn v. Kahrs oder des Generals v. Lossow zu handeln, aber er lernt nichts aus ihnen. Nie in seinem Leben wird er begreifen, warum seine Ankündigung von 14 Massenversammlungen im Oktober 1923, bei denen gegen die Aufgabe des passiven Widerstandes demonstriert werden sollte, den bayerischen Separatisten ein willkommener Vorwand wurde, Herrn v. Kahr zum Generalstaatskommissar zu ernennen ...
Die Erkenntnis seiner unbedingten Abhängigkeit vom Großbürgertum ist eine der wesentlichsten Lehren, die Hitler der klägliche Verlauf der Bürgerbräurevolution erteilt hat.
Der melancholische Rebell
Menschen, die Adolf Hitler nahestehen und die ihn während seiner Haft in der Festung Landsberg besucht haben, berichten übereinstimmend, der Revolutionär Hitler habe unter der Haft so maßlos gelitten, daß allein der Gedanke an eine mögliche Versagung der Bewährungsfrist ihn zur bedingungslosen Anerkennung des Legalitätsprinzips gebracht habe.
Das Volksgericht war vom bayerischen Klerus gut beraten, als es Adolf Hitler nur sechs Monate seiner fünfjährigen Strafe wirklich verbüßen ließ. Eine leichte Haft von sechs Monaten ist wirklich nicht dazu angetan, aus einem verurteilten Revolutionär einen Märtyrer zu machen. Und außerdem – selbst diese sechs Monate genügen, um Hitler klarzumachen, was er bisher nie einsehen konnte: daß er ohne die Duldung und Unterstützung reaktionärer republikanischer Behörden ein Nichts, eine politische Null ist.
»Die NSDAP hat nicht das Glück gehabt, ihren Führer in den Festungsmauern von Landsberg hart werden zu sehen ... Dieser Hitler wurde nicht mehr gefährlich. Er war zerbrochen. Was die Ernst v. Salomon, Heinz, Techow, Niekisch, Hölz und tausende gleich ihnen jahrelang getragen, um unverändert in der Gesinnung die Zellen wieder zu verlassen, das drehte bei diesem weichen Künstler das Innere vollends um. In Landsberg stirbt der Trommler. Im Frühjahr 1925 verläßt ein Privatier, Adolf Hitler, die Haftmauern, nur von dem einen Wunsche beseelt: nunmehr stets legal zu sein. Er ist wohl der einzige Straffällige in Deutschland gewesen, der die Bedingungen der Bewährungsfrist bis auf das i-Tüpfelchen innegehalten hat ... In den Zeitungen schrieben sie über ihn und seine Trabanten, daß sie alle Wahnsinnige seien, Unreife, nur aufs Zerstören bedachte, weltfremde Buben mit Putschkomplexen. Auf ihn traf alles nicht mehr zu. Er war vernünftig geworden, bemüht, den Anschluß an diejenigen zu halten, die in der Macht standen.«
Hitler begreift seine Aufgabe
Dies ist die gewissermaßen psychologische Erklärung, die ein revolutionärer Nationalist für die entscheidende Wendung der NSDAP gibt: für die Wendung von einer kleinbürgerlich-nationalistischen Revolte zur Schutzgarde des Kapitals, zur Vorhut im Kampf der allmählichen Überleitung der parlamentarischen Republik zur fascistischen Diktatur.
Die soziologische und entscheidende Begründung für diese wesentliche Veränderung der NSDAP kann aber nur aus anderen Gesichtspunkten gewonnen werden. Die Folgen des Putsches vom 9. November sind im einzelnen nicht klar aufzuzeigen, weil sie sich in ihrer Wirkung auf das Kleinbürgertum vermischen und durchdringen mit jener Katastrophenstimmung, die die beginnende Stabilisierung der Währung bewirkt. Daraus ergeben sich eine Reihe scheinbarer Widersprüche, die nur aus jenen Triebkräften erklärt werden können, die außerhalb der NSDAP liegen.
Man sollte meinen, die Blamage des Hitler-Putsches hätte die Wirkungsmöglichkeiten der NSDAP bedeutend eingeschränkt. Es ist nicht der Fall.
Offensive der Klerikalen
Unmittelbar nach dem Putsch setzt in Bayern eine lebhafte Agitation der Bayerischen Volkspartei ein, der es tatsächlich gelingt, ein Großteil der bäuerlichen Bevölkerung wieder für sich zu gewinnen. Immerhin bleibt die Machtstellung der Nationalsozialisten in München und Nürnberg ungebrochen. Die kleinbürgerliche Wählerschaft sieht nicht die politischen Unmöglichkeiten des Hitlerunternehmens, sondern führt das Fiasko zurück auf den »Treubruch« der Kahr, Lossow und Seisser. Die Volksstimmung bleibt Hitler zugewendet.
In Norddeutschland sieht man klarer. Man verwechselt zwar auch hier die Begriffe Republik und Kapitalismus miteinander, aber man erkennt doch, daß die kleinbürgerliche Rebellion gescheitert ist an dem Widerstand der herrschenden Klasse. So ist die Tatsache festzustellen, daß in Norddeutschland die völkische Bewegung wächst, während der Nationalsozialismus in Bayern eine Position nach der anderen verliert. Nur so ist es zu verstehen, daß die ökonomische Verärgerung des Kleinbürgertums über die verheerenden Wirkungen der Deflationspolitik sich wieder in der Unterstützung der völkischen Bewegung äußert.
Fast unmittelbar nach dem Hitler-Ludendorff-Prozeß schließt sich die völkische Freiheitspartei mit der NSDAP zur »Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung« zusammen. An der Spitze dieser Partei steht nicht Adolf Hitler, sondern General Ludendorff. Der Abgeordnete v. Graefe und der Nationalsozialist Gregor Straßer aus Landshut stehen ihm in der Leitung der Partei zur Seite.
32 nationalsozialistische Abgeordnete im Reichstag
Die Reichstagswahl vom 4. Mai 1924 bringt der jungen Partei einen unerhörten Machtzuwachs. Nicht weniger als 32 nationalsozialistische und völkische Abgeordnete ziehen in den neuen Reichstag ein. Aber eine so deutliche Sprache dieser parlamentarische Sieg auch redet – es kann nicht übersehen werden, auf welch schwankenden Grund das Kartenhaus dieser Partei aufgebaut ist, in der die widerstrebendsten ökonomischen Tendenzen miteinander vereinigt sind.
Zunächst machen sich diese Interessenkonflikte wieder einmal geltend in dem schon oft politisch ausgenutzten Gegensatz zwischen Norddeutschland und Süddeutschland. Gregor Straßer, der während Hitlers Festungshaft die Partei als sein Stellvertreter leitet, beschränkt seine politischen Energien auf die organisatorische Stärkung der Partei in Süddeutschland und verzichtet gezwungenermaßen darauf, den Machtwillen der Partei gegenüber der norddeutschen völkischen Bewegung geltend zu machen.
Diese Beschränkung ist notwendig: die innere Schwäche der NSDAP wird durch nichts sinnfälliger dokumentiert als durch die aufreibenden und turbulenten Zänkereien innerhalb der eigenen Reihen. In demselben Augenblick, wo Hitler von der politischen Bühne verschwindet, setzen die Kämpfe um sein Erbe ein: der Konkurrenzneid politischer Desperados, die alle Anforderungen zu erfüllen glauben, die man an den vergötterten »Führer« stellen kann, tobt sich unbeschwert von jeder politischen Überlegung aus.
Diadochenkämpfe
Gregor Straßer versucht mit allen Kräften, die Partei zusammenzuhalten. Die Verfallserscheinungen mehren sich, die sich in Bayern vor allen Dingen in einer starken Feindseligkeit gegen Hitler äußern, von dem man etwas anderes erwartet hat, als daß er sich in der Festungshaft als sanfter Melancholiker um die Lebensaufgaben der Partei so gut wie überhaupt nicht kümmert. Der Widerstand geht nicht etwa nur aus von ehrgeizigen Prätorianerhäuptlingen wie dem Führer der Nationalsozialisten in Nürnberg, Julius Streicher, oder dem Parteifunktionär Hermann Esser, der als die »fragwürdigste Figur des Hitlerschen Stabes« bezeichnet wird. Im Hintergrund sind große politische Triebkräfte wirksam, die in der Hauptsache von der Deutschnationalen Volkspartei ausgehen.
Der Oberstlandesgerichtsrat Pöhner hat als kluger politischer Kopf bald nach dem Prozeß die innere Machtlosigkeit der NSDAP erkannt. Für ihn handelt es sich jetzt nur darum, die mobilisierten Massen des kleinbürgerlichen Proletariats zurückzuführen unter die Botmäßigkeit der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei. Unterstützung findet er vor allem bei dem Führer der nationalsozialistischen Fraktion im bayerischen Landtag, Dr. Buttmann, von dessen Stellungnahme gegen den gefangenen Führer auch Gregor Straßer nicht unberührt zu bleiben scheint.
Nicht nur die Deutschnationalen – auch die Bayerische Volkspartei versucht, die ehrgeizigen Parteifunktionäre durch die Aussicht auf Ministersessel zur Abkehr von den antiklerikalen Tendenzen der NSDAP zu bringen.
In diesem Zusammenhang taucht zum erstenmal der Name Otto Straßer auf, der später in der NSDAP eine so verhängnisvolle Rolle spielen wird. Man behauptet, Otto Straßer sei derjenige gewesen, der seinen Bruder Gregor davon abgehalten habe, auf die Sirenengesänge klerikaler und reaktionärer Politiker zu hören. Aktenmäßige Belege über derartige Vorgänge fehlen selbstverständlich, und so bleibt nur festzustellen, daß es Gregor Straßer mit Hilfe von Alfred Rosenberg, dem Chefredakteur des »Völkischen Beobachters«, gelungen ist, die Partei in Süddeutschland bei Hitler zu halten.
Stabilisierung heißt Verlust
Merkwürdig kontrastiert zu diesen Sorgen der süddeutschen Nationalsozialisten jener Wahlerfolg vom 4. Mai 1924. Die unmittelbaren Gründe für diesen Wahlsieg – Katastrophenstimmung in der beginnenden Währungsstabilisierung und der Zwang einer antirepublikanischen Ideologie – verlieren jedoch in demselben Augenblick ihre Beweiskraft, als durch Annahme des Dawes-Gutachtens eine gewisse Beruhigung in der außenpolitischen Situation eintritt. Die Bewegung ist noch nicht fähig, ihren Wahlsieg organisatorisch – von einer ideologischen Durchdringung gar nicht zu reden – auszuwerten. Hinzu kommt, daß die Reichstagsfraktion nicht eine einzige der hochgespannten Hoffnungen erfüllt, die ihre Wählerschaft in sie gesetzt hat. Die unerhörten soziologischen Gegensätze, die in der Partei friedlich miteinander auskommen sollen, können nur unvollständig verschleiert werden. Auch der alte Gegensatz München-Berlin wird insofern wieder einmal wirksam, als die Deutschvölkische Freiheitspartei häufig die unklaren taktischen Maßnahmen der Leitung der NSDAP durchkreuzt.
Es ist mehr als das Produkt einer falschen Taktik, wenn bereits am 8. Dezember 1924 bei der neuen Reichstagswahl die völkischen Parteien mehr als die Hälfte ihrer Stimmen verlieren. Der Verlust von 17 Mandaten ist der Reflex der Abkehr vom Putschismus, von dem die Partei bisher gelebt hat.
Die norddeutschen Genossen werden unbequem
Als Hitler im Frühjahr 1925 aus der Haft entlassen wird, sieht er vor sich das Chaos. Die phantastischen Erfolge, die seine Partei in ihrem Anfangsstadium erringen konnte, sind dahin. Man muß von vorne anfangen. Die Aufgabe ist um so schwerer, als der Führer von seinen Gefolgsleuten keineswegs mehr als jene übermenschliche Persönlichkeit gewertet wird, die er gerne sein möchte. Aber das, was sich bisher als Diadochenkämpfe darstellte, gewinnt mehr und mehr besonderes Gewicht: der norddeutsche Nationalsozialismus zeigt wesentlich andere Züge als der süddeutsche. Er ist aggressiver, kälter und betont vor allen Dingen jetzt die sozialistische Komponente der Bewegung mit derartiger Ausschließlichkeit, daß auch die organisatorische Einigung nicht mehr den falschen Anschein einer geschlossenen Partei erwecken kann.
Das ganze Jahr 1925 über dauern die Versuche Hitlers und Straßers, denen als ideologischer Sachberater Alfred Rosenberg zur Seite steht, den endgültigen Zerfall der NSDAP zu verhindern. Es gelingt ihnen so weit, daß an dem Weimarer Parteitag am 26. Juni 1925 immerhin 10.000 Menschen teilnehmen.
Freilich war die Vorbedingung zu dieser Stabilisierung der NSDAP eine einschneidende Maßnahme, die wieder einmal nicht von Hitler, dem offiziellen Parteiführer, sondern von den Brüdern Straßer empfohlen und durchgeführt wird: im Sommer 1925 trennt sich die NSDAP von der »Völkischen Freiheitsbewegung«.
Trennung von den Völkischen
Die innere Notwendigkeit dieser Trennung liegt jedoch keineswegs, wie nationalsozialistische Chronisten behaupten, etwa lediglich in organisatorischen Fragen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat Hitler in der Festungshaft seiner Vergangenheit ins Gesicht geschlagen und sich mit dem Feinde ausgesöhnt, der ihm letzten Endes die Niederlage vom 9. November 1923 bereitet hat. Bereits im Februar 1925 schreibt der völkische Abgeordnete Graf Reventlow einen Artikel »Hitlers Frieden mit Rom«. In diesem Artikel wird mit Hitlers eigenen Worten berichtet, der großdeutsche, sozialistische, antiklerikale Revolutionär habe die Notwendigkeit erkannt, sich mit dem Ultramontanismus auszusöhnen. Es läßt sich heute nicht entscheiden, wie sehr an dieser Aussöhnung gewisse katholische Schwerindustrielle beteiligt gewesen sind, von deren finanzieller Unterstützung Hitler schon damals in sehr hohem Maße abhängig gewesen ist. Sicher ist nur, daß in dem protestantischen Norden eine derartige Inkonsequenz als Verrat am völkischen Gedanken aufgefaßt wird.
Bei der Reichspräsidentenwahl vom Jahre 1925 läßt sich Hitler noch auf Zureden der Brüder Straßer dazu bewegen, für die Nationalsozialisten einen eigenen Zählkandidaten in der Person des Generals Ludendorff aufzustellen. Im Norden hält man den General für politisch untragbar und unterstützt aus der engen politischen und ökonomischen Verbindung mit der Bourgeoisie heraus den Kandidaten Jarres. Diese Meinungsdifferenz, die leicht zu schweren Folgen hätte führen können, wird dadurch erledigt, daß die Reaktionäre aller Schattierungen sich auf den Generalfeldmarschall Hindenburg einigen.
Friede mit Rom
Aber schon während der Wahlvorbereitungen ist der Gegensatz zwischen der NSDAP und der völkischen Freiheitspartei so offensichtlich geworden, daß die Trennung beider Richtungen eine Selbstverständlichkeit ist. Von symptomatischer Bedeutung erscheint hier die Tatsache, daß Ludendorff sich mit Hitler überwirft. Freilich nicht aus der Erkenntnis der politischen Unmöglichkeiten der NSDAP, sondern aus der mystischen, leidenschaftlichen Verachtung des völkischen Protestanten Ludendorff gegen alles, was Rom heißt.
Die Trennung von der NSDAP besiegelt den Untergang der völkischen Freiheitsbewegung als selbständige politische Partei. In einem allmählichen Zersetzungsprozeß, der zunächst damit beginnt, daß die völkischen Frondeure zu Hitler übergehen, löst sich die Partei allmählich auf. Mit der Reichstagswahl vom Mai 1928 ist dieser Prozeß beendet: die Völkische Partei erhält kein Mandat mehr ...
Eine Einschaltung: Man hat angesichts des phantastischen Aufschwungs der NSDAP heute vergessen, daß schon oft jene Gegensätze zu schweren Erschütterungen geführt haben, an denen die Partei als solche einmal zugrunde gehen muß und wird. So brüchig und rissig der ideologische Überbau der NSDAP an sich schon ist, ihre ökonomische Basis, die wahllose Zusammenfassung aller nationalistisch-rebellierender Instinkte des Kleinbürgertums und dessen antikapitalistischer Neigungen ist noch widerspruchsvoller, und nie hat innerhalb der NSDAP die Einsicht in diese Tatsachen gefehlt. Immer hat man versucht, den Schein der Homogenität aufrecht zu erhalten, durch reformistische Maßnahmen zu stärken und den Wust von Widersprüchen zu bereinigen. Aber immer wieder sind alle Bemühungen, der sozialistischen Komponente der Partei stärkeren Ausdruck zu verschaffen gescheitert an der bedingungslosen Unterwerfung unter das Kapital.
Palastrevolte der Sozialisten
Der gefährlichste aller derartigen Versuche ist die Tagung, die die Brüder Straßer im Dezember 1925 nach Hannover einberufen und an der die Führer aller nord- und westdeutschen Gaue der Partei teilnehmen. Der ausgesprochene Zweck dieser Zusammenkunft ist der, ein Gegengewicht zu schaffen gegen die entschlußlose, unsozialistische Legalität der Münchener Parteileitung. Hitler entsendet zu dieser Tagung als Beobachter seinen Freund Feder, der die norddeutschen Gaue in offener Rebellion vorfindet: es werden Beschlüsse gefaßt, die dem wirtschaftsfriedlichen Kurs der Partei grob widersprechen. Außer Feder ist nur ein einziger Gauführer bereit, gegen die Beschlüsse der Frondeure zu stimmen. Einen erschreckenden Beweis für die antikapitalistische Tendenz dieser neu gegründeten »Arbeitsgemeinschaft« der norddeutschen Gaue bildet der Beschluß, bei dem bevorstehenden Volksentscheid über die entschädigungslose Enteignung der Fürsten für die Enteignung Stellung zu nehmen. Es gelingt den norddeutschen Nationalsozialisten, diesen Beschluß in den »Völkischen Beobachter« einzuschmuggeln, wo ihn der angebliche Herausgeber des Blattes, Herr Adolf Hitler, bereits eine ganze Woche später entdeckt und nun in einem zweiten amtlichen Parteibefehl allen Parteiangehörigen aufgibt, gegen die Enteignung zu stimmen!
Immerhin haben sich auf jener Führertagung die Begriffe bereits soweit geklärt, daß Gregor Straßer beauftragt wird, bis zur nächsten Tagung die Theorie eines nationalsozialistischen Zukunftsstaates auszuarbeiten.
Diese zweite Führertagung findet im Frühjahr 1926 in Bamberg statt, wo die hitlertreuen Parteifunktionäre in der überwiegenden Mehrheit sind. Es gelingt Gottfried Feder, bei der Versammlung die Auflösung der Arbeitsgemeinschaft durchzusetzen. Von den norddeutschen Gauführern waren lediglich Gregor Straßer und sein Sekretär anwesend, ein junger Akademiker mit Namen Josef Goebbels.
Fouché-Goebbels
Hier ereignet sich eine Episode, deren Gaunerhumor verdient, der Nachwelt überliefert zu werden, und die der Nationalist Weigand von Miltenberg folgendermaßen beschreibt: »Triumphierend zog Manitou von der Bamberger Führertagung gen Süden und mit ihm – Herr Dr. Paul Josef Goebbels, der nach Bamberg als Sekretär Straßers hineingehüpft war, dort seinem Meister und dem von ihm in Hannover beschworenen Programm den Dolchstoß gab und als liebstes Kind Benjamin mit nach München genommen wurde. Der Verrat des Dr. Paul Josef Goebbels, der in Bamberg die Konjunktur witternd alles verleugnete, was er in Hannover selbst angebetet, steht einzig da in seiner an Fouché erinnernden, wurstig schamlosen Plötzlichkeit. Hitler nagelte den ehrgeizigen jungen Mann, dessen seit Kleon nicht mehr unbekanntes Redetalent weder Grundsätze noch Skrupel befürchten ließ, sofort fest, indem er ihn in München auftreten ließ ...«
Wenige Monate später wird dieser strebsame junge Mann von seinem Chef zum Führer des Gaus Berlin ernannt, wo er mehrere Jahre lang ein widerwärtiges Leben als eitler Volkstribun und schamloser Prophet des Terrors führen durfte ...
Dieses wesentliche Ereignis der nationalsozialistischen Parteigeschichte, der Sieg der bourgeoishaften kapitalistischen Münchener Parteileitung über den revolutionären Willen der norddeutschen Gauführer, ist in der Öffentlichkeit als interne Parteiangelegenheit wenig beachtet worden, wie überhaupt die NSDAP Jahre hindurch in erstaunlichem Maß unterschätzt worden ist.
Der verkannte Nachtwächter
Die sozialistische Regierung des Freistaates Preußen beging einen außerordentlich schweren psychologischen Fehler, als sie Herrn Hitler drei Jahre lang das öffentliche Reden verbot. Man erreichte damit, daß in der breiten Öffentlichkeit der Kleinbürger Hitler als ein Revolutionär erschien und der eigentliche Charakter der NSDAP als Schutzgarde des Kapitals nicht anerkannt werden konnte.
Die Bindung an schwerindustrielle Geldgeber, die Hitler kaum mehr für nötig hält, vor seinen Parteigenossen zu verbergen, hat bereits im Jahre 1926 derartigen Umfang angenommen, daß die sozialistischen Parteiangehörigen leichtes Spiel haben, in ihrem Kampf gegen die Münchener Parteileitung Argumente zu finden.
Einige Industrielle, von denen aktenmäßig bewiesen wird, daß sie der NSDAP Gelder bis zur Höhe von 100.000 Mk. im einzelnen zur Verfügung gestellt haben, sind unter anderem der Mühlsteinfabrikant Schneider, Itzehoe, der Klavierfabrikant Bechstein, der Besitzer der bekannten Wäschefabrik Becker in Geißlingen und der Plauener Textilindustrielle Mutschmann, der später sogar Reichstagsabgeordneter wird. Auch der bekannte Münchener Verleger Hanfstängl ist hier zu nennen.
Die reichlich fließenden Subventionen ermöglichen der NSDAP eine lebhafte Agitation. Es könnte erstaunlich scheinen, daß sich trotzdem die Zahl der Reichstagsmandate der NSDAP bei der erneuten Reichtagswahl vom Mai 1928 von 15 auf 12 vermindert.
Zweite Niederlage
Die Gründe für dieses Zurückgehen liegen im wesentlichen in der Tatsache, daß die Parteien der Reaktion, vor allem die Deutschnationale Volkspartei, der völkischen Agitation dadurch Abbruch tun, daß sie einen großen Teil ihrer Argumente übernehmen. Es ist mit dem inneren Charakter der Deutschnationalen eigentlich nicht zu vereinigen, daß diese Partei sich ebenfalls auf den berühmten »völkischen Standpunkt« stellt. Aber die Reaktionäre um Hugenberg sehen klar genug, daß die Unschädlichmachung der antikapitalistischen Neigungen im Kleinbürgertum am bequemsten und zweckmäßigsten durch den Antisemitismus verwirklicht werden kann. Außerdem ist festzustellen, daß die wahren Ziele der NSDAP in den Kreisen der Reaktion immer noch insofern häufig verkannt werden, als man die sozialistische Komponente der Bewegung erheblich überschätzt. Bei der bekannten und von uns gezeichneten Ideologie des Kleinbürgertums ist mit dem Klassenkampfgedanken keine Agitation zu treiben. Grund genug für Hitler und seine Ratgeber, die kümmerlichen pseudo-sozialistischen Reste seines Programms in dem Scheidewasser nationalistischer Gemeinschaftsgefühle immer mehr aufzulösen.
Immerhin hat die sich von 1924 bis 1928 immer schärfer andeutende Weltproduktionskrise der offiziell betriebenen Katastrophenpolitik der NSDAP so viele Sympathien eingebracht, daß aus der einen nationalsozialistischen Ortsgruppe in München, die 1920 64 Mitglieder zählte, im Jahre 1928 etwa 1200 Ortsgruppen geworden sind, deren Mitgliedszahl mit 80.000 eher zu niedrig; als zu hoch angegeben ist ...
Die NSDAP ist niemals imstande gewesen, aktiv auf die Umgestaltung des politischen Lebens in Deutschland einzuwirken. Sie ist lediglich der Nutznießer einer ökonomischen Entwicklung, für die ebensowenig die Staatsform wie das Programm der Regierungsparteien Deutschlands verantwortlich zu machen ist.
Der Kleinbürger in der Produktionskrise
Die mit dem Jahre 1924 beginnende Rationalisierung der deutschen Industrie bewirkt ein sprunghaftes Anschwellen der Arbeitslosenziffern. Die Kurve der Arbeitslosigkeit in Deutschland wieder ist lediglich der Reflex für die auf der ganzen Welt herrschende Produktions- und Absatzkrise, in der sich die inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems bis zur Sinnlosigkeit überspitzen und enthüllen. Es ist nicht lediglich das Proletariat, das von dieser Krise betroffen wird: ein ganzes Heer von industriellen und kaufmännischen Angestellten verliert die Existenzmöglichkeit. Der Kleinbürger, unfähig jemals den Solidaritätsgedanken des Proletariats aufzunehmen, glaubt seine Interessen von der Deutschnationalen Volkspartei, dem Zentrum und der Sozialdemokratie nicht mehr genügend vertreten und greift mehr und mehr die nationalsozialistische Agitation auf. Da die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse eine Neuwahl unmöglich machen, die die wahre Volksstimmung besser zum Ausdruck bringen würde, ergibt sich die kuriose Tatsache, daß eine Partei, deren Anhang im Lande von Tag zu Tag wächst, im Reichstag nach wie vor nur mit 12 Abgeordneten vertreten ist. Hier liegt der Grund, warum der Wahlerfolg vom 14. September 1930 in der deutschen Bourgeoisie so maßloses Staunen erregen konnte: kein Mensch kümmerte sich um das, was draußen im Lande vorging, und mit dem primitiven Stolz junger Republikaner verfolgte man interessiert die Redeschlachten im Parlament, ohne zu wissen, daß die letzten Entscheidungen nicht in den Wandelhallen der Parlamente zu fallen pflegen.
Scharfe Konkurrenz
Der Schwerpunkt der NSDAP verlegt sich mehr und mehr nach Norddeutschland. Die von einer agrarischen Bevölkerung bewohnten Provinzen Hannover, Pommern, Schlesien und Mecklenburg werden das Reservoir, aus dem die NSDAP neue Kräfte schöpfen kann. Von Norddeutschland geht auch ein neuer Versuch aus, die kapitalistische Entwicklung der Partei aufzuhalten.
Dr. Otto Straßer hat bereits im Jahr 1925 begonnen, die Zeitschrift »Nationalsozialistische Briefe« herauszugeben, das einzige Organ des Nationalsozialismus, das jemals versuchte, die Auseinandersetzung mit gegnerischen Weltanschauungen mit geistigen Waffen vorzunehmen. In Verbindung mit seinem Bruder Gregor, den Adolf Hitler bis zu einem gewissen Grade durch die Ernennung zum Reichsorganisationsleiter der Partei an sich gebunden hat, gründet er den »Kampfverlag«, der eine Reihe nationalsozialistischer Zeitungen herausgibt, die in Norddeutschland immer größere Verbreitung finden. Vor allen Dingen ist es der »Nationale Sozialist«, der in Berlin vertrieben wird, und in dem Otto Straßer einen energischen und keineswegs erfolglosen Kampf gegen die Fascisierung der Partei führt. Diese proletarische Keimzelle ist dem Münchner Parteipapst außerordentlich unbequem. Er läßt keine Gelegenheit unbenutzt, den Kreis »revolutionärer Nationalisten« um Otto Straßer als einen Debattierklub wurzelloser Literaten zu verspotten und zu beschimpfen. Hitler handelt hiebei aus der richtigen Erkenntnis, daß die Herausarbeitung sozialistischer Zielsetzungen die Abgrenzung der NSDAP gegenüber dem Marxismus bedeutend erschweren wird. Hinzu kommt, daß Otto Straßer nach seinen Erfahrungen in Hannover und Bamberg der junge Berliner Gauführer Dr. Goebbels tief unsympathisch ist. Und da die geistigen Qualitäten des Herrn Goebbels zu denen Otto Straßers in keine erträgliche Beziehung gesetzt werden können, wächst die gewissermaßen proletarische Richtung in der NSDAP langsam, aber unaufhaltsam. Diese Zuspitzungen drängen zu einer Entscheidung, die endlich im Juni 1930 fällt.
Kuhhandel mit den sächsischen Marxisten?
Schon vorher aber wird Adolf Hitler ein neues Hindernis auf seinem Weg zur legalen Machtergreifung gelegt. Im Freistaat Sachsen ist der Kapitänleutnant Helmut v. Mücke eine der wesentlichsten Stützen der Partei. Der Marineoffizier hat sich im Kriege als Kommandant des berühmten Ayesha-Kommandos einen großen Namen gemacht, der in der Agitation zur sächsischen Landtagswahl seine Wirkung nicht verfehlt hat.
Hitler, der aus der Ausweisungspsychose heraus, die ihn niemals verlassen hat, in dem Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung im Freistaat Sachsen ein Mittel sieht, durch Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten die deutsche Reichsangehörigkeit zu erwerben, benutzt Mücke als Verbindungsmann zu den übrigen politischen Parteien Sachsens. Mücke berichtet, Hitlers Sucht, eine parlamentarische Rolle zu spielen, habe ihn dazu geführt, den Kapitänleutnant sogar mit den verhaßten marxistischen Parteien verhandeln zu lassen. Die Möglichkeit einer Koalition mit den sächsischen Sozialdemokraten – immer nach Mückes Bericht – soll im Jahre 1929 durchaus bestanden haben.
Der proletarische Unternehmer
Herr Mutschmann, Textilindustrieller und Mitglied einer »Arbeiterpartei«, schlägt auf den Tisch. Und vor diesem Stirnrunzeln eines mächtigen Geldgebers klappt der Parteidiktator zusammen wie ein Taschenmesser. Hitler pfeift Mücke zurück und seine Unterwürfigkeit vor Mutschmann geht so weit, daß er sich nicht scheut, den Kapitänleutnant öffentlich zu desavouieren. Aus dieser Kontroverse entstehen verschiedene öffentliche Briefe Mückes an die Reichsleitung der NSDAP, in denen es unter anderm heißt: »Herr Hitler ist im Laufe der letzten Jahre mehrmals nicht imstande gewesen, mir gegebene bindende Versprechungen gegen den Willen des sächsischen Gauleiters, des Spitzenfabrikanten Herrn Mutschmann, durchzudrücken. Ich verspreche mir nichts von der Zukunft einer Partei, deren Führer sich nicht einmal innerhalb der Partei durchsetzen kann, wobei ein offenes Geheimnis ist, daß der Einfluß des Herrn Mutschmann darauf beruht, daß er als reicher Fabrikant Herrn Hitler sich finanziell verpflichtet hat ... Die nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei ist vollkommen vom Gelde abhängig.«
Derartig peinliche Konflikte erfüllen aber in umgekehrtem Sinne durchaus den Zweck, den Hitler erreichen will: man gewöhnt sich in den Kreisen der Großbourgeoisie langsam daran, die NSDAP für salonfähig zu halten, und man versucht ebenso unverhohlen wie unhöflich, auf die Entschlüsse Herrn Hitlers in kapitalistischem Sinne Einfluß zu gewinnen.
Eine kleine Illustration zu diesem Thema: Durch einen Zufall wird bekannt, daß im Januar 1930 der Dipl.-Ing. Gottfried Feder in Hitlers Auftrag einen Vortrag vor schlesischen Großgrundbesitzern über das Agrarprogramm der NSDAP gehalten hat. Einige Teilnehmer dieser Geheimbesprechung sind ebenfalls bekanntgeworden: Graf Keyserlingk, Herr v. Winterfeld, Universitätsprofessor Hellfritz, Geheimrat Ponfick, Graf Pückler, Graf Zedlitz und der Bankdirektor v. Eichhorn.
Berliner Disputation
In solchen Zweideutigkeiten sehen die nationalen »Sozialisten« um Otto Straßer mit Recht einen Verrat an dem Programm der NSDAP. Ihre Agitation, die sich hauptsächlich an das Berliner und norddeutsche Proletariat richtet, wird durch diese politischen Betrügereien maßlos erschwert: immer gröber und unverhohlener werden die Angriffe, die die Berliner Frondeure gegen den Kapitalisten Hitler richten.
Eine so panische Furcht Herr Hitler auch vor prinzipiellen Auseinandersetzungen hat, eine Diskussion zwischen ihm und Otto Straßer läßt sich nicht vermeiden, nachdem Otto Straßer Hitler seine finanzielle und politische Bindung an den Geheimrat Hugenberg und die reaktionären vaterländischen Verbände zum Vorwurf gemacht hat. Diese seine Hintermänner drängen Hitler zur Entscheidung: nach einigem Theaterdonner, mit dem er Straßer – jeder Zoll ein Inquisitionskardinal – zum Widerruf seiner ketzerischen Thesen zwingen will, findet endlich am 21. Mai 1930 eine Diskussion zwischen Hitler und Straßer statt, über die der letztere in seiner Rechtfertigungsschrift »Ministersessel oder Revolution?« berichtet hat. Diese Berliner Diskussion vernichtet endgültig das Märchen vom sozialistischen Charakter der NSDAP und enthüllt ein solches Maß von allgemein menschlicher Dummheit und Unverfrorenheit, daß der Bericht Straßers eine der wirksamsten Waffen im Kampf gegen die NSDAP sein sollte.
Bei einer Unterhaltung über die Frage des Privateigentums kommt es zu folgenden Auseinandersetzungen, die wir Straßers Bericht wörtlich entnehmen:
Alles bleibt beim Alten
»Nachdem über diesen Punkt eine längere volkswirtschaftliche Diskussion hin und her gegangen war, lenkte ich wieder schroff auf die Frage des Sozialismus, indem ich Herrn Hitler die konkrete Frage vorlegte: Was würden Sie, wenn Sie morgen die Macht in Deutschland übernehmen würden, übermorgen tun, zum Beispiel mit der Krupp A.-G.? Bliebe hier bei Aktionären und Arbeitern bezüglich Besitz, Gewinn und Leitung alles unverändert, so wie heute, oder nicht?«
»Hitler: »Aber selbstverständlich. Glauben Sie denn, ich bin so wahnsinnig, die Wirtschaft zu zerstören? Nur wenn die Leute nicht im Interesse der Nation handeln würden, dann würde der Staat eingreifen. Dazu bedarf es aber keiner Enteignung und keines Mitbestimmungsrechtes, sondern das macht der starke Staat, der allein in der Lage ist, ohne Rücksicht auf Interessen ausschließlich von großen Gesichtspunkten sich leiten zu lassen.«
»Ich: »Ja, Herr Hitler, wenn Sie also das kapitalistische System aufrechterhalten wollen, dann dürfen Sie aber auch nicht von Sozialismus reden! Denn unsere Parteianhänger sind in erster Linie Sozialisten, und sie berufen sich da auf das Parteiprogramm, das ausdrücklich die Sozialisierung der vergesellschafteten Betriebe fordert.«
Der privatwirtschaftliche Sozialist
Er: »Der Ausdruck Sozialismus ist an sich schlecht, aber vor allem heißt das nicht, daß diese Betriebe sozialisiert werden müssen, sondern nur, daß sie sozialisiert werden können, nämlich, wenn sie gegen das Interesse der Nation verstoßen. Solange sie das nicht tun, wäre es einfach ein Verbrechen, die Wirtschaft zu zerstören.«
Ich: »Ich habe allerdings noch nie einen Kapitalisten gesehen, der nicht erklärt hätte, daß er alles für das Wohl der Nation tue. Wie wollen Sie das von außen feststellen? Wie wollen Sie auch hier das Eingriffsrecht des Staates verankern, ohne ein schrankenloses Willkürregiment von Beamten über die Wirtschaft aufzurichten, das dann einen viel höheren Grad der Beunruhigung in die Wirtschaft trägt als jeder Sozialismus?«
In diesem Stil geht es vier Stunden weiter. Augenzeugen dieser Unterredung berichten, Hitler habe bei dieser Diskussion viermal geweint. Echte, richtige Tränen. In dem einen Augenblick habe er dem eiskalten Straßer mit pathetischer Gebärde beide Hände hingestreckt, um im nächsten mit den Füßen zu stampfen und seinem Gegner alle Höllenstrafen anzudrohen. Fast keinen Punkt des nationalsozialistischen Programms hat diese Unterredung nicht berührt, und es gibt fast keinen, den Adolf Hitler nicht mit einem Phrasenschwall aufgegeben hätte.
Spaltung
Hitlers Tränen und Diktatorengesten fruchten nichts. Otto Straßer weigert sich, als »Reichspressechef« nach München zu kommen. Hitler, unfähig, zu schwach und zu feige, irgendeine Maßnahme persönlich durchzuführen, beauftragt Goebbels mit einer »Säuberung« der Berliner Bewegung, und durch eine Politik kleinlichster Schikanen, zu denen das politische Ingenium Goebbels' gerade noch ausreicht, gelingt es, Otto Straßer zum Austritt aus der Partei zu bewegen. Unter der Bezeichnung »Revolutionäre Nationalsozialisten« schließt sich eine Intellektuellengruppe zusammen, der unter anderen die Schriftsteller Ernst Jünger, Arnolt Bronnen und Werner Laß, die nationalsozialistischen Redakteure Mossakowsky und Schapke sowie der Major Buchrucker angehören, dessen Küstriner Putsch ihm die Qualifikation zu einem »deutschen Revolutionär« verleiht.
Freilich wird die Straßer-Gruppe im allgemeinen außerordentlich überschätzt. Ihr Wert besteht nicht in ihrer realen, sondern in ihrer symptomatischen Bedeutung. Insofern nämlich, als die Kampfschriften dieser Gruppe eigentlich das sind, was die offizielle Programmatik der NSDAP sein sollte, hätte diese Partei es mit ihrem Programm ernst gemeint.
Mit dem Ausscheiden der Straßer-Leute – Gregor hat sich von seinem Bruder Otto getrennt und ist bei Hitler geblieben – ist der letzte Widerstand beseitigt, der den Legalitätskurs der Partei verhindern könnte.
Im Januar 1930 hat sich im Freistaat Thüringen eine besondere parlamentarische Konstellation ergeben. Was im Reiche erst die Reichstagswahlen vom 14. September offenbar machen werden, deutet sich in Thüringen bereits ein Dreivierteljahr früher an: die Deutsche Volkspartei, die Partei des Industriekapitals, ist der verschleierten Koalition mit der Sozialdemokratie müde geworden. Das Unternehmertum hält die Zeit für gekommen, den Parlamentarismus abzubauen. Die Entwicklung des Konkurrenz- zum Monopolkapital, die sich immer schärfer ausprägende Vertrustung, kann die demokratische Republik nicht mehr als ihren zweckmäßigsten politischen Machtausdruck gelten lassen.
Der Minister des Industriekapitals
Die volksparteiliche Landtagsfraktion wendet sich an Adolf Hitler und teilt ihm mit, sie sei bereit, einen nationalsozialistischen Minister in das neu zu bildende Kabinett aufzunehmen, den Herr Hitler freundlichst nominieren wolle.
Aus dieser Tatsache ist erkennbar, wieweit die politische Nützlichkeit der NSDAP für das Kapital bereits Allgemeinansicht in den beteiligten Kreisen geworden ist. Obgleich die Brüder Straßer und eine große Zahl antiparlamentarischer Nationalsozialisten sich leidenschaftlich dagegen wehren, dieser Aufforderung Folge zu leisten, designiert Hitler seinen alten Genossen Dr. Frick als Ministerkandidaten.
Damit ist wieder einmal ein Punkt jenes Programms aufgegeben, für dessen restlose Durchführung die Führer versprachen, ihr Leben einzusetzen: am Anfang aller nationalsozialistischen Programmatik stand die Erkenntnis von der Korruptheit und Sinnlosigkeit des modernen Parlamentarismus. In unzähligen Leitartikeln ist die Einrichtung des Parlaments als diabolische jüdische Mache gekennzeichnet worden, jahrelang hat die nationalsozialistische Agitation von dem Kampf gegen die »Schwatzbude in Berlin« und das »sogenannte Hohe Haus« gelebt. Jede Regierung, die auf Grund einer parlamentarischen Konstellation zusammengekommen ist, ist als Verbrechen am Volke gebrandmarkt worden. Und noch vor wenigen Monaten, auf dem Parteitag in Nürnberg im Jahre 1929, hat der Ministerkandidat Dr. Frick erklärt: »Die Nationalsozialisten sehnen den Tag herbei, an dem der bekannte Leutnant mit zehn Mann dem Parlament, diesem Teufelsspuk, das verdiente unrühmliche Ende bereitet und die Bahn frei macht für eine völkische Diktatur.« Immer hat der konsequente Nationalsozialismus eine Katastrophenpolitik verfolgt, denn nur auf den Trümmern der liberalistischen Staatsordnung kann sich das Gebäude des nationalsozialistischen Zukunftsstaates aufbauen.
Die NSDAP macht sich nützlich
Es ist lächerlich, für diese einschneidende Wendung lediglich etwa die persönliche Machtgier Adolf Hitlers verantwortlich machen zu wollen: sie ist eine Notwendigkeit. Das Unternehmertum braucht die NSDAP für die beginnende Überführung des Parlamentarismus in die Diktatur. Daß man Anfang 1930 in den Kreisen der Industrie diesen Staatsstreich noch für eine gefährliche Sache hält, zu der man sich die Unterstützung einer schlagkräftigen, militärisch organisierten Partei sichern müßte, ist ein Irrtum, der sich knapp anderthalb Jahre später durch die Einführung der Notverordnungen von selbst berichtigt.
Genug: Dr. Frick, der Bezirksamtsassessor aus Pirmasens, wird Innenminister des Freistaats Thüringen.
Freilich hält Hitler die offensichtliche Aufgabe des antiparlamentarischen Kampfes für wichtig genug, sie in einer ausführlichen Rede zu rechtfertigen. An dem Tage, an dem der Minister Frick den Eid auf die – von dem Juden Rosenthal, Universitätsprofessor in Jena, geschaffene – Staatsverfassung ablegt, leistet sich Hitler auf einer Massenversammlung in Weimar folgenden Satz: »Wir treiben jetzt in Deutschland einem großen Bürgerkrieg entgegen. Wenn wir uns jetzt in Thüringen zur Mitwirkung an der Regierung entschlossen haben, dann bedeutet das keinen Verzicht auf unser Programm, sondern eisernen Willen, in diesem schönen Lande unsere Grundgedanken auszuführen.«
Frick, die Perle im Golde
Und so regiert der nationalsozialistische Minister Dr. Frick friedlich neben einem Ministerkollegen aus der Wirtschaftspartei und einem anderen aus dem Lager der agrarischen Reaktion.
Im Hintergrund steht die deutschnationale Volkspartei und erteilt ihren Segen zu diesen »nationalsozialistischen Grundgedanken«, von denen selbst der aufmerksamste Beobachter in den Regierungsmaßnahmen des Herrn Frick nicht mehr das geringste entdecken kann.
Widerstände gegen diesen fascistischen Kurs sind nach dem Ausscheiden Otto Straßers nicht mehr zu befürchten. Von wem sollten sie ausgehen? Vielleicht von der Reichstagsfraktion der NSDAP, den Männern, die den Willen einer halben Million verzweifelter Kleinbürger ausdrücken sollten? Von diesen zwölf Männern sind zwei adlig, fünf Offiziere, drei Akademiker und ein einziger Arbeiter.
Von Adolf Hitler selbst? Der sitzt in München, beschaut wohlgefällig das Werk seiner Hände und flüstert vor sich hin: »Ich bin jetzt 40 Jahre. Ich muß endlich an die Macht kommen.«
Und das kann er nur erreichen, wenn er den Anschluß an die Männer wahrt, die bereits an der Macht sind.