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»Der Antisemitismus ist eine Schmach für das deutsche Volk.«
Kaiser Friedrich III.
Man versuche einmal, sich die antisemitische Agitation aus der nationalsozialistischen Bewegung fortzudenken. Unmöglich: so leicht und so schnell auch die NSDAP Ziele aufzugeben pflegt, für deren Durchführung ihre Führer versprachen, das eigene Leben einzusetzen, so bedingungslos hat sie bisher am Antisemitismus festgehalten. Ob die Überschrift eines Leitartikels des »Völkischen Beobachter« lautet »Die jüdische Weltpest«; ob eine andere nationalsozialistische Zeitung die Situation Deutschlands durch die drei Zentimeter hohe Schlagzeile kennzeichnet »An den Zitzen der jüdischen Sau«; ob die »Coburger Nationalzeitung« einen Preis von 15 (fünfzehn) Reichsmark aussetzt für die prägnanteste, aus eigenem Erleben geschöpfte Schilderung »Der schäbige Jud'« – immer ist A und O aller nationalsozialistischen Weisheit die Maxime: »Tut nichts, der Jude wird verbrannt.«
Der Jude in uns
Erstaunlich ist an dieser Tatsache nichts als die Einsichtslosigkeit der Kritiker der NSDAP, die unseres Wissens sich bisher noch niemals bewogen oder gezwungen gesehen haben, die Naturgeschichte einer »Arbeiterpartei« aus dem Geist des Antisemitismus zu begreifen, der immerhin die innere Politik des deutschen Kaiserreichs fast dreißig Jahre hindurch beeinflußte und beunruhigte. Erstaunlich ist hierbei nichts als die rührende Bemühung, der Pogromhetze der NSDAP mit rassebiologischen, ja sogar mit psychoanalytischen Theorien zu Leibe zu gehen, den Antisemitismus der Gosse umzubiegen in einen ethischen Kampf gegen das Judentum, gegen den »Juden in uns«, oder ihn durch den Nachweis seiner Sinnlosigkeit vernichten zu wollen. In der Abwehr des Antisemitismus ist viel gesündigt worden und wird weiter viel gesündigt: der Kampf wird auf einer falschen Ebene geführt und muß darum verloren gegeben werden.
Die bestgehaßte Rasse
»Es macht dem Antisemiten nicht die geringsten Schwierigkeiten, den Juden gleichzeitig für einen abstoßenden Demokraten und einen blutsaugerischen Plutokraten zu halten; er tadelt ihn wegen seiner Vorliebe für orientalischen Pomp und haßt ihn wegen seiner Schäbigkeit. Er ist ihm ein Wesen des plattesten Rationalismus und zugleich der mächtigste aller Geheimbündler in Freimaurerlogen und der goldenen Internationale. Er beschuldigt den Juden zugleich des Ritualmordes und des blutleeren Intellektualismus. Der Jude ist nach seiner Schilderung ein geiziges Geldungeheuer, das doch durch seine snobistisch hohen Preise unsere Kunst verdirbt. Er ist ein krasser Egoist und chloroformiert doch Staat und Gesellschaft durch charitative Einrichtungen ... Sein Weg geht nach Ansicht der Rassephilosophen über Leichen, und doch ist er internationaler Pazifist; er wird geschmäht, weil er sich an alles anpaßt, und verabscheut, weil er die eigene Art so zäh festhält ... Der eine hält ihn für einen reißenden Tiger, der andere für ein auf zwei Beinen daherwandelndes Stück Hirn.« Diese Charakteristik des Antisemiten, die Carl Christian Bry in seinen »Verkappten Religionen« entworfen hat, stimmt in allen Punkten mit der Wirklichkeit überein. Jeder Unbefangene hat schon einmal über diese Unbegreiflichkeiten, diese horrenden Widersprüche den Kopf geschüttelt. Man kann sagen: die Ablehnung des Antisemitismus aus Gründen der Logik ist Allgemeingut der deutschen Intelligenz.
Grundlagen des Antisemitismus
Und doch greift der Antisemitismus, den man tausendmal mit geistigen Waffen vernichtet zu haben glaubt, immer weiter um sich. Vorurteilsfreie, gebildete, vernünftige Männer beginnen langsam, unsicher zu werden. Man sucht nach Formulierungen, man neigt zu der Ansicht, daß an diesem Massenwahnsinn doch »irgend etwas« richtig sein müsse; man zerstört die Abwehrfront gegen die Antisemiten durch intellektuelle Spielereien, anstatt sich klar zu machen, daß die Front falsch ausgerichtet ist. Man durchstudiert mit heißem Bemühen die phantastischen Wälzer des Rasseprofessors Günther, nur um nicht erkennen zu müssen, daß der Antisemitismus in der Hauptsache das Zwangsprodukt ökonomischer Verhältnisse ist. Man wird diese Hilflosigkeit der deutschen Intelligenz noch oft festzustellen haben, wenn man die Entwicklung des deutschen Fascismus untersucht.
Der Antisemitismus ist kein Reservatrecht des deutschen Volkes. Seine reinste und folgerichtigste Ausprägung hat er in den entsetzlichen Pogromen in Rußland gefunden, die bekanntlich im Jahre 1882 zu einer Beschränkung der gesetzlichen Rechte der jüdischen Bevölkerung geführt haben. Auch in Ungarn hat die antisemitische Bewegung große Erfolge gehabt, die sich besonders in der beschränkten Zulassung von Juden zum Hochschulstudium geäußert haben. Und schließlich sind im Jahre 1927 die Pogrome der siebenbürgischen Studenten – was die Zahl der ermordeten und mißhandelten Juden und der geschändeten Jüdinnen anbelangt – erfolgreicher gewesen als bisher die ganze nationalsozialistische Bewegung in Deutschland.
Altes Lied
Das antisemitische Deutschland hat jedoch den unbestrittenen Ruhm, die Judenverfolgung parteimäßig und politisch organisiert zu haben. Die Geschichte dieser antisemitischen Parteien, Grüppchen und Geheimbünde ist außerordentlich aufschlußreich für das Verständnis des deutschen Fascismus.
Man braucht dazu nicht bis in die graue Vorzeit zurückzugehen und nachzuweisen, daß die Beschuldigung des Ritualmordes, die im Mittelalter ständig den Auftakt zu blutigen Judenverfolgungen gebildet hat, von jeher ein sehr beliebtes Mittel der herrschenden Klasse gewesen ist, sich unbequemer politischer oder weltanschaulicher Gegner zu entledigen. Bekanntlich ist dieser Vorwurf ja bei den Christenverfolgungen im römischen Kaiserreich der einzige plausible Grund gewesen, mit dem man dem Volk die raffinierte und genußvolle Abschlachtung der Christen als notwendig klarmachen konnte. Die Beschuldigung, die Christen benötigten für ihre geheimnisvollen Abendmahlsfeiern das Blut eines heidnischen Kindes, verschwand erst in dem Augenblick aus der Geschichte der christlichen Kirche, als das Christentum Staatsreligion wurde. Nun wurde sie – nachdem man ihre Wirksamkeit erkannt hatte – unbefangen und ausgiebig gegen die Juden angewendet. Seitdem hat diese Schauermär immer wieder herhalten müssen, wenn sich in irgendeinem Lande für die herrschende Klasse die Notwendigkeit ergab, sich gegen die unbequem werdende wirtschaftliche Machtstellung der jüdischen Händlerschaft zu wehren.
Wegen der dazu notwendigen eingehenden Quellenkritik muß hier auf den Nachweis verzichtet werden, daß in allen jenen Fällen, bei denen die idealistische Geschichtsschreibung lediglich das Walten eines bedauerlichen, blinden Aberglaubens anzunehmen geneigt ist, eine Verlagerung der ökonomischen Verhältnisse der tiefere Grund jeder Judenverfolgung gewesen ist. Es genügt zu wissen, daß seit der ersten organisierten antisemitischen Bewegung im Abendland, unter Philipp II. von Frankreich, die Blutbeschuldigung gegen die Juden niemals verstummt ist. Und das, obwohl auch die bescheidenste Kenntnis der mosaischen Lebenslehre, die ihren Anhängern sogar den Genuß von Tierblut auf das strengste untersagt, das Aufkommen einer so irrsinnigen Behauptung hätte verhindern müssen.
Geschlachtete Kinder
Aber der Zwang der ökonomischen Verhältnisse war eben stärker als jede menschliche Einsicht: es bedurfte keiner großen Überredungskunst, einem an die Juden verschuldeten Fürsten des Mittelalters begreiflich zu machen, daß die bequemste und rationellste Art der Schuldentilgung darin besteht, den lästigen Gläubiger aus der Welt zu schaffen. Und dieser Brauch ist so reichlich geübt worden, daß sich bereits im frühen Mittelalter für die katholische Kirche die Notwendigkeit herausstellte, ihre gesellschaftliche Funktion als Hüterin des Frühkapitalismus auch auf diesem Gebiet auszuüben. Sie lieferte post festum die Begründung für die Judenverfolgung und sprach zwei arme Kinder heilig, die angeblich von den Juden geschlachtet worden waren. Und so wallfahrtet man noch heute in Spanien und Italien zu den Kapellen des heiligen Simon von Trient, und als unvergängliche Zeugen für die abgründige Scheußlichkeit der Juden grüßen heute noch am Rhein wohlgepflegte Kapellen des heiligen Werner in das Tal des deutschen Stroms hinunter ...
Wie völlig gegenstandslos diese Mordbeschuldigungen sind, geht daraus hervor, daß man sie ganz plötzlich fallen ließ, als sich eine noch plausiblere Argumentation für diese Pogrome ergab. Im Jahre 1215 wurde auf dem Laterankonzil die Lehre von der Transsubstantiation zum Dogma erhoben, die Lehre, daß sich während der Messe unter dem Segen des Priesters Brot und Wein tatsächlich in Leib und Blut Jesu Christi verwandelten. Von diesem Zeitpunkt an trat der Ritualmord zurück hinter den Verbrechen, die die Juden an der geweihten Hostie, also am Leibe Christi, verübten. Solange noch das Wunder der Transsubstantiation die Gemüter der Gläubigen in ihrem Bann hielt, solange wurden unzählige Juden deswegen verbrannt und ersäuft, weil sie die geweihte Hostie mit Messern zerschnitten, mit Nadeln zerstochen oder in Abtritte geworfen haben sollten.
Reinliche Scheidung
Es ist selbstverständlich, daß in protestantischen Staaten, in denen das Meßwunder als Erfindung des papistischen Antichrists abgelehnt wurde, mit dem Verbrechen an Hostien nicht viel anzufangen war. Und so ist von hier an eine reinliche Scheidung zu konstatieren: die katholischen Staaten verbrannten den Juden, weil er sich an der Hostie vergangen hatte, die protestantischen kehrten zu der soliden Beschuldigung des Ritualmordes zurück. Im Jahre 1570 wurden im protestantischen Berlin allein 34 Juden verbrannt, weil sie ein Christenkind geschlachtet haben sollten. Und noch unter der Regierung Friedrichs II. von Preußen hat man in Frankfurt an der Oder eine Anzahl von Juden in ein hochnotpeinliches Ritualmordverfahren gezogen, das allerdings ergebnislos verlief.
In der Geschichte der abendländischen Judenverfolgungen klafft dann eine große Lücke. Zum erstenmal seit Jahrhunderten verstummten die Anklagen wegen jüdischer Religionsverbrechen und Ritualmorde. Hatte die menschliche Vernunft endlich über die finsteren Mächte des mittelalterlichen Aberglaubens gesiegt? Hatte die Aufwärtsentwicklung der Menschheit, an die uns zu glauben befohlen wird, endlich jenen Zustand erreicht, in dem sie den Juden als gleichberechtigtes Glied der großen Gemeinschaft ansah? Die weitere Geschichte des Antisemitismus zeigt zur Genüge, daß Ritualmord und Hostienverbrechen keineswegs an Macht über die Geister des Volkes verloren hatten.
Emanzipation der Juden
Jenes Vakuum in der Geschichte der Judenverfolgung war ausgefüllt mit Vorgängen, die dem Antisemitismus seine ökonomischen Grundlagen entzogen. Die Französische Revolution, die Emanzipation des dritten Standes und die damit verbundene Rückdrängung der rein dynastischen Interessen, der Anbruch des bürgerlichen Zeitalters, das die Welt vor neue Probleme stellte, der Kampf um die Verfassung in Frankreich und Preußen, die überraschende Ausdehnung des Handels, die beginnende Industrialisierung – der Jude, zwar noch beschränkt in seinen bürgerlichen Rechten, konnte nicht länger ausgeschlossen bleiben von der Teilnahme an jener Entwicklung. Hinderte ihn die reaktionäre Gesetzgebung auch noch weiterhin an produktiver Betätigung, konnte er noch keine industriellen Unternehmungen gründen, nicht an der Emanzipation des dritten Standes, etwa durch Eintritt in die Beamtenlaufbahn, teilnehmen, so förderten der schnellere Geldumlauf, die steigende Produktion und der ständig wachsende Warenumschlag die allmähliche Aufhebung jener Schranken, die ihn ins Ghetto gebannt hatten, und sein Eindringen in den kapitalistischen Produktionsprozeß. Es war in diesen Jahrzehnten unmöglich, in einem Kaufmann einen Kaufmann, dagegen in einem jüdischen Kaufmann einen Juden sehen zu wollen. Die Emanzipation des Judentums war eine geschichtliche Notwendigkeit, der sich im angehenden bürgerlichen Zeitalter niemand mehr verschließen konnte.
Aberglaube, menschliche Dummheit und beschränkter Hochmut des Bürgers existierten nach wie vor. Immer noch glaubten Millionen von Europäern an das heilige Wunder der Transsubstantiation, immer noch bestanden die uralten »Geheimlehren« des Judentums – aber es fehlten die ökonomischen Fermente, durch die sich ein Antisemitismus hätte entwickeln können. Und der Jude emanzipierte sich.
Das ging im einzelnen nicht ohne Schwierigkeiten vor sich. Besonders interessant sind die Verhandlungen, die in Preußen und in Deutschland schließlich zur völligen Gleichberechtigung der Juden mit den Angehörigen der übrigen Bekenntnisse geführt haben.
Verklausulierte Toleranz
Das preußische Kabinett legte dem Ersten Vereinigten Landtag im Jahre 1847 einen Gesetzentwurf vor, dessen erster Paragraph lautete: »Die Juden, welche in allen Landesteilen unserer Monarchie, mit Ausschluß des Großherzogtums Posen, ihren Wohnsitz haben, genießen, soweit dieses Gesetz es nicht anders bestimmt, neben gleichen Pflichten gleiche bürgerliche Rechte mit unseren christlichen Untertanen.«
»Soweit dieses Gesetz es nicht anders bestimmt« – das Gesetz machte jedoch so viele Einschränkungen, daß von einer völligen Gleichstellung der Juden keine Rede sein konnte. Der Entwurf wurde deshalb von den liberalen Abgeordneten des Landtags heftig angegriffen, die sich nicht so sehr gegen den Ausschluß der posenschen Juden von den Segnungen der liberalen Gesetzgebung wehrten, als vielmehr gegen die Bestimmung, die Juden sollten nur zu solchen Staats- und Gemeindeämtern zugelassen werden, mit deren Ausübung eine »obrigkeitliche Autorität« nicht verbunden war. Der Gesetzentwurf wurde, als nicht weitgehend genug, vom Landtage nach erbitterten Diskussionen abgelehnt.
Im Verlauf der Debatte nannte der Abgeordnete von Beckerath den Gesetzentwurf einen »letzten Versuch, in welchem der enge mittelalterliche Geist noch einmal gegen die freie, wahrhaft christliche Weltanschauung hervorzutreten wagt«. Und weiter sagte er, es sei ihm interessant gewesen, in einem der Diskussionsredner diesen mittelalterlichen Geist leibhaftig erschienen zu sehen.
Ein antisemitischer Krautjunker
Der Mann, gegen den sich diese sarkastische Bemerkung richtete, schrieb am Abend dieses 15. Augusts 1847 seiner Braut in einem Brief: »Gestern langweilige Juden-Debatten. 25 Reden für Emanzipation der Juden, die immer wieder dieselben sentimentalen Salbadereien vorbrachten. Ich eine lange Rede gegen die Emanzipation gehalten, viel Bitteres gesagt, gehe nicht mehr durch die Königstraße, weil mich die Juden abends totschlagen.« Auf die Rückseite des Briefkuverts schrieb der zweiunddreißigjährige Landtagsabgeordnete »Otto von Bismarck-Schönhausen«.
Die erste politische Tat, mit der der spätere Reichsgründer vor die Öffentlichkeit trat, war eine Rede gegen die Emanzipation der Juden, die den Geist des reaktionären Krautjunkertums atmete, aus dessen Fesseln sich der junge Abgeordnete damals noch nicht hatte lösen können. In dieser Rede finden sich jene Worte, die in den späteren Redeschlachten der Antisemiten immer wieder haben beweisen sollen, daß Bismarck ein Judengegner gewesen sei, den lediglich sein hohes Amt daran gehindert habe, seinen Antisemitismus praktisch zu betätigen. Bismarck sagte damals u. a.: »Ich bin kein Feind der Juden, und wenn sie meine Feinde sein sollten, so vergebe ich ihnen. Ich liebe sie sogar unter Umständen. Ich gönne ihnen auch alle Rechte, nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden ... Die Juden verlangen Landräte, Generale, Minister, ja unter Umständen auch Kultusminister. Ich gestehe ein, daß ich voller Vorurteile stecke. Ich habe sie mit der Muttermilch eingesogen, und es ist mir nicht gelungen, sie wegzudisputieren ... Ich gestehe zu, daß in Berlin und überhaupt in größeren Städten die Judenschaft fast durchweg aus achtungswerten Leuten besteht. Ich gebe zu, daß solche auch auf dem Lande nicht bloß zu den Ausnahmen gehören, obgleich ich sagen muß, daß der entgegengesetzte Fall vorkommt ...«
»Vorurteile«
Der christliche Staat, die religiöse Grundlage des Staates, die geheiligte Person des preußischen Königs, – dies sind die Argumente, mit denen der agrarische Abgeordnete gegen die Emanzipation der Juden argumentieren muß. Und er ist doch ehrlich genug, einzugestehen, daß diese Vorurteile in der ökonomischen Verärgerung des Bauern gegen den jüdischen Händler eine so bedenkliche Stütze finden, daß Ursache und Wirkung nicht gut mehr auseinanderzuhalten sind.
Der falsche Kronzeuge
Bismarcks Stellung zum Judentum ist in der öffentlichen Meinung Deutschlands niemals richtig erkannt worden. So hat es geschehen können, daß sich die wildeste antisemitische Agitation heute immer noch auf Bismarck als Kronzeugen berufen kann, obwohl der Reichskanzler von den Worten jenes jungen Landtagsabgeordneten oft energisch abgerückt ist. Obwohl er schon wenige Wochen nach jener Debatte anläßlich eines Gesetzentwurfs über die Zivilehe zum Beispiel die Ehe zwischen Juden und Christen ausdrücklich gebilligt hat ...
Das preußische Ministerium sah sich nach der Ablehnung seines ersten Gesetzentwurfs »die Verhältnisse der Juden betreffend« gezwungen, in einem zweiten Entwurf den Juden die völlig gleichen Rechte zuzubilligen wie den christlichen preußischen Untertanen. Dieser Entwurf wurde vom Landtag angenommen, und damit war die Emanzipation der Juden in Preußen wenigstens theoretisch vollzogen. Praktisch blieb jedoch immer noch eine ganze Reihe von Ausnahmebestimmungen in Kraft. So durfte trotz dem Gesetz vom Jahre 1847 in Preußen kein Jude Richter werden, und in den kleineren norddeutschen Staaten hatte sich die mittelalterliche Judengesetzgebung sogar noch soweit erhalten, daß kein Jude Grundbesitz erwerben, in Mecklenburg sogar in bestimmten Gegenden nicht einmal übernachten durfte!
Gegen diese Rudimente richtete sich dann folgender Antrag, der am 4. Mai 1869 im Norddeutschen Bundestag gestellt wurde: »Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landverwaltung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.« Dieser Gesetzentwurf wurde in allen drei Lesungen mit großer Mehrheit angenommen, und im Bundesrat setzte sich der preußische Ministerpräsident energisch für ihn ein. Dieser Ministerpräsident war derselbe Mann, der im Jahre 1847 gegen die Emanzipation der Juden gesprochen hatte. Das staatsrechtliche Dokument, durch das den Juden im Gebiet des Norddeutschen Bundes die volle bürgerliche Gleichberechtigung verliehen wurde, trägt die Unterschrift »von Bismarck«. An diesem geschichtlichen Faktum ändert der »in Bismarcks Geist« geführte Kampf der deutschen Nationalsozialisten nicht das geringste, die heute die Schaffung eines Ausnahmerechts für Juden als einen ihrer wesentlichsten Programmpunkte verfechten.
Bismarck und die Juden
Es ist etwas anderes als die Freude an einer psychologischen Untersuchung, was hier zu einem kurzen Rückblick auf die erstaunliche Entwicklung nötigt, die Otto von Bismarck in den Jahren 1847 bis 1869 in seiner Stellung zum Judentum durchgemacht hat. In dieser Wandlung bekundet sich die Entwicklung vom reaktionären Großagrarier zum Staatsmann, die Befreiung aus den Grenzen eines beschränkten ökonomischen Privatinteresses und die sich vollendende Erkenntnis von den Bedürfnissen des modernen kapitalistischen Staates.
Bismarck und Rothschild
Diese Wandlung vollzog sich in Bismarck, während er als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt am Main Gelegenheit hatte, mit jüdischen Kreisen in enge Berührung zu kommen. Es ist bekannt, daß Bismarck sein ganzes Leben hindurch dem alten Baron Amschel Rothschild eine herzliche Erinnerung bewahrt hat, daß ihm »der alte Schacherjude« restlos imponierte, und daß er sich freute, diese Sympathie von Rothschild erwidert zu sehen. Schon im Jahre 1853 – sechs Jahre nach seiner ersten und einzigen reaktionären Judenrede – erkennt Bismarck bereits die Hintergründe der gelegentlich auftauchenden antisemitischen Strömungen. Damals bekämpfte er energisch eine Eingabe von österreichisch gesinnten Frankfurtern, die um die Beschränkung der bürgerlichen Rechte der Frankfurter Juden beim Bundestag petitionierten. Bismarck stellte diese Eingabe in seinem Bericht an die preußische Regierung dar als eine Machenschaft, die mit staatsrechtlichen Erwägungen nichts gemein habe, sondern lediglich den politischen Interessen der österreichisch-katholischen Partei des Bundestages dienen könne. Hier findet man nichts mehr von den Ressentiments, zu denen sich noch vor sechs Jahren der Landtagsabgeordnete bekannt hatte, nichts mehr von »mit der Muttermilch eingesogenen« Vorurteilen: geblieben scheint jedoch bei Bismarck die Erkenntnis zu sein, daß der Antisemitismus in der Regel wesentlich andere Beweggründe hat als die, die seine Agitatoren zur Idyllisierung und Heroisierung ihrer Bestrebungen gelten lassen wollen. Jedenfalls wurde aus Otto von Bismarck im Verlaufe dieser Jahre jener »Judenknecht«, als den ihn eine Unzahl antisemitischer Schmähschriften später begeiferte, von denen Herr Hitler, der kongeniale Nachfahre Bismarcks, heute nichts mehr weiß ...
Bismarck, der Judenknecht
»Bismarck der Judenknecht« – die Pikanterie dieser historischen Groteske läßt es heute merkwürdigerweise fast als eine Notwendigkeit erscheinen, wegen dieser Erinnerung um Entschuldigung zu bitten. Aber es ist nun einmal durch kein peinliches Erstaunen aus der Welt zu schaffen, daß der Antisemitismus in Deutschland von der Person Bismarcks nicht zu trennen ist. Die ersten Lebensregungen des Antisemitismus im Kaiserreich richteten sich gegen den völkischen Heros Bismarck, der sich heute gegen die maßlose Geschichtsfälschung der deutschen Nationalsozialisten nicht zur Wehr setzen kann. »Bismarck der Judenknecht«, »Das deutsche Kaiserreich eine jüdische Mache« – man kann nicht oft genug darauf hinweisen, daß diese Schlachtrufe am Anfang der antisemitischen Bewegung gestanden haben, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland aufkam.
»Bismarcks jüdische Beziehungen« sind der erste Anlaß dafür gewesen, daß Kleinbürgertum und Feudalismus in gleicher Weise ihre ökonomische Verärgerung im Antisemitismus abzureagieren begannen. Und man muß zugeben, daß Bismarck seinen antisemitischen Gegnern Grund genug zu den finsteren Verdächten geboten hat.
Schon in der ersten Zeit seiner Ministerpräsidentschaft hat Bismarck enge Beziehungen zu dem Berliner Vertreter des Hauses Rothschild, dem Bankier Gerson Bleichröder, unterhalten. Für diese Beziehung waren in allererster Linie dienstliche Gründe bestimmend: Baron Amschel Rothschild war bekanntlich preußischer Hofbankier, und es ist selbstverständlich, daß den verantwortlichen Leiter der preußischen Politik viele Geschäfte mit dem Hause Rothschild verbanden. Allmählich wurde jedoch die Verbindung Bismarck-Bleichröder enger und persönlicher. Bismarck ließ sein gesamtes Privatvermögen von Bleichröder verwalten und gab ihm unbeschränkte Vollmacht, darüber nach seinem Gutdünken zu disponieren. Bleichröder, als Vertreter Rothschilds, verfügte über eine Unzahl von internationalen Verbindungen, die Bismarck nicht zögerte, für die preußische Politik nutzbar zu machen. Sehr bald bildete sich die Gewohnheit heraus, daß Gerson Bleichröder jederzeit unangemeldet in Bismarcks Amtszimmer erscheinen durfte, vor dem oft stundenlang Generale und altadelige Minister antichambrieren mußten. Bleichröder ist es auch gewesen, der Bismarck durch halsbrecherische Kredite überhaupt erst die Finanzierung des Kriegs von 1866 ermöglicht hat. Und Bismarck hat nie unterlassen zu betonen, daß er für seine genialen politischen Pläne nicht bei seinen Standesgenossen, sondern bei jüdischen Bankiers das für ihn lebenswichtige Verständnis und tatkräftige Unterstützung gefunden hat.
Antisemitismus der Feudalen
Der Reichskanzler, der in Fragen der Finanz- und Handelspolitik sich niemals ganz sicher gefühlt hat, forderte Bleichröder zusammen mit dem Grafen Guido von Henckel-Donnersmarck auf, 1870 ins Hauptquartier nach Versailles zu kommen und ihn dort bei der Frage der französischen Kriegskontribution zu beraten. Diese erstaunliche Gleichstellung eines jüdischen Bankiers mit einem Reichsgrafen erregte in den Kreisen der hohen Militärs große Erbitterung, die sich schon frühzeitig in massiven Verdächtigungen der wahren Natur dieser engen Freundschaft äußerten.
Zu Beginn der siebziger Jahre hatte Bismarck in seiner nächsten Umgebung eine ganze Reihe von Juden mit verantwortlichen Aufgaben betraut: so waren zum Beispiel der spätere Kolonialdirektor Kayser, die späteren Minister Friedberg und Friedenthal und der Chef des Geheimen Literarischen Kabinetts Hahn Juden. Und weiter war damals schon erkennbar die ungewöhnliche, respektvolle Hochachtung, mit der Bismarck einen Mann wie den Juden Martin Eduard von Simson auszeichnete, den ersten Präsidenten des Deutschen Reichstags, der später auf Bismarcks Betreiben Präsident des Reichsgerichts in Leipzig wurde.
So psychologisch interessant Bismarcks Beziehungen zu prominenten deutschen Juden auch sein mögen – in diesem Zusammenhang können sie nur soweit interessieren, als sie unmittelbar mit dem Entstehen der deutschen antisemitischen Bewegung in Verbindung zu bringen sind. Und dieser Zusammenhang ist oft und leidenschaftlich in unzähligen antisemitischen Kampfschriften hergestellt worden.
Emanzipation der Juden
Es ist natürlich, daß die erst kürzlich vollzogene Emanzipation der Juden in denjenigen Kreisen eine Gegenbewegung auslösen mußte, die im Eindringen der Juden in geheiligte feudalistische Reservatrechte eine Gefahr für ihre eigene Existenz erblicken konnten. Der Antisemitismus dieser depossedierten Feudalen blieb zunächst jedoch beziehungslos und äußerte sich lediglich in subalternen Intrigen gegen das Vordringen einer Schicht, in der man eine neue Gesellschaftsklasse fürchten zu müssen glaubte. Unfähig, die zwangsläufige ökonomische Entwicklung des neuen deutschen Kaiserreichs zu verstehen, konnte die feudalistische Militär- und Beamtenhierarchie nicht erkennen, daß die fortschreitende Emanzipation der Juden lediglich Ursache, nicht Wirkung der energischen Wendung vom feudalistischen Wirtschaftsprinzip zum Hochkapitalismus war. So symbolisierten und bekämpften sie im Juden eine wirtschaftliche Entwicklung, die über sie hinweggehen mußte, und stemmten sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen die Assimilierung der Juden, die in anderen europäischen Ländern längst verhältnismäßig schmerzlos vor sich gegangen war. Immerhin ist festzustellen, daß die feudalistische Ideologie auch im neuen Kaiserreich doch noch so kräftig blieb, daß sie unter dem Zwang der ökonomischen Veränderungen die ostelbischen Krautjunker nicht in Getreidefabrikanten verwandelten, sondern die jüdischen industriellen Unternehmer in Industrie-»Barone«.
Übergreifen auf das Kleinbürgertum
Diese feudalistische Komponente des neudeutschen Antisemitismus konnte jedoch dann erst praktische Folgen zeitigen, als der Antisemitismus auf die Schichten des ökonomisch wie ideologisch wenig scharf ausgeprägten Kleinbürgertums überzugreifen begann. Die Daseinsangst der Feudalen konnte freilich diese Schichten nicht soweit interessieren, daß sie die schwachen antisemitischen Regungen der herrschenden Klasse selbständig aufnahmen und verfochten. Es mußte dazu erst ein besonderer ökonomischer Zusammenhang entstehen. Und er entstand in der wirtschaftlichen Katastrophe, die das Kleinbürgertum in der sogenannten »Gründerperiode« erlitt.
Die Entstehung des neuen Deutschen Reichs hatte geradezu phantastische Hoffnungen in den Kreisen des Unternehmertums erweckt. Die ungeheuerliche Kontribution, die nach dem Friedensschluß eine wahre Goldinflation in Deutschland hervorrufen sollte, würde – so hoffte man – eine gewaltige wirtschaftliche Entwicklung des jungen Deutschen Reichs zur unmittelbaren Folge haben. Einstweilen eskomptierte man diese wilden Hoffnungen dadurch, daß man Unternehmen auf Unternehmen ins Leben rief, ohne im geringsten danach zu fragen, wie und wann es sich rentieren würde, und ob überhaupt ein Bedürfnis für sein Dasein gegeben wäre. Nichts kennzeichnet besser den irrsinnigen Hoffnungsrausch, der damals in dem siegreichen Lande seine Orgien feierte, als die Tatsache, daß allein in den Jahren 1871 und 1872 im deutschen Reichsgebiet nicht weniger als 780 neue Aktiengesellschaften gegründet wurden, während es bis dahin insgesamt nur etwa 300 Aktiengesellschaften gab.
Gründungsschwindel
Keiner wollte sich die riesigen Gewinnchancen entgehen lassen, die diese Neugründungen boten, und in das Gründungsfieber wurde gleichermaßen der große und der kleine Kapitalist hineingezogen, der vermögende Feudale und der strebsame Kleinbürger, der solide Kaufmann und der Börsenspekulant, der Jude und der Christ. Von dem Zusammenbruch, der im Jahre 1873 mit einem allgemeinen Kurssturz einsetzte, wurden Bevölkerungsklassen betroffen, deren ökonomische Schicksale normalerweise grundverschiedener Natur waren. Und es entstand – vorläufig ohne jede weitere praktische Konsequenz – eine Schicksalsgemeinschaft der dilettierenden Kapitalisten aller Schattierungen, deren stumpfer Verzweiflung nur noch ein Ventil fehlte.
Neben dieser Entwicklung her liefen die Anfänge einer – für unsere heutigen Begriffe bescheidenen – industriellen Rationalisierung. Der selbständige Handwerker, der bisher den weitaus größten Anteil an der Veredlungsindustrie gehabt hatte, wurde mehr und mehr vom industriellen Großbetrieb zurückgedrängt, der sich nicht auf den ihm bisher zugefallenen Anteil an der Produktion beschränken konnte. Kleiderfabriken, Schuhfabriken, Fertigfabrikate in der Textil- und der Eisenindustrie, überall erlitt der Handwerksmeister, den Kapitalmangel oder fehlende Unternehmerinitiative daran hinderten, an dieser Entwicklung teilzunehmen, eine Schlappe nach der anderen.
Ökonomische Verärgerung
Hinter der glänzenden Fassade eines jungen, mächtigen Staatswesens verbargen sich ungezählte Tragödien jener Art, wie sie Zola im »Paradies der Damen« gestaltet hat. Die Proletarisierung des Handwerkerstandes machte reißende Fortschritte. Das Kleinbürgertum, mit tausend Fesseln an die Ideologie der Bourgeoisie gebunden, fand nicht den Weg zum Proletariat: es blieb eine unzufriedene, dumpf räsonierende Bevölkerungsklasse, die – im Herzen das Ideal der guten alten Zeit und des fleißigen Bürgers von bescheidenem Wohlstand – doch unrettbar in den Mahlstrom der kapitalistischen Entwicklung hineingerissen worden war. Der deutsche Kleinbürger, nicht gewohnt, in Kausalzusammenhängen zu denken, suchte nach handgreiflichen Gründen für seine Not und – fand keine. Gott, Kaiser, Vaterland auf der einen Seite, auf der anderen die unheimlich anwachsende Sozialdemokratie, die nichts von den Lebenswerten bestehen lassen wollte, die den einzigen Lebensinhalt des Kleinbürgertums ausgemacht hatten, und zwischen diesen beiden Polen das gedrückte, ruinierte Kleinbürgertum selbst, das mit den ihm in den Schoß gefallenen politischen Rechten nichts anzufangen wußte: langsam wuchs die Gefahr, daß aus der stupiden Nörgelei des deutschen Spießers sich die Rebellion einer Klasse entwickeln würde, die sich ihrer ökonomischen Lage klar zu werden begann. So lagen die Dinge um die Mitte der siebziger Jahre.
Inzwischen wuchs die durch tausenderlei unkontrollierbare Einflüsse genährte Mißstimmung gegen den Gründer des Deutschen Reichs in den Kreisen seiner reaktionären Standesgenossen. Die Beamtenhierarchie erkannte mit Schrecken, daß Bismarcks Beziehungen zu gewissen jüdischen Financiers immer enger und bedeutsamer wurden. Nach wie vor ging der Geheime Kommerzienrat Gerson von Bleichröder beim Reichskanzler ein und aus, und immer häufiger gelangten ins Auswärtige Amt Informationen des Bankiers, über deren Gewichtigkeit man sich nicht mit höhnischem Achselzucken hinwegsetzen konnte. Diplomaten gewöhnten sich daran, in persönlichen Unterredungen politische Probleme mit Bleichröder zu erörtern, und plötzlich flüsterte man sich in allen Amtsstuben zu, Bismarck sei von Bleichröder vollkommen abhängig, seine Politik wäre in Wirklichkeit »Judenpolitik«.
Der Jude ist schuld
Nicht alle Unternehmer waren in den Zusammenbruch des Jahres 1873 hineingezogen worden. Es gab eine ganze Reihe von Industriellen und Financiers, die der stürmischen Entwicklung von vornherein mißtrauisch gegenübergestanden, die vorsichtig und zurückhaltend operiert hatten, und die nun nach der Katastrophe auf der Höhe ihrer Macht standen. Gewiß – es waren auch Aristokraten darunter, Industrielle aus den älteren Fabrikantenfamilien, in denen sich bereits eine Tradition herausgebildet hatte, und an deren Existenz sich das Volk gewöhnt hatte. Die sah man nicht – man sah die Neureichen, Herrn Cohn, der noch vor zwanzig Jahren schäbig und schmutzig auf seinen Schätzen hockte, und der nun an dem glänzenden Pomp des Kaiserreichs offen Anteil nahm und vierelang die Linden hinunterfuhr. Man sah die Söhne der alten Familien sich um die Töchter jüdischer Kaufleute bemühen, man erlebte Mesalliancen, die man nie für möglich gehalten hätte, und man munkelte, Bismarck, der Reichskanzler, habe gegen diese »Blutauffrischung« nichts einzuwenden. Sein Wort, es wäre sehr zu begrüßen, »wenn sich ein christlicher Hengst mit einer jüdischen Stute paare« wurde kopfschüttelnd kolportiert. Die offenkundige Tatsache, daß nach der Emanzipation nun auch der Jude aus dem wirtschaftlichen Aufschwung des Volkes Vorteile zog, konnte nicht aus sich heraus begriffen werden. Die mißtrauische Unzufriedenheit des Kleinbürgertums erfühlte einen Angriffspunkt: der Jude. Ritualmorde, Ghettolegenden, die Juden werden reich, und wir werden arm, der Jude ...
Konservative Revolverjournalisten
Bezeichnend ist, daß der langandauernde Pressefeldzug der Antisemiten gegen Bismarck seinen Ausgang nahm von einer Artikelserie, die in der stockkonservativen »Kreuz-Zeitung« im Sommer 1875 erschien. Es handelt sich hierbei um die sogenannten »Aera-Artikel«, in denen zwar versteckt, doch unmißverständlich die Behauptung aufgestellt wurde, Fürst Bismarck sei an der Politik, die er zum Besten des Reiches zu führen vorgäbe, finanziell außerordentlich interessiert. Diese Beschuldigungen gegen Bismarck wurden aufgegriffen von einem Kreis konservativer Revolverjournalisten, die sich sehr enger Beziehungen zum kaiserlichen Hof und zu hohen amtlichen Stellen erfreuen konnten.
Dieser feudalistische Antisemitismus hat Bismarck viel zu schaffen gemacht. Wie massiv die Verleumdungen und Angriffe dieser reaktionären Kreise gegen ihn gewesen sind, dafür einige Beispiele. Einer der »Reichsglocken«-Mitarbeiter, Dr. Rudolf Meyer, veröffentlichte 1877 eine Broschüre »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland«, in der sich neben anderen Beschuldigungen folgende Sätze finden: »Es gibt fast keinen Fehler, dessen die gegenwärtige deutsche Reichs- und preußische Staatsregierung sich nicht schon schuldig gemacht hätte, bloß um ihre skandalösen Beziehungen zu Berliner Financiers zu verschleiern ... Das aber wollen wir sagen und dafür wollen wir einstehen, daß die Korruption unerhörte Dimensionen angenommen hat, seit das System Bismarck daselbst herrscht. Es ist ein arges Regiment, unter dem wir leben. Sein Name aber ist Bismarck!«
Alte Bekannte
Der Herausgeber der »Reichsglocke«, H. Joachim Gehlsen, floh 1876 ins Ausland und setzte von dort aus seine Angriffe gegen Bismarcks jüdische Korruptionspolitik mit gesteigerter Heftigkeit fort. »Der Glöckner im Exil« nannte sich seine Zeitschrift, an der auch ein Freiherr von Loë und ein Rittmeister a. D. von Putkamer mitarbeiteten.
In seiner ausgezeichneten Studie »Bismarck und die Juden« hat sich Otto Jöhlinger der Mühe unterzogen, einige Stilblüten aus der antisemitischen Literatur jener Tage herauszusuchen. Wir kennen die Melodie. Es ist fast rührend zu sehen, mit welcher naiven Unbefangenheit heute die auf streng wissenschaftlichem, rassebiologischem Boden stehende und mit exakten Mitteln arbeitende Pogromhetze der NSDAP jenen Methoden treu geblieben ist, die am Anfang des neudeutschen Antisemitismus angewendet worden sind. Und zwar gerade gegen jenen Mann, den die Nationalsozialisten als Gott und Helden ihrer Bewegung in Anspruch nehmen. Der Geist des »Völkischen Beobachters« weht den Leser dieser verschollenen Notizen traulich an. Wollte man vorschnell urteilen: man könnte mit Fug und Recht behaupten, der Antisemitismus der NSDAP und die Bismarckhetze der »Reichsglocke« seien ein und denselben Motiven entsprungen, nämlich dem Bemühen, einem höchst materiellen Interesse – der Ablehnung einer ökonomisch unbequemen Entwicklung – die nötige ethische und religiöse Begründung nachzuliefern.
Juden, die herrschende Clique
In einer aus dem Gehlsen-Kreise stammenden Broschüre von 1877, »Das kleine Buch vom großen Bismarck«, ist folgendes zu lesen: »Dem Fürsten Bismarck gebührt das Verdienst, die Juden und ihre Genossen zur herrschenden Clique in Deutschland erhoben zu haben ... Die Protektion der Juden ist eine der schwärzesten Merkmale des gloriosen Reiches Bismarcks und seine Folge die Verarmung des arbeitenden Volkes, die Demoralisierung aller Kreise der Gesellschaft, die widerliche Verschmelzung von Geld- und Geburtsadel ... Und der Fürst Bismarck ist dem Einfluß des Judentums unterlegen. Juden und Judengenossen bilden seine Gesellschaft, sie sind sein täglicher Umgang und seine politischen Ratgeber, seine Hauptkulturkämpfer ... Das deutsche Selbstbewußtsein beugt sich sklavisch dem Tyrannen Bismarck. Die Begriffe haben sich verwirrt, verdunkelt bis zur Apathie durch niedrige Leidenschaften. So liegt das germanische Volk im Staube vor einem Götzen, dessen Haupttugenden bestehen in Schlauheit, Mittelmäßigkeit, Brutalität und Unzuverlässigkeit.«
Besser können es die Herren Rosenberg und Goebbels auch nicht ...
Adolf Stöcker, Hofprediger in Berlin
Aber diese antisemitischen Tendenzen blieben immer noch die Angelegenheit eines verhältnismäßig kleinen Kreises von Reaktionären und Politikern. Die große Masse nahm wohl von den Beschuldigungen, die gegen den Reichsgründer erhoben wurden, durch die Presse Kenntnis, aber es fehlte einstweilen noch jede Beziehung zu der Lebenssphäre des Kleinbürgertums. Diese Beziehung stellte ein Mann her, der neben Bismarck der meistgehaßte und verleumdete Politiker des deutschen Kaiserreichs gewesen ist: Adolf Stöcker.
Dem Hofprediger Stöcker ist viel Unrecht geschehen. Man nannte ihn den »Meineidspfaffen« und den »zweiten Luther«; man bewunderte seinen Mut und verachtete die gehässige Vieldeutigkeit seiner Agitation; man bekämpfte ihn als skrupellosen Agenten einer reaktionären Hofclique und bezichtigte ihn heimlichen Einverständnisses mit der Sozialdemokratie. In der Geschichtsschreibung überwiegen weitaus die abfälligen Urteile über ihn, gleichgültig, ob der Betrachter den reaktionären oder den sozialen Agitator, den Bekämpfer des Liberalismus oder den Wegbereiter der Sozialdemokratie geißeln zu müssen glaubte.
Man könnte aus diesen so entgegengesetzten Charakteristiken zu schließen geneigt sein, es müsse sich auf alle Fälle bei Stöcker um eine Persönlichkeit ungewöhnlichen Formats gehandelt haben. Dieser Schluß ist irrig. Stöcker war weder als Persönlichkeit noch als Politiker eine Größe. Er war jedoch etwas wie eine tragische Erscheinung; ein Mann, der mit dem Impetus einer neuen Idee sich in die politische Arena wagte, und der erkennen mußte, daß nicht die Reinheit des Wollens oder das Ethos des Ziels für den politischen Erfolg entscheidend ist, sondern die ökonomischen Erfordernisse einer Zeit; ein Mann, der für seine Klasse das Beste wollte, und der doch erleben mußte, daß gerade diese Klasse ihn erbittert bekämpfte, weil er wohl deren Ideologie, nicht aber deren wirtschaftliche Interessen verstand und übersehen konnte; ein Mann, dem ungeheure Erfolge zufielen, und der doch am Ende einer fast vierzigjährigen unerhört aufreibenden politischen Laufbahn die Rolle eines enfant terrible im Parlament spielen mußte, eines Clowns, über dessen Späße und Erregungen man lachte, den man aber nicht ernst nahm.
Adolf Stöckers Lebenskurve und das Schicksal der von ihm ins Leben gerufenen »Christlich-sozialen Partei« sind von symptomatischer Bedeutung für das Verständnis der nationalsozialistischen Bewegung unserer Tage.
Das Ideal des kleinen Mannes
Adolf Stöcker stammte aus kleinsten Verhältnissen. Sein Vater war Wachtmeister bei den Halberstädter Kürassieren. Das Theologiestudium des jungen Mannes war eine fortlaufende Kette von Entbehrungen. Als Kandidat der Theologie verdiente er sich seinen Lebensunterhalt Jahre hindurch als Hauslehrer bei einem Grafen Lambsdorff in Kurland, und der patriarchalische und pietistische Feudalismus dieses Hauses beeinflußte sein Leben nachhaltig: er lernte, im Adel schlechthin das Ideal menschlicher Vollkommenheit zu erblicken. Seine spätere Arbeit als preußischer Militärgeistlicher, die ihn wieder ausschließlich mit Feudalkreisen in Berührung brachte, bestärkte noch seine voraussetzungslose Hochachtung vor der frommen und königstreuen preußischen Aristokratie, von der er sich niemals hat trennen können. Die Predigt des leidenschaftlichen und gut aussehenden jungen Garnisonpredigers erregt die Aufmerksamkeit des alten Kaisers Wilhelm, der ihn im Jahre 1874 als Hof- und Domprediger nach Berlin beruft.
Hier erlebt Stöcker sein Damaskus, das er nie erkennt. Der Hofprediger, der sich mit »heiligem Eifer« seinem neuen Aufgabenkreis widmet, sieht sich ratlos und erschüttert einer fremden Welt gegenüber. Die Kirchen leer. Bei seinen seelsorgerischen Besuchen in Arbeiterkreisen seines Pfarrsprengels trifft er auf feindseligen Hohn, auf eisige Ablehnung. Er sieht den gewaltigen Aufschwung der Sozialdemokratie, und er sieht auch die traurige soziale Lage des Industriearbeiters: seine dumpfen Wohnungen, seine Rechtlosigkeit gegenüber der Willkür des Unternehmers, seinen Mangel an freier Zeit, sein gehetztes und gedrücktes Dasein und seine Armut an Freude, an Sonne, an allen Gütern des Lebens, die anderen in überreichem Maß zuteil geworden sind.
Gefährliche Einsichten
Es sind gefährliche Gedanken, die den jungen Hofprediger überfallen, wie er zu erkennen glaubt, daß die Kirche ihre soziale Aufgabe nicht erfüllt hat. Mit erbitterter Energie geht der Glaubensapostel daran, die verlorenen Seelen zu retten, die verirrten Schafe wieder zurückzuführen zu Gottesfurcht und Königstreue. Aber die Mittel, die ihm sein Amt bietet, reichen für diese Aufgabe nicht aus: der Hofprediger wird zum Agitator für eine politische Sache, von der er gerade ein weitabliegendes Endziel dunkel zu erkennen glaubt: die Niederwerfung der Sozialdemokratie. Stöcker sucht nach Hilfskräften, und er findet sie in den pietistischen Hofkreisen, die gleich ihm eine intensive soziale Tätigkeit für Christenpflicht halten. Ohne die geringsten politischen, geschweige denn ökonomischen Kenntnisse, ausgerüstet nur mit dem Bewußtsein seiner gottgefälligen Sendung und mit den sozialen Forderungen des Christentums, nimmt dieser Pfarrer den Kampf gegen die Sozialdemokratie auf, von der ihm alles Übel in Deutschland zu kommen scheint. Mit der romantischen Vorstellung von einem christlichen Staat und der religiösen Sehnsucht nach dem Reich Gottes auf Erden geht dieser chiliastische Parsifal daran, eine industrialisierte und merkantilisierte Millionenstadt der Sache Gottes und des Königs von Preußen zu erobern und landet folgerichtig – beim Antisemitismus.
Ein Absturz? Eine groteske Selbstaufgabe? Ein schimpflicher Verrat an seiner heiligen Sache? Eine Notwendigkeit, nichts weiter.
Versuch eines christlichen Kapitalismus
Im Jahre 1877 hält Stöcker seine erste Versammlung in einem der größten Säle Berlins. Einem aus Proletariern und Betschwestern, aus Kleinbürgern und Aristokraten phantastisch gemischten Publikum entwickelt er seine Thesen von der Notwendigkeit, zu Gott zurückzukehren. Er sagt den Proletariern tausend bittere Dinge, die er für Wahrheiten hält, wird beschimpft, verlacht, bedroht und redet weiter. Er spricht von dem teuflischen Geist des Mammonismus, der in den letzten Jahren das deutsche Volk ergriffen hat. Und die Aristokraten zu seinen Füßen nicken schmerzlich bewegt mit den Köpfen: ihr Vermögen ist nicht von heute und gestern, es ist Jahrhunderte alt und wird Jahrhunderte überdauern, die feudalen Hof-Pietisten haben mit dem Geist des Mammonismus nichts zu tun.
Eine Versammlung fliegt unter dem gut organisierten Terror der Sozialdemokraten auf, eine zweite, eine dritte – aber Stöcker gibt nicht Ruhe. Seine Pfarrkinder bewundern seinen Mut, und in der Umgebung des Kaiserpaares spricht man mit Verehrung und Achtung von ihm. Plötzlich aber glimmt unter dem Schutt seiner romantischen Phrasen ein gefährlicher Funke auf: der Hofprediger redet den Unternehmern ins Gewissen, geißelt ihre Unnachgiebigkeit, ihre Profitgier und ihre Selbstsucht. Und dann erhebt er Forderungen: einen gesetzlich festgelegten Normalarbeitstag, der strikt eingehalten werden müßte, die Einsetzung von behördlichen Schiedsgerichten, die bei Lohnstreitigkeiten zwischen Arbeitern und Unternehmern Recht sprechen sollten, die Schaffung einer Zwangsversicherung für Arbeiter, die Unterstützung von Fachgenossenschaften durch den Staat – gefährliche Forderungen, deren Echo weithin hörbar ist.
Unerwartete Widerstände
Auch im Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße, wo Bismarck die junge Bewegung des – ihm übrigens persönlich unbekannten – Hofpredigers aufmerksam verfolgt. Bei dem Reichskanzler stehen Energie und Unternehmerinitiative jetzt höher im Kurs als die biedere Treue eines sturen Monarchisten. Dieser Bundesgenosse, der plötzlich den reaktionären Gegnern der Reichspolitik entsteht, könnte unbequem werden. Und schon beginnt der Presseapparat zu spielen, vorsichtige Warnungen werden laut, gutmütiger Spott, beißende Ironie.
Bismarcks Politik den Christlich-sozialen gegenüber ist bestimmt von einem entscheidenden Interessenkonflikt. Den lärmenden Bundesgenossen im Kampf gegen den Sozialismus begrüßt er, der christliche Dilettant auf wirtschaftlichem Gebiet ist ihm unbequem, und vor allem fürchtet er den Machtzuwachs, den Stöcker für die Reaktion bedeutet.
Das Sozialistengesetz
Aber noch ehe dieser Interessenkonflikt akut werden kann, knallen die Schüsse der Attentäter Hödel und Nobiling. Mit einem Schlage verändert sich das innenpolitische Bild. Der »Heldenkaiser«, der schwerverwundet in seinem Palais liegt, ist ein Argument gegen den »Umsturz«, das beweiskräftiger ist als alle weltanschaulichen und politischen Bindungen: das Sozialistengesetz geht durch, die Sozialdemokratische Partei verschwindet von der politischen Bühne, und die christlich-soziale Partei sieht sich plötzlich statt eines erbitterten Gegners einem leeren Raum gegenüber. Das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vom 21. Oktober 1878 entzieht Stöckers Agitation den Boden. Mehr noch: bis weit in die Kreise des gemäßigt liberalen Bürgertums und des Kleinbürgertums hinein erregt die rigorose, unmenschliche Anwendung des Sozialistengesetzes Unwillen und versteckte Empörung. Eine Denunziation an die Polizei genügt, und schon wird der Verdächtigte aufgefordert, das Weichbild der Stadt Berlin innerhalb achtundvierzig oder vierundzwanzig oder auch nur drei Stunden zu verlassen. Unzählige Existenzen brechen zusammen. Frauen und Kinder werden ihres Ernährers beraubt und skrupellos dem Elend preisgegeben. Der kleine Belagerungszustand, der über Berlin, Potsdam und einen Umkreis von fünfzehn Kilometern verhängt wird, hat eine deprimierende politische Kirchhofsruhe zur Folge. Bei alledem ist es leicht erklärlich, daß Stöcker keinen Erfolg mehr haben kann in den Kreisen, auf die es ankommt, im Kleinbürgertum und in der Arbeiterschaft: die Verbindung mit der finstersten Reaktion ist zu offensichtlich, wenn Stöcker auch jetzt noch seinen Kampf gegen die Sozialdemokratie weiterführen wollte.
Stöcker übersieht die Lage nicht. Er agitiert weiter, und seine Versammlungen bleiben leer. Oder aber: sie werden von sozialistischen Agitatoren dazu benutzt, Ziele und Aufgaben der verbotenen Partei in unverdächtigem Rahmen zu verfechten. Stöcker wird durch einflußreiche Freunde gewarnt, seine sozialpolitische Kampagne entspräche nicht den Bedürfnissen des Staates, sie sei Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie. Bismarck läßt gelegentlich spöttische und unwillige Bemerkungen fallen. Die christlich-soziale Bewegung, mit großem Aufwand als Anbruch einer neuen Zeit ausposaunt, droht kläglich und unbeachtet in der Wüste ökonomisch-politischer Zusammenhänge zu versickern.
Soziale Forderungen sind unbeliebt
Man mag es Ehrgeiz nennen, die fressende Sehnsucht des arrivierten Kleinbürgers, eine politische Rolle zu spielen, man mag annehmen, Stöcker sei vom verzehrenden Fieber der Agitation ergriffen worden, sähe nicht mehr Ziel und Zweck, sondern nur noch das berauschende, von jeder realen Bedeutung gelöste Mittel. Man kann die Wendung zum Antisemitismus, die Stöcker in diesen Tagen vollzieht, aber auch anders erklären.
Im Jahre 1880 beginnt der hartnäckige Hofprediger gefährlich zu werden. Seine sozialpolitischen Forderungen sind nicht opportun. Man kann sich gegenwärtig nicht auf charitative Experimente einlassen, die die ungestörte Entwicklung des Ausbaus der Produktionsmittel stören. Bismarck geht zum Angriff vor: in einem Ministerrat gibt er seinen Kollegen zu bedenken, ob man Stöcker nicht auf Grund des Sozialistengesetzes ausweisen lassen könne. Große Verwirrung: der Hofprediger gilt viel beim Kaiser, er verkehrt im Hause mehrerer Minister, schon als Militärgeistlicher hat er als einer der königstreusten Männer gegolten, keiner der Minister glaubt, ein Einschreiten verantworten zu können. Und Bismarcks Aktion bleibt Anregung, ohne sich zu einem formellen Antrag zu verdichten. Durch irgend einen der zahlreichen Kanäle, die den Hofprediger mit der Regierung verbinden, erfährt Stöcker von diesen beunruhigenden Vorgängen im Ministerrat und empört sich über die Einsichtslosigkeit Bismarcks, der nicht erkennen will, wie sehr sich Stöcker einzig und allein von dynastischer Devotion bei seiner Tätigkeit leiten läßt. Aber die Warnung wirkt: Stöcker wird unsicher.
Der Antisemitismus entwickelt sich
Der Hofprediger selbst stellt seine Entwicklung zum Antisemiten freilich anders dar, und man braucht ihm dabei nicht den guten Glauben abzusprechen. Die Sozialdemokratie ist als politischer Gegner, den man in Volksversammlungen bekämpfen kann, erledigt. Aber trotz den zahllosen Ausweisungen, trotz Terror und Gefängnis bleibt alles, wie es vor dem Sozialistengesetz war: die gleiche eisige Ablehnung aller monarchischen und religiösen Appelle schlägt dem Hofprediger entgegen, der »Geist des Mammonismus und Materialismus« feiert nach wie vor seine Triumphe. Stöcker sieht eine Wirkung, sucht nach einer Ursache und findet sie im Juden. Sein politisches Temperament, das keine Kontrolle durch den rechnenden Verstand kennt, entzündet sich an den lächerlichsten Dingen: die unbestreitbare Tatsache zum Beispiel, daß unter den Schülern der höheren Schulen Berlins die Verhältniszahl der jüdischen Schüler ständig im Wachsen ist, ist ihm Gelegenheit genug, in einer fast dreistündigen Rede die Verjudung Deutschlands zu beklagen. Das Gespenst des Umsturzes, der Gottlosigkeit, des Mammonismus, des Liberalismus, der Jude, der Jude! Und wie alle Fanatiker, die das Zauberrezept für das Heil der Menschheit in der Tasche zu haben glauben, stürzt er sich mit irrsinniger Wucht in einen neuen Kampf, in den Kampf gegen das Judentum.
Die »Judenfrage«
Die Parole zieht. Die erste Berliner Versammlung, in der Stöcker über die »Judenfrage« spricht, muß von der Polizei wegen Überfüllung geschlossen werden. Und wenn es schließlich auch nur die Weisheiten der feudalen Antisemiten sind, die Stöcker seinen Zuhörern vorzusetzen weiß, seine Persönlichkeit und die untergründigen Einwirkungen der gekennzeichneten ökonomischen Verärgerung sind stark genug, um diese oberflächlichen, falschen, verzerrten und kindischen Argumente als Offenbarungen erscheinen zu lassen: der Antisemitismus wird ins Kleinbürgertum hineingetragen und wird zu einer politischen Macht.
Ohne jegliche Blickmöglichkeit für ökonomische Grundtatsachen schiebt Stöcker alles auf den Einfluß des Judentums, was ihm nur irgend im Deutschen Reich ungesund und verderblich zu sein scheint: die Verschuldung der bäuerlichen Bevölkerung der östlichen preußischen Provinzen, eine notwendige Folge der Steigerung der Weltgetreideproduktion; Stöcker sieht nur den Juden, der dem Bauern Kredite gibt, um ihn nachher in teuflischer Bosheit von Haus und Hof zu vertreiben. Die beklagenswerte Lage der deutschen Industriearbeiterschaft: nicht die Profitsucht eines Unternehmertypus, den die Vervollkommnung der Produktionsmittel geschaffen hat, es gibt auch jüdische Unternehmer, und die Juden sind an allem schuld.
Das sind keine Übertreibungen. Die Grundlagen dieser Judenhetze sind so kindisch, so dürftig, so blamabel, daß ihre Wirkung auf die breite Masse des Kleinbürgertums unbegreiflich schiene, hätte man nicht einen Vergleichsmaßstab im Antisemitismus der neuesten Zeit, und wüßte man nicht, daß nicht Stöcker den Antisemitismus des Kaiserreichs geschaffen hat, sondern die Veränderung gewisser ökonomischer Verhältnisse, die das Kleinbürgertum nicht als solche zu erkennen vermochte.
Ein Firmenschild wird verändert
Zwar laufen immer noch sozialpolitische Forderungen neben dieser antisemitischen Agitation her, aber sie sind milder, höflicher, verbindlicher geworden, und es gehört schon ein scharfes Ohr dazu, sie unter dem Lärm antisemitischer Thesen herauszuhören. Stöcker begnügt sich nicht damit, seine Reden in Berlin oder in anderen Industriestädten zu halten, wo er bei der Arbeiterschaft auf Verständnis für sein soziales Programm hoffen kann: der rauschende Erfolg seiner Antisemitenversammlungen verleitet ihn dazu, aufs Land zu gehen, in Agrarstädten und Bauerndörfern seine Reden zu halten und für seine Partei zu werben. Mit dieser Abkehr von der Großstadt beginnt Stöckers gewaltiger Einfluß auf das Kleinbürgertum.
In dieser Zeit wird stillschweigend der Name seiner Partei geändert. Nannte sie sich bisher »Christlich-soziale Arbeiterpartei«, so firmiert sie plötzlich nur noch »Christlich-soziale Partei«. Und unter diesem Namen hat sie ein mehr oder weniger turbulentes Leben geführt, bis sie schließlich nach der Revolution vom 9. November 1918 aufging in der Deutschnationalen Volkspartei, in der Partei der agrarischen und kleinbürgerlichen Reaktion.
Ein zunächst völlig bedeutungsloses Ereignis kennzeichnet die endgültige Aufgabe des christlich-sozialen Programms und die radikale Wendung zum Antisemitismus. Im Sommer 1880 hält Stöcker in Lübbecke bei Minden eine Rede, in der der Zwischenruf eines Arbeiters ihn aus dem Konzept bringt. Der Redner schimpft auf die unsozialen Instinkte der jüdischen Unternehmerschaft. »Und was haben die Pastoren für die Arbeiter getan?« klingt ihm ein Zwischenruf entgegen. Stöcker, unbedacht, temperamentvoll und töricht, glaubt, sich mit einem Witz aus der Affäre ziehen zu können: »Wenden Sie sich an Bleichröder, der hat mehr Geld als alle Pastoren zusammen!«
Staatsaktion um Bleichröder
Diese rhetorische Entgleisung wird der Anlaß einer Haupt- und Staatsaktion, in deren weiterem Verlauf die Rolle des Antisemitismus im kapitalistischen Staat eine Beleuchtung erfährt, die uns Heutigen wichtiger erscheint als die ganze Stöckersche Agitation. Unsere Behauptung, daß die antisemitischen Tendenzen in ihrem Wesen und in ihrem Ziel ökonomischer Natur sind, wird gestützt durch die Behandlung jener Eingabe, die der Königliche Geheime Kommerzienrat Gerson von Bleichröder am 18. Juni 1880 an den Kaiser gerichtet hat. In jener Eingabe beschwert sich Bleichröder über die Verunglimpfungen seiner Person, die sich Stöcker in mehreren seiner Agitationsreden erlaubt hat. Der Kaiser übergibt diese Eingabe dem Reichskanzler und dem Kultusminister mit der Bitte um Stellungnahme. Und aus Bismarcks Bericht ergibt sich mit überraschender Klarheit, daß die Regierung die antisemitische Agitation nur so weit und so lange zu dulden gewillt ist, als der Antisemitismus die antikapitalistischen Neigungen des Kleinbürgertums aufzufangen und auf ein unverfängliches Ziel zu lenken geeignet ist.
Antisemitismus als Ventil für antikapitalistische Neigungen
In diesem Immediatbericht, der die Unterschriften von Bismarck und von Putkamer trägt, finden sich folgende Wendungen: »Unseres alleruntertänigsten Dafürhaltens haben die unter Leitung des Hofpredigers Stöcker in diesem Frühjahr veranstalteten Versammlungen der christlich-sozialen Partei einen Charakter angenommen, der von Aufreizung zu Klassenhaß nicht frei ist und unerfüllbare Versprechungen macht, daher für die Ordnung des Staates als bedenklich bezeichnet werden muß, und hat der Hofprediger Stöcker selbst in diesen Versammlungen namentlich die Judenfrage in einer Weise behandelt, die ernste Mißbilligung verdient ... Wenn große Versammlungen einen so tumultuarischen Charakter annehmen, wie es bei den Stöckerschen Versammlungen der Fall gewesen ist, (muß) dies notwendig in den Teilnehmern die Achtung vor der Ordnung untergraben und die Neigung zu Exzessen fördern ... Insbesondere fällt hier die Art und Weise ins Gewicht, wie er die Judenfrage behandelt hat, die in der Tat geeignet erscheint, die besitzlosen Bevölkerungsklassen gegen das begüterte Judentum aufzuregen, zumal der Hofprediger Stöcker in der Versammlung vom 11. Juni d. Jahres, welche den eigentlichen Gegenstand der Beschwerde des p. von Bleichröder bildet, sich dazu hat hinreißen lassen, auf eine bestimmte Persönlichkeit, eben den Geheimen Kommerzienrat von Bleichröder, als Prototyp des übermäßige Schätze ansammelnden Judentums in einer die gesetzlose Begehrlichkeit ermutigenden Art hinzuweisen ... Eure Kaiserliche und Königliche Majestät bitten wir hiernach alleruntertänigst, dem Hof- und Domprediger Stöcker im Sinne unseres ehrfurchtsvollen Berichts die Allerhöchste Mißbilligung der in seiner bisherigen Tätigkeit nach Form und Maß vorgekommenen Ausschreitungen und eine ernste Mahnung vor Erregung von Ärgernis und Zwietracht erteilen lassen zu wollen.«
Antisemiten suchen in diesem Dokument vergeblich nach Beweisgründen, die mit der Rassen-Mystagogie und dem vollmundigen Bekennertum eines kämpferischen Germanismus auch nur entfernt in Beziehung zu bringen sind. Der Realpolitiker Bismarck sieht in der antisemitischen Agitation lediglich eine Bewegung, die für die »Ordnung im Staate« bedenklich werden kann, die »von Aufreizung zu Klassenhaß« nicht fern ist, und die geeignet wäre, die »Achtung vor der Ordnung zu untergraben«.
Judenhaß und hohe Politik
Es fällt auf, daß Bismarck in den ersten Jahren der antisemitischen Agitation trotz aller gelegentlichen Schärfen eigentlich niemals besondere Energie an den Tag gelegt hat, wenn es galt, die von ihm eingeleiteten Maßnahmen gegen Stöcker durchzudrücken.
Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich aus Bismarcks ständiger Kampfstellung gegen den politischen Freisinn. Es ist erklärlich, daß sich die jüdischen Staatsbürger vorzugsweise jener Partei anschlossen, die seit Jahrzehnten den Kampf für die Emanzipation des Judentums geführt hatte. So konnte es kommen, daß nicht nur in politisch unreifen Köpfen sich die Begriffe Freisinn und Judentum allmählich miteinander identifizierten. Wenn Bismarck zunächst den Kampf gegen den Antisemitismus nicht so energisch aufnahm, wie man es nach seinen privaten Äußerungen eigentlich hätte erwarten sollen, so lag das daran, daß er glaubte, die antisemitische Bewegung würde die Aggressivität des Freisinns gegen seine Politik auf die Dauer lähmen und die Widerstandskraft des Liberalismus schwächen, dem durch diese Agitation innerhalb des Kleinbürgertums der Rückhalt an den breiteren Massen des Volkes entzogen würde. Das heißt, daß Bismarck sich bemühte, den Antisemitismus für seine politischen Zwecke nutzbar zu machen, um ihn dann nach Erreichung seines Ziels ebenso bedenkenlos wieder fallen zu lassen, wie er ihn als Bundesgenossen für einen engbegrenzten Frontabschnitt seiner Politik akzeptiert hatte. Es hat ja Bismarck auch nicht das geringste bedeutet, im Jahre 1868 und 1869 durch Lothar Bucher mit Karl Marx Verbindungen aufzunehmen, dem er bekanntlich ein sehr vorteilhaftes Angebot – die Stellung eines Finanz- und Handelsredakteurs beim Preußischen Staatsanzeiger – machen ließ.
Der Antisemitismus wird unbequem
Die unerläßliche Voraussetzung für diese Verwendungsmöglichkeit der antisemitischen Bewegung war und blieb jedoch die, daß sich der Antisemitismus auf Gebiete beschränkte, auf denen Bismarck ihm freie Hand lassen durfte. Diese Voraussetzung war aber in demselben Augenblick nicht mehr gegeben, wo die Antisemiten begannen – vielfach ohne sich dessen bewußt zu sein – die Politik des Fürsten Bismarck zu konterkarrieren. Die Störung der öffentlichen Ordnung, die Aufreizung zum Klassenhaß, die Ermutigung der gesetzlosen Begehrlichkeit – das waren Dinge, die Bismarck nicht mehr dulden konnte, und so erreichte er es auch, daß jene Eingabe Bleichröders durch einen kaiserlichen Bescheid an Stöcker liquidiert wurde, in dem diesem die allerhöchste Mißbilligung ausgesprochen wurde.
Rowdys
Inzwischen kommt es in Berlin zu Straßenskandalen. Jüdisch aussehende Bürger werden insultiert, bedroht, mißhandelt. Antisemitische Anpöbeleien sind in Berliner Gaststätten keine Seltenheit mehr, und die Schutzmänner mit ihren silberbeschlagenen Pickelhauben haben es nicht allzu eilig, wenn es gilt, die Ruhestörer und Raufbolde festzustellen. Der Antisemitismus ist eine Macht geworden.
In das kantige, energische Bauernprofil des Hofpredigers kommt in dieser Zeit ein fremder Zug: seine kleinen hellen Augen bekommen einen harten Glanz, und um seinen Mund graben sich tiefe böse Falten, die nicht mehr das Berufsmerkmal eines Kanzelredners sind. Der Hofprediger ist endgültig zum Agitator geworden.
Aber handelt es sich überhaupt noch um Stöcker? Freilich, der reist Tag und Nacht im Lande umher, von der Kanzel, vom Sterbebett eines Gemeindemitgliedes oder von der Abendmahlsfeier auf die Eisenbahn, aus der stillen Dorfkirche, wo er Gastpredigten hält, in den rauchigen Saal einer ländlichen Kneipe. Rastlos, vorwärtsgepeitscht vom rasenden Rausch der Massenwirkung, bellend und betend, geifernd und spottend, in der einen Hand die Bibel, in der anderen eine Statistik über die Zunahme der Zwangsversteigerungsverfahren bei ostelbischen Bauernwirtschaften oder über die Einwanderung polnischer Juden in das Deutsche Reich.
Aber mit ihm zugleich ergießt sich eine wahre Schlammflut antisemitischer Agitatoren auf das flache Land. Verkrachte Existenzen, zwei oder drei Renegaten der sozialdemokratischen Partei, davongejagte Lehrer, sogenannte Journalisten, die den Anschluß an die junge »Weltmacht Presse« versäumt haben, Teutobolde mit viel Haar im Gesicht und einer Hirschhornkette über gewölbten Bäuchen, die Ahlwardts, Henricis, Zimmermanns, Finns ...
Konkurrenzangst schafft Exzesse
Stöckers Freunde werden bedenklich. Sie sehen den Hofprediger in denkbar schlechter Gesellschaft. Sie tadeln ihn, weil er nicht scharf genug die Trennungslinie zieht zwischen seinem »sittlichen Pathos« und der Radaulust jener Catilinarier im Kleinstformat. Sie sehen trübe in die Zukunft der christlich-sozialen Partei, deren antisemitische Argumente von jenen Monomanen aufgegriffen, verzerrt, überschrien werden, die sich nicht mehr begnügen mit politischen und wirtschaftlichen Forderungen, sondern die unmittelbar zur Aktion drängen und hetzen.
Ein- oder zweimal macht Stöcker schwache Versuche, die Exzesse der antisemitischen Bewegung zu verdammen, die künstlich erregten Leidenschaften wieder in Bahnen zu lenken, die er vorgezeichnet zu haben glaubt. Vergebens: der einzig sichtbare Erfolg dieser Bemühungen bleibt der, daß Stöckers Tonart noch gröber, noch persönlicher wird, daß er mit immer billigeren Effekten arbeitet, daß seine Reden untergehen in einem Chaos von Wutschreien und höhnischem, haßvollem Gelächter, das er bei seinen Zuhörern bewußt erregt hat. Noch hält die reaktionäre Hofclique fest zu ihm, noch sieht der alte Kaiser in seinem Auftreten ein zwar nicht unbedenkliches, aber immerhin geeignetes Mittel, »die Juden etwas bescheidener zu machen«. Noch kann Bismarck den Antisemitismus als Stoßtrupp gegen den Freisinn gebrauchen und legt die Hände in den Schoß. Aber die Verhältnisse drängen zur Entscheidung: der Antisemitismus ist lange nicht mehr Sache eines rabiaten Hofpredigers, sondern die einer Bevölkerungsklasse, in der langsam eine gefährlich revoltierende Neigung zu Exzessen aufzukeimen beginnt.
Terror in Ostelbien
Die antisemitischen Agitatoren verlegen ihr Betätigungsfeld in die östlichen Provinzen Preußens, und damit ist dem Antisemitismus auf Jahre hinaus sein kriminelles, rowdyhaftes Gepräge gegeben. Die politische und kulturelle Lage in diesen Provinzen war dieser Prägung hervorragend günstig. Die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für den Deutschen Reichstag hat hier eine Bevölkerung vorgefunden, deren kulturelle Entwicklung dem Maß ihrer politischen Rechte nicht annähernd entsprach. Kein Mensch hatte Interesse daran, den unwissenden, in drückender, fast mittelalterlicher Ausbeutung gehaltenen Taglöhnern und Kleinbauern neue Erkenntnisse, neues Wissen zu vermitteln. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht, von dem der rechte Flügel der deutschen Sozialdemokratie sich damals noch gewaltige Erfolge versprach, wurde von der Reaktion als Mittel des unverfrorensten, offenherzigsten Wahlterrors benutzt. Häufig ließen Rittergutsbesitzer ihre Tagelöhner kolonnenweise zur Stimmabgabe für den konservativen Kandidaten antreten. Eine eigene Meinung gab es nicht. Auf diese Weise wurde gegen das Anwachsen der Sozialdemokratie in den Städten die große Masse der politisch unreifen und ökonomisch vergewaltigten ländlichen Bevölkerung ausgespielt, die dann die Zusammensetzung des Parlaments entscheidend beeinflußte. Irgendwelche Wahlagitation einer anderen als der konservativen Partei wurde nicht geduldet. Die Redner, die in pommerschen Landstädten auftreten durften, hatten von vornherein das Ohr der Masse für sich, die keine anderen Argumente kennenlernen durfte, als die ihr vorgesetzten. Leicht zu erklären, daß die antisemitische Agitation hier furchtbare Verheerungen anrichten mußte.
Orgien des Antisemitismus
Ein anderer Grund, der die Orgien des Antisemitismus im ostelbischen Preußen wesentlich begünstigte, war der Umstand, daß sich hier nach der Emanzipation der Juden in Preußen eine große Zahl polnischer Juden niederließ, deren Lage in Rußland unhaltbar geworden war. So sehr die preußische Regierung durch bewußte, oft ungesetzliche Paßschikanen diese Einwanderung kleinhalten wollte, so ließen sich nach dem Wortlaut der Verfassung plausible Argumente für eine dauernde Unterbindung dieser Invasion nicht finden: die jüdische Bevölkerung nahm in diesen Gegenden rapid zu.
Zu ihrem Unglück waren diese jüdischen Einwanderer aber nicht nur Händler und Spekulanten – allein der Mangel an geeigneten Spekulationsobjekten verhinderte dies – sondern es waren in der Hauptsache Handwerker, Glaser, Schneider und Schuhmacher, die nun auch in ihrer neuen Heimat ihr altes Gewerbe ausübten und dank ihrer Tüchtigkeit, ihrer Genügsamkeit und ihrem Fleiß den nichtjüdischen Handwerkern gefährliche Konkurrenz machten. Diesen beiseitegeschobenen Gewerbetreibenden bot der politische Antisemitismus, der ihnen nun nahegebracht wurde, eine willkommene Gelegenheit, sich ihrer lästigen Konkurrenten zu entledigen. Unterstützt und erleichtert wurde dies Bestreben dadurch, daß die antisemitischen Agitatoren vorzugsweise mit religiösen Momenten arbeiteten, die bei der frommen und rückständigen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fallen mußten.
Die antisemitische Agitation in Pommern und Westpreußen wird immer maßloser. Könitz, Schlochau, Neustettin, Belgard – in allen kleinen pommerschen Nestern entstehen plötzlich Zeitungen niedersten Ranges, die ausschließlich von der Judenhetze leben. Versammlungen werden abgehalten, nach denen die erregte Menge mit wilden »Hepp! Hepp!«-Rufen durch die Straßen stürmt, jüdische Einwohner verprügelt, Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte einwirft, die Läden plündert ...
»Ritualmord«
Von Pommern und Westpreußen aus schlagen Giftspritzer nach Polen hinüber. Und plötzlich züngeln aus allen Ecken, aus längst vergessenem und vergrabenem Instinktschutt wieder die irrsinnigen Ritualmordbeschuldigungen hervor. Man muß dieser Masse, die durch Christentum und idealistische Vernebelung daran gewöhnt ist, egoistische Interessenverfolgung in ethische Taten umzulügen, einen Grund geben, der schwerer wiegt als der Ärger über Profitsucht und die Angst vor der Konkurrenz. »Ritualmord!« »Das Volk, das unseren Heiland ans Kreuz geschlagen hat!!«
In Polen hetzt man Tausende von Juden zu Tode, Kosaken, denen der Geifer tierischer Sexualgier vorm Maul steht, schwingen die Nagaika, schießen, stechen, schlagen. Kalte Gendarmerieoffiziere wärmen sich die Hände an dem Feuer mittelalterlichen Wahnsinns: heimlich auferlegte und schnell gezahlte Kontributionen füllen ihre Geldbeutel. Und was dem Gendarmerieleutnant recht ist, ist dem Gouverneur, dem Kosakenoberst, dem Adelsmarschall billig. Christus und runde Rubel, Christentum und die Schändungen schöner Judenmädchen ...
Zur selben Zeit sitzt in seiner Berliner Villa der Hofprediger Stöcker. Fromme Kernsprüche gehen ihm vom Munde. Und die Augen der Hofdamen und alternden Gräfinnen um ihn hängen wie gebannt an seinen wohlgeformten Lippen. Sie stricken Strümpfe für den Bazar der Berliner Stadtmission. Sie sticken, häkeln oder malen Blumen auf Teller und Tassen. Der Erlös wird den Ärmsten Berlins zugute kommen, für die Stöcker sorgt. »Vater Stöcker« gewöhnt man sich jetzt, den Hofprediger zu nennen. Vater Stöcker, der zweite Luther, den eine salbadernde Hofclique zu ihrem Heros erklärt hat, der einen jungen Hohenzollernprinzen mit Hilfe mißvergnügter Generalstabsoffiziere in seinen Bann zieht: Wilhelm Prinz von Preußen, den späteren Kaiser Wilhelm II. ...
Luther und die Juden
Der zweite Luther. Auch den wirklichen läßt man nicht unbemüht. Im Februar 1881 steht in der »Norddeutschen Presse«, einem antisemitischen Schmutzblättchen, das in der pommerschen Stadt Neustettin erscheint, ein Feuilleton »Martin Luther über die Juden«. Martin Luther! Martin Luther, »der teure selige Mann Gottes«, an dessen Wort nicht zu drehen noch zu deuteln ist. »Was wöllen wir Christen tun mit diesem verdammten Volk der Jüden? Ich will meinen treuen Rat geben: erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und was nicht verbrennen will, mit Erden überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder eine Schlacke davon sehe ewiglich!«
Drei Tage nach Erscheinen dieser Nummer spricht der Antisemit Dr. Henrici in Neustettin. Fünf Tage danach brennt die Synagoge bis auf die Grundmauern nieder.
Synagogenbrand in Neustettin
Die jammernden jüdischen Gemeindemitglieder, die die Brandstelle umstehen, sagen: »Das haben uns Christenhände getan« und geben damit der Ansicht Ausdruck, die in allen unvoreingenommenen Kreisen herrscht, daß nämlich der Brand der Synagoge von Neustettin die notwendige Folge der antisemitischen Hetze sei. Der Vorstand der Gemeinde bittet in einem Telegramm den Polizeipräsidenten von Berlin, Herrn von Madai, einen besonders tüchtigen Berliner Kriminalkommissar zur Untersuchung der offenbaren Brandstiftung nach Neustettin zu entsenden. Gleichzeitig setzt sie eine Belohnung von tausend Mark aus. Herr von Madai lehnt das Verlangen in einem kühlen Schreiben aus dienstlichen Gründen ab. Dagegen entfaltet die Königlich preußische Staatsanwaltschaft eine rege Tätigkeit: sie sucht keineswegs etwa die Täter in antisemitischen Kreisen, sondern verhaftet kurzerhand fünf Juden, darunter einen 71-jährigen Rentier und dessen Sohn, die keineswegs orthodoxe und fanatische Juden sind. Die Anklagebehörde argumentiert zunächst mit einem Versicherungsbetrug, hält aber auch die Wahrscheinlichkeit für gegeben, die Juden hätten selbst ihren Tempel in Brand gesteckt, um die Tat dann den Antisemiten in die Schuhe schieben zu können!
Die verantwortlichen Behörden schweigen ...
Die Affäre Moritz Scharf
Noch ehe der Prozeß wegen des Synagogenbrandes in Fluß kommt, verschwindet in dem ungarischen Dorf Tisza-Eszlár ein vierzehnjähriges christliches Dienstmädchen, Esther Solymosi. Der Gutsbesitzer von Tisza-Eszlár ist ein antisemitischer Reichstagsabgeordneter, der sofort die Behauptung in die Welt setzt, das Mädchen sei von Juden zu rituellen Zwecken geschlachtet worden. Und hier beginnt nun jene schauerliche Tragödie, die die ganze Kulturwelt hätte vor brennender Scham erröten lassen müssen, hätte diese Kulturwelt das Schämen nicht längst schon verlernt: ein junger Hund von einem Referendar – zweiundzwanzig Jahre zählt der angehende Oberstuhlrichter Josef Bary! – wird mit der Untersuchung betraut und verhaftet zunächst einmal den vierjährigen Sohn des jüdischen Tempeldieners Scharf! In der richtigen Erkenntnis, das Gestammel eines vierjährigen Kindes könne vor der Welt kaum als ausreichendes Beweismittel für den Ritualmord der jüdischen Gemeinde von Tisza-Eszlár gelten, verhaftet er dann den vierzehnjährigen Sohn des Tempeldieners, Moritz Scharf, der zu einer europäischen Berühmtheit wird. Der Junge wird in Ketten nach Nyiregyháza abtransportiert, dort im Gefängnis unmenschlich gequält, aus dem Schlaf geprügelt, in einen dunklen Keller gesperrt, tagelang ohne Essen und Trinken gelassen, wieder geschlagen und gefoltert, mit dem Tode bedroht, bis er schließlich sagt, er habe gesehen, daß die jüdische Gemeinde in der Synagoge die Esther Solymosi geschlachtet hat. Grund genug, daß fünfzehn jüdische Einwohner von Tisza-Eszlár anderthalb Jahre in Untersuchungshaft gehalten werden, bis sich dann in einem Lokaltermin herausstellt, man könne durch das Schlüsselloch gar nicht in die Synagoge hineinsehen, wie es Moritz Scharf getan haben wollte.
Die Leiche des schwangeren Dienstmädchens zieht man später aus dem Wasser.
Ritualmorde ausgangs des neunzehnten Jahrhunderts. Elektrizität, Gas, die ersten Automobile, der Mensch erobert die Luft, Zellforschung, Bakteriologie, das Atom besteht aus einem Atomkern, um den Elektronen kreisen – aber Juden schlachten in jedem Jahr zu Ostern ein Christenkind, dessen Blut sie für das Backen der Mazzes benötigen ...
Psychologische Deutungsmöglichkeiten
Es sind nicht nur halbbetrunkene Tagelöhner, geistig zurückgebliebene Hütejungen und hysterische Kleinstädterinnen, wie sie in den deutschen Judenprozessen in hellen Haufen als Zeugen auftreten, – auch der Handwerksmeister, der höchst sachverständig die Möglichkeiten einer komplizierten Dieselmotoranlage auseinandersetzen kann, stimmt in das Geschrei mit ein, der Student, der Gymnasiast, der Volksschullehrer, die niedere Beamtenschaft, alle, alle.
Hat nicht die menschliche Vernunft endlich über die finsteren Mächte des mittelalterlichen Aberglaubens gesiegt? Hat die Aufwärtsentwicklung der Menschheit, an die uns zu glauben befohlen wird, nicht längst schon jenen selbstverständlichen Zustand erreicht, auf dem sie den Juden als gleichberechtigtes Mitglied der großen Menschheitsgemeinde gelten läßt?
Wo bleiben hier psychologische Deutungsmöglichkeiten? Wo die angeblich unwiderlegbaren Gesetze einer angeblichen Rassenbiologie? Eine leichte Verschiebung in den Entwicklungslinien der ökonomischen Geschichte, – und ein Aberglaube feiert seine blutigen Triumphe. Gelächter und schmerzliche Scham dem einen, willkommenes politisches Mittel dem anderen.
Jener Prozeß um den Neustettiner Synagogenbrand endet nach einer Verhandlung, in der unzählige Verstöße gegen die Strafprozeßordnung geschehen, mit einer Verurteilung der angeklagten Juden zu hohen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Die eingelegte Revision hat Erfolg, und in einer neuen Verhandlung werden die Angeklagten freigesprochen. Aber die Kette der Judenprozesse ist damit nicht abgerissen, der mittelalterlichen Judenhetze ihre Grundlage nicht entzogen. Immer noch schwärmen die antisemitischen Hetzapostel über das flache Land, immer noch peitschen sie ihren kleinbürgerlichen Zuhörern in turbulenten Versammlungen den Glauben an die Gottgewolltheit der Judenverfolgung ein, immer noch durchrast der Hofprediger Stöcker die preußischen Provinzen, in der einen Hand die Bibel, in der anderen die antisemitischen Hetzschriften und das Programm einer königstreuen, nationalen Mittelstandspolitik. Gott und das jüdische Warenhaus, der Kaiser und die Ermäßigung der Gewerbesteuer, Freisinn, Kapitalismus, Industrialismus, Sozialismus, Anarchismus, Geldgier und Literatur, Kunst und Gemeinheit – der Jude! Der Jude!!
Bismarck bleibt passiv
Unterdessen werden in pommerschen Landstädten weiter Juden verprügelt, ihre Geschäfte demoliert, werden jüdische Vieh- und Fellhändler mit Hunden von Bauernhöfen gehetzt, verbluten in Polen Tausende von Juden, schäumt in Berlin die Gosse über von antisemitischen Brandreden ...
Und Bismarck? Der Reichskanzler verhält sich passiv. Er begnügt sich damit, in gelegentlichen Gesprächen die Krawalle in Pommern scharf zu verurteilen, Anweisungen zu geben, daß die Staatsautorität unter allen Umständen gewahrt bleiben müsse. Gegen Stöcker unternimmt er nichts, nachdem er erfahren hat, der Prinz von Preußen habe sich bei seinem kaiserlichen Großvater außerordentlich warm für Stöcker eingesetzt. Im Kaiserlichen Zivilkabinett liegt schon eine Order, durch die Stöcker angewiesen wird, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Sie wird nicht abgesendet. Eine lakonische Fußnote gibt den Grund dafür an: »Seine Majestät sind zweifelhaft geworden, ob die Entlassung Stöckers mit Rücksicht auf die obwaltenden kirchlich-politischen Verhältnisse angemessen sein wird, und haben befohlen, die Verhandlungen dem Oberhofprediger Dr. Kögel zuzustellen und mit demselben weitere Rücksprache zu nehmen.« Es bleibt dabei, daß der Evangelische Oberkirchenrat in einem brüderlichen Schreiben Herrn Stöcker davor warnt, sich in seinen »Versammlungen mit Rücksicht auf Ihre politischen Gegner heftiger, ehrverletzender Ausdrücke zu bedienen«.
Gefahren für Stöcker
Der Kronprinz des Deutschen Reichs hingegen, der nachmalige Kaiser Friedrich III., äußert zur gleichen Zeit gegenüber dem Berliner Stadtrat Dr. Magnus, daß er die antisemitischen Bestrebungen auf das entschiedenste mißbillige und verwerfe. »Ich vermag es nicht zu fassen, wie Männer, die auf geistiger Höhe stehen sollten, sich zum Träger und Hilfsmittel einer in ihren Voraussetzungen und Zielen gleichmäßig verwerflichen Agitation hergeben können.« Während der hundert Tage hat der todkranke Kaiser Friedrich dann noch Kraft gehabt, auf einem Notizblockzettel den kategorischen Wunsch auszusprechen, Stöcker möge sofort zwischen seinem geistlichen Amt und seiner politischen Tätigkeit wählen. Sein Wunsch blieb unberücksichtigt. Die Minister wußten, daß der Kaiser bald sterben würde, und daß sein Sohn anderer Ansicht sei als er ...
1883 findet in Dresden der »Internationale Antisemitenkongreß« statt: deutsche, ungarische und polnische Agitatoren geben sich hier ein Stelldichein. Die ungarischen Gesinnungsfreunde haben ein Bild der ermordeten Esther Solymosi mitgebracht und stellen es gegen ein Eintrittsgeld von fünfzig Pfennigen zur Schau. Man pflegt in den Feudaldörfern der ungarischen Pußta vierzehnjährige Mädchen nicht zu photographieren, sofern es sich um Dienstmädchen handelt. Aber die Entdeckung, daß das Modell des Bildes eine Prostituierte aus Budapest ist, kann den finanziellen Erfolg dieser Schaustellung nicht gefährden. Man glaubt ja so gerne ...
»Priester können viel verderben ...«
Der Regierungsantritt Wilhelms II. erweckt in Stöcker stürmische Hoffnungen. Der junge Kaiser hat zusammen mit seiner pietistisch-frommen Gattin jahrelang so völlig unter Stöckers Einfluß gestanden, daß er die verantwortlichen Minister häufig durch die törichtesten antisemitischen Bemerkungen erschreckt hat. Im Jahre 1888 nimmt Bismarck Veranlassung, dem Prinzen die Augen über Stöcker und seinen feudalistischen Anhang zu öffnen. Er tut das in einem ungewöhnlich langen Handschreiben, in dem er unter anderem sagt: »Ich habe nichts gegen Stöcker; er hat für mich nur den einen Fehler, als Politiker, daß er Priester ist, und als Priester, daß er Politik treibt ... Priester können viel verderben, aber wenig helfen.«
Ganz offensichtlich unter Bismarcks Einfluß, teilweise sogar mit typisch bismarckschen Wendungen, fordert der Kaiser schon im Jahre 1889 von Stöcker, zwischen dem geistlichen Amt und der politischen Agitation zu wählen. Stöcker unterwirft sich und erklärt in einem peinlich devoten Schreiben seine Bereitwilligkeit, auf die Politik zu verzichten.
Für diese verspätete Loyalität hat man in Berlin kein Verständnis: Stöcker ist ein toter Mann. Und als wenige Monate darauf die Besetzung der Oberhofpredigerstelle notwendig wird, beruft Wilhelm II. nicht den rangältesten Stöcker, sondern Dryander in diese Stelle. Stöcker erbittet seinen Abschied und erhält ihn so prompt, daß nicht einmal die Verleihung eines bescheidenen Ordens für langjährige treue Dienste in Erwägung gezogen wird.
Man hat Wilhelm II. dieses Verhalten als Treulosigkeit gegen seinen alten Freund ausgelegt. Man hat auch davon gesprochen, der Kaiser habe erkannt, was für Kreaturen sich während seiner Prinzenzeit an ihn gehängt hätten, und hat deshalb diesen Entschluß als Tat staatsmännischer Klugheit gerühmt, bis sein großsprecherisches, blamabel törichtes Telegramm an seinen alten Erzieher Hinzpeter bewies, daß der Kaiser nicht begriffen hatte, worauf es Bismarck ankam, als er seinen ganzen Einfluß gegen die Stöckerclique aufbot. Dieses Telegramm lautet: »Stöcker hat geendigt, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe(!). Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial. Christlich-sozial ist ein Unding und führt zur Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.«
Bedürfnisse des kapitalistischen Staates
Christlich, christlich-sozial, Unduldsamkeit, Überhebung – romantische Requisiten einer höchst unromantischen Maßnahme. Was ist geschehen? Bismarck hat einen Sieg, seinen ersten Sieg über seinen »jungen Herrn« errungen: er hat ihn langsam, mit unendlicher Vorsicht aus den feudalistischen Leutnantsbegriffen gelöst, in denen dieses Leben eines Hohenzollernkaisers bisher verlaufen war. Stöcker – das ist mehr als ein eifernder Priester, mehr als ein antisemitischer Agitator, der vielleicht einmal unbequem werden kann, aber immerhin ihm zugedachte Aufgaben zu lösen imstande ist. Der Feudalismus, die vermottete Ideologie einer reaktionären Gesellschaftsschicht, die sich jeder durch die ökonomische Entwicklung bedingten Veränderung mit Leidenschaft widersetzt, der unkontrollierbare Einfluß der Standesgenossen auf die gouvernementalen Kreise, das ist es, was Bismarck bekämpft. Man kann nicht auf der einen Seite die Entstehung jüdischer Industriefirmen mit Freude begrüßen, um auf der anderen Seite im Juden einen Schädling Deutschlands zu sehen. Man kann nicht kapitalistische Tendenzen begünstigen und gleichzeitig den Kapitalismus der Juden bekämpfen. Wilhelm II. ist als Kaiser sehr bald gezwungen, mit vielen jüdischen Diplomaten und Industriellen zu verkehren, und man hat in England und in Amerika kein Verständnis für antisemitische Liebhabereien.
Gott und die agrarische Reaktion
Bismarck hat gesiegt. Stöckers Versuch, alle Übel der Zeit durch die Schaffung eines christlichen Kapitalismus niederzuringen, ist gescheitert. Die mit so ungeheurer Energie ins Leben gerufene christlich-soziale Bewegung entartet immer mehr. Sie wird zu einem parlamentarischen Grüppchen, das in allen entscheidenden Fragen mit stärkeren Fraktionen zusammengehen muß, das aus sich selbst keinerlei politische Bedeutung mehr besitzt. Stöcker versucht immer wieder, den Anschluß an die Reaktion aufzunehmen. Aber er ist nicht mehr Herr seiner Entschlüsse. Das Jahr 1896 besiegelt das endgültige Ende seiner Bewegung: in diesem Jahr muß sich Stöcker von den Konservativen trennen, um zu verhindern, daß der radikalere Flügel seiner Partei, der mehr die sozialpolitischen Forderungen der ersten Anfänge in den Vordergrund rückt, ihm Konkurrenz macht. Aber er kann das Unheil nicht mehr aufhalten: unter der Führung Naumanns sagen sich die sozial gerichteten Mitglieder der christlich-sozialen Partei auf einem Parteitag zu Eisenach formell von Stöcker los und gründen den »Nationalsozialen Verein«.
Aber auch diese Splittergruppe fällt der ökonomischen Entwicklung, die klare Entscheidungen verlangt, zum Opfer: im Jahre 1909 geht der Nationalsoziale Verein in der Freisinnigen Vereinigung auf. Von Naumanns Kampfgenossen – unter anderen Göhre, Max Weber, von Gerlach und Traub – finden die einen den Weg zur Sozialdemokratie, die anderen zur Reaktion, die dritten zu einem unabhängigen Liberalismus, den von der Sozialdemokratie letzten Endes nichts trennt als die peinlich und sorgsam gehätschelte andersgeartete Ideologie.
Das Ende der Christlich-sozialen Partei
Bei Stöckers Tode 1909 hat die christlich-soziale Partei längst jede Bedeutung verloren. Stöckers letzte Schüler, der christliche Gewerkschafter Behrens, die Leiterin der Heimarbeiterinnenbewegung, Margarete Behm, und der Pfarrer Mumm landen schließlich nach der Revolution folgerichtig da, von wo Stöcker vor dreißig Jahren ausgegangen war: bei der agrarischen Reaktion, bei der Deutschnationalen Volkspartei.
Ein kleiner Umweg, den heute die NSDAP bereits angetreten hat ... Dieser letalen Entwicklung der christlich-sozialen Partei läuft die Entwicklung des politischen Antisemitismus parallel, der sich um 1890 selbständig zu organisieren beginnt.
Neuer ideologischer Überbau
Im Jahre 1889 steht die antisemitische Agitation auf ihrem Höhepunkt. Die große Mehrheit des Kleinbürgertums folgt der antisemitischen Parole. Neue Agitationsmöglichkeiten fehlen. Die Arbeiter stehen der Bewegung verständnislos oder feindlich gegenüber. Bald machen sich auch im Kleinbürgertum selbst rückläufige Bewegungen bemerkbar. Die Skandale und Erschütterungen der Gründerperiode liegen lange zurück. Man hat sich beruhigt. Die ökonomisch Verärgerten beginnen, sich langsam mit ihrem Schicksal abzufinden und sich in den Produktionsprozeß einzugliedern. Stöckers bedingungsloses Zusammengehen mit der Reaktion verstimmt, stößt jedenfalls nicht mehr auf jene Begeisterung, die er am Anfang seiner Agitation auslösen konnte. Es wird notwendig, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen.
Und hier setzt plötzlich jene Strömung ein, die dem Antisemitismus einen neuen ideologischen Überbau zu geben sich bemüht. Am Anfang stand die ökonomische Verärgerung, dann folgte die ethische und religiöse Fundierung des Antisemitismus durch Stöcker, jetzt ist die Zeit reif für die Rassenmystik.
Der Jude ist nicht mehr ein antichristliches Ungeheuer, nicht mehr ein Atheist, nicht mehr ein mittelstandsfeindlicher Profitmacher, nicht mehr der Umstürzler, nicht mehr der Amoralist – er ist alles zusammen, eins im anderen, eins durch das andere: der Jude als Rassemensch wird entdeckt. Hielten sich bisher die antisemitischen Schriften an gegenständliche Themen, wie ihre Titel beweisen: »Corruption und Gründerschwindel«, »Das jüdische Warenhaus«, usw., so bezeichnet die Schrift Dührings einen neuen Weg, die den Titel trägt: »Die Judenfrage als Frage des Rassencharakters.«
Rassenmythos und Politik
Merkwürdig, typisch deutsch, daß diese neueste Sinngebung des Antisemitismus, die sich völlig von jeder realen Basis löst, die Welt verläßt, um die Hinterwelt in den Kreis ihrer Theoreme einzubeziehen, die irrationale Welt des Mythos realpolitischen Forderungen entgegenstellt, daß der »Rasse-Antisemitismus« sich zunächst in Organisationsformen äußert, die politisch sind. Die Antisemiten gründen Parteien! Parteien, die keinen anderen Sinn haben, als eben den, antisemitisch zu sein! Die Absonderlichkeit dieser Tatsache wird noch skurriler: es entsteht nicht eine, sondern es entstehen zwei Antisemitenparteien. Die eine – konservativ, aristokratisch, reaktionär, wird im Jahre 1889 durch Liebermann von Sonnenberg gegründet und nennt sich »Deutschsoziale Partei«. Warum sozial? Weil schon im Jahre 1889 eine deutsche politische Partei, die reaktionäre Ziele verfolgt, nicht auf die soziale Fiktion verzichten kann.
Die demokratischen Antisemiten konstituieren sich unter Boeckel und Zimmermann als »Antisemitische Volkspartei«, die später in »Deutsche Reformpartei« umgetauft wird. Und nun beginnt ein herzerfrischendes Prinzipienreiten, das um so erbitterter ist, als sich beide Antisemitengruppen in der ethischen, rassischen und »volklichen« Notwendigkeit der Judenverfolgung durchaus einig sind. Trotz diesen Spaltungen gelingt es, 1893 nicht weniger als achtzehn Antisemiten in den deutschen Reichstag zu entsenden, die durch ihre hemmungslose Witzelsucht und durch ihre sterile Aufgeregtheit erheblich zur Erheiterung der ernsten parlamentarischen Arbeit beitragen. Die politischen Antisemiten sind bedingungslos negativ. Sie haben nicht den Ehrgeiz, irgendein noch so bescheidenes politisches Programm aufzustellen, sondern finden vollauf ihr Genüge in der immer wieder erhobenen Forderung nach der Einführung eines Ausnahmerechts für jüdische Reichsangehörige. Unter dem Zwang der ökonomischen Verhältnisse schließen sich beide Gruppen endlich zusammen, und nun ist die Bahn frei für eine politische Arbeit, von der freilich weder in der Edda noch bei dem vielgepriesenen Tacitus etwas zu lesen ist: 1903 schließen sie sich dem Fraktionsverband der wirtschaftlichen Vereinigung an und treiben nun – »Mittelstandspolitik«, die auch ohne den zeitraubenden Umweg über rassemystische Spekulationen hätte getrieben werden können.
Von Tacitus zum Mittelstand
Einzelne Daten mögen den rasenden Absturz dieser Partei beleuchten, die angeblich von den höchsten weltanschaulichen Zielen ausging, um schließlich – wie Stöcker – in der Banalität des modernen Parlamentarismus zu ertrinken: 1916 treten die politischen Antisemiten, die auf acht Abgeordnete zusammengeschmolzen sind, zur »Deutschen Fraktion« über. 1918 verzichten sie auf jede eigene parlamentarische Vertretung, gründen aber dafür den geheimbündlerischen »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund«, der nach der Ermordung des Ministers Rathenau verboten und aufgelöst wird. Politisch ist schon zu dieser Zeit der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund auf Gedeih und Verderb an die Deutschnationale Volkspartei gebunden. Einen letzten Versuch, den politischen Antisemitismus wieder selbständig zu organisieren, unternehmen im Jahre 1922 die deutschnationalen Abgeordneten von Graefe, Wulle und Henning, die sich als »Deutschvölkische Freiheitspartei« konstituieren. Die parlamentarische Tätigkeit dieser Partei unterscheidet sich in nichts von den Clownerien der alten ehrlichen Antisemiten von dazumal. Aber das Schwergewicht der antisemitischen Bewegung liegt jetzt nicht mehr im Parlament: aus der völligen Negation und der Plattheit einer mittelstandsfreundlichen Politik hat sich eine neue Ideologie herausgebildet, die sich jetzt als »völkische Bewegung« plakatiert. Die diffizilen Unterschiede, die zwischen dieser Bewegung und der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei noch bestehen, mögen völkische Philologen interessieren: praktisch ist die völkische Bewegung längst aufgesogen von der NSDAP. Und wenn Hitler im Jahre 1920 den »Völkischen Beobachter« kauft, ein Antisemitenblättchen, das bis dahin unter Ausschluß der Öffentlichkeit in München erschienen ist, und es zum Parteiorgan der NSDAP ausgestaltet, dann ist das mehr als eine Zufälligkeit: das Erbe des neudeutschen Antisemitismus wird von der NSDAP übernommen, verwaltet und zur höchsten Vollendung ausgebildet. Vestigia terrent: man wird sehen, wie weit sich die verschwommene Ideologie der Rassemystiker auf die Dauer durchsetzen kann gegenüber der Notwendigkeit, sich in wirtschaftlichen Dingen für schwarz oder weiß zu entscheiden.
Der völkische Gedanke
Vom völkischen Gedanken, der in der NSDAP fröhliche Urständ feiert, wird noch zu sprechen sein. An dieser Stelle genügt der Hinweis, daß alle die fabelhaften neuen Entdeckungen und Offenbarungen der nationalsozialistischen Rasseforscher bereits Allgemeingut der Antisemiten des Kaiserreichs gewesen sind. Die Voraussetzungen der Rassefanatiker sind die denkbar einfachsten, sind von jedermann zu verstehen und bedürfen eigentlich keiner logischen Fundierung. Aber wir sehen bereits in den Schriften der Rasseantisemiten das peinliche Bemühen, die Resultate ihrer »geistigen« Bemühungen, die a priori feststanden, nicht als religiöse Offenbarungen gelten zu lassen, sondern als wissenschaftliche Denkergebnisse. Man fordert nicht die bedingungslose Hingabe an ein völkisches Ideal, den blinden Glauben an die Gottähnlichkeit der arischen Rasse, sondern man verschmiert die Glaubenssätze in typisch kleinbürgerlicher Weise mit pseudowissenschaftlichen Phrasen, läßt Hypothesen als Erfahrungstatsachen durchgehen und konstruiert ein rührend haltloses Gebäude von Erkenntnissen, die doch nirgendwo einen Halt haben können als eben in der glaubensdurstigen Seele des völkischen Jüngers.
Seele? Niemals hat die »Seele« des Kleinbürgers in der geschichtlichen Entwicklung eine Rolle gespielt. Niemals ist das Kleinbürgertum von sich aus in der Lage gewesen, eigene Ideologien durchzubilden: es übernahm stets diejenige der herrschenden Klasse, übersteigerte und überspitzte sie, um sie in ihrer sturen Ausschließlichkeit überhaupt erst der Masse vorsetzen zu können. Der Antisemitismus oder, wie wir heute sagen und glauben sollen: der völkische Gedanke, ist ein nebuloses Phantasieprodukt, das nicht die geringste Analyse lohnen würde, wäre nicht eben das ökonomische Schicksal des Kleinbürgertums unlösbar als Ursache und Wirkung mit dieser Bewegung verknüpft.
Antisemitismus in der deutschen Republik
Der Antisemitismus der deutschen Republik läßt sich von der Geschichte der NSDAP kaum mehr trennen. Es bestand zwar schon unmittelbar nach der Revolution noch eine Unzahl von völkischen Vereinigungen, die jedoch alle streng esoterischen Charakter trugen. Geheimbünde, Orden, die sich scharf gegen die böse Welt abschlossen und in starrer Exklusivität ihr höheres Lebensideal kultivierten. Der Deutschlandbund, der Wälsungenorden, der Deutsche Orden, Germanenorden, Bund für deutsche Erneuerung, Deutscher Volksbund, das sind einige dieser antisemitischen Geheimbünde, die politisch ohne jede Bedeutung waren. Neben diesen Femespielereien tauchten jedoch schon bald gefährlichere Organisationen auf, die augenscheinlich mit großen Geldmitteln arbeiten konnten, wie zum Beispiel der »Verband gegen Überhebung des Judentums« oder der »Ausschuß für Volksaufklärung«, die unter der Maske wissenschaftlicher und sozialer Arbeit Zwecke verfolgten, die schon nicht mehr »mittelstandsfreundlich«, sondern ausgesprochen reaktionär waren.
Aber auch diese Arbeit blieb so lange zu Erfolglosigkeit verurteilt, als nicht ein besonderer ökonomischer Zwang innerhalb des Kleinbürgertums die Propagierung des Antisemitismus begünstigte. Die Zeit nach der Revolution bot genug solcher Anlässe.
Psychologische Fehler
Daß die »Revolution von Juden gemacht« worden sei, ist ein treuer deutscher Glaube, der sich schon im Jahre 1919 in zahlreichen Köpfen festsetzte. Die sozialistischen Parteien vergaßen, welche schauerliche Abgründe mittelalterlichen Irrwahns zum Beispiel noch im Jahre 1900 der Prozeß um die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz aufgedeckt hatte. Sie glaubten den Antisemitismus längst überwunden und rechneten in ihrer Agitation nicht mit der geistigen Verfassung des Kleinbürgertums, in der der Antisemitismus bereits tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Es sind psychologische Fehler gemacht worden: man glaubte mit feiner Ironie den Dingen zu Leibe gehen zu können, wo sachliche Aufklärungsarbeit, die sehr taktvoll und vorsichtig hätte geführt werden müssen, am Platze gewesen wäre. Man stellte jüdische Politiker in einer Weise an die Öffentlichkeit, die der antisemitischen Agitation nur allzu willkommene Anlässe bot. Man übersah die ökonomischen Gebundenheiten des Antisemitismus und wurde in dieser Leichtfertigkeit oder Ahnungslosigkeit bestärkt von der demokratischen Presse, deren Bindung an das Ideal eines humanitären, gewissermaßen frei im Raume schwebenden Liberalismus den Blick für ökonomische Grundtatsachen überhaupt unmöglich macht. Man hatte in der ersten Begeisterung über eine demokratische Republik Deutschland gern und leicht übersehen, die Massen auf mögliche Rückschläge vorzubereiten. Das Gespenst eines Paradieses auf Erden ging in allen Hymnen auf den jungen Staat um und forderte seine Opfer, als dieses Paradies sich immer und immer noch nicht verwirklichen lassen wollte.
Inflation und Antisemitismus
Die ständig wachsende Verelendung des Kleinbürgertums, der unerbittliche Prozeß seiner Proletarisierung förderte und verlangte nach Argumentierungen, die sich an Gegenständliches, Faßliches hielten. Und der Glaube an die Verworfenheit des Juden, die irrsinnig hochgezüchtete Selbstüberwertung der sogenannten arischen Rasse mit all ihren mystischen Verbrämungen schien dem deutschen Kleinbürger immer noch glaubhafter und faßlicher als die Einsicht in ökonomische Zusammenhänge, die hinter dem dicken Nebel idealistischer Wertmessungen und Zielsetzungen restlos verschwanden.
Die Inflation ist in Deutschland von bürgerlichen und teilweise auch sozialdemokratischen Kreisen niemals begriffen worden. Es ist nur durch die anklagenswerte Unterschätzung der antisemitischen Tendenzen im Kleinbürgertum zu erklären, daß die Sozialdemokratische Partei Ende 1923 den Minister Hilferding mit der Aufgabe betraute, die Inflation abzustoppen. Eine Aufgabe, von der man hätte wissen können, daß sie mit Hilfe der Hilferdingschen Zauberrezepte nicht zu lösen war. Das Kleinbürgertum wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, daß »der Jude Hilferding« die Mark in den Abgrund stieß ... und so darf es im Jahre 1931 der größte Inflationsgewinnler, der Geheimrat Hugenberg, wagen, in einer Massenversammlung die Inflation als das Ergebnis »marxistischer Wahnsinnspolitik« zu bezeichnen, wobei auf die stillschweigende Gleichsetzung Marxist – Jude nicht erst hingewiesen zu werden braucht.
Positive Ziele?
Die Gefährlichkeit der antisemitischen Agitation ist in demselben Maße gewachsen, wie die »Anti«-Bewegung sich scheinbar positiver Ziele bemächtigte. Sie äußert sich darin, daß heute die Blickmöglichkeiten für die ökonomischen Grundlagen des Antisemitismus restlos verlorengegangen sind und damit auch die Mittel zu seiner erfolgreichen Abwehr. Man bekämpft Instinkte und unterläßt es, zu prüfen, wie weit diese Instinkte ökonomisch bedingt sind. Man zerpflückt und analysiert die Antipathie gegen den Juden und beruhigt sich lächelnd bei einem psychoanalytisch gewonnenen Ergebnis. Man geht bei alledem von der Formel aus »Jude gleich Jude« und differenziert doch außerordentlich scharf zwischen dem Kurfürstendamm und der Grenadierstraße ...
Resultat? Ein wahres Gewirr von völkischen Organisationen, deren Kenntnis eine eigene Spezialwissenschaft erfordert; die sich alle untereinander heftig bekämpfen, sich als Judenknechte oder Judenstämmlinge beschimpfen, und die doch einig sind in der skrupellosen Bekämpfung des »Judentums«. Es bestehen neben der NSDAP Orden für Lebenserneuerung, völkische Glaubensgemeinschaften und eine große Zahl völkisch orientierter genealogischer Vereinigungen. Sämtliche Wehrverbände, die vaterländischen Verbände Deutschlands, agrarische Organisationen, Jugendbünde, die Vereine für das Deutschtum im Ausland, die Kriegervereine des Kyffhäuserbundes, Kleinkaliberschützenvereine, der Hochschulring Deutscher Art, der ausnahmslos sämtliche studentischen Korporationen an deutschen und österreichischen Hochschulen umfaßt – sie alle »stehen auf völkischem Boden«, verlangen von ihren Anhängern und Mitgliedern die ehrenwörtliche Versicherung, nicht von Juden abzustammen und übersteigern den völkischen Gedanken aus Gründen der Konkurrenzangst bis ins schlechthin Pathologische.
Organisationsformen des Antisemitismus
Ein deutscher Hochschullehrer hat sich der Mühe unterzogen, eine Statistik dieser völkischen Organisationen aufzustellen: sie ist erschreckend und deprimierend zugleich. Nicht weniger als zweiundsechzig derartige Vereinigungen gibt es in Deutschland, die mit zahlreichen Ortsgruppen in allen Gegenden der Republik vertreten sind. Der Reigen geht von der NSDAP bis zum »Bund Kinderland«, der die »Fürsorge im Sinne einer hochwertigen Erbauslese im deutschen Volk ergänzen will«, und an dessen Spitze vier namhafte Universitätsprofessoren der Medizin stehen.
Man täusche sich darüber nicht: so lächerlich jeder einzelne dieser Verbände ist, so gefährlich sind sie in ihrer Gesamtheit. Der politische Willensausdruck aller dieser Organisationen ist die NSDAP. Aber was diese an antisemitischer Verhetzung vielleicht nicht leisten kann, das leisten diese kleinen Vereine, die ihre Mitglieder in der Hand haben und unaufhörlich in antisemitischem Sinne beeinflussen. Es fügt sich zwanglos in das hier entworfene Bild ein, wenn in diesem völkischen Hexentanz reaktionäre Cliquen wie die Deutsche Adelsgenossenschaft und die deutschen Offiziersverbände neben wirtschaftsfriedlichen Angestellten- und Arbeitsverbänden stehen, die »Deutsche Industriellenvereinigung« neben »Werksgemeinschaften«, die die Lohnpolitik der Gewerkschaften bekämpfen. Kleinbürgertum und Kapitalismus Hand in Hand, geeint unter dem völkischen Gedanken – das ist das Endergebnis der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland.
Pogrom in Berlin
Die praktischen Auswirkungen des Antisemitismus – soweit sie sich in Pogromen äußern – sind einstweilen noch sehr gering. Die deutsche Republik hat erst eine einzige Judenverfolgung erlebt, deren Begleitumstände wichtiger sind als die Tatsache, daß man im November 1923 in Berlin Judenpogrome organisieren konnte. Damals entwickelten sich, in unmittelbarem Anschluß an den Hitlerputsch in München, in Berlin Straßenkrawalle, bei denen sich die Blüte der Nation, rechtsradikale Studenten, mit den Ganoven des Berliner Scheunenviertels zu einer frischfröhlichen Judenhatz verbündete.
Aber diese Pogrome ereigneten sich nicht im Bayerischen Viertel oder am Kurfürstendamm, sondern in der Grenadierstraße, dem Ghetto Berlins. Man verprügelte keine jüdischen Großbankiers, sondern armselige kleine Händler, deren Jahresumsatz nur den Bruchteil dessen ausmachte, was die anderen in einer Stunde an der Börse verdienten. Auch hier wurden die antikapitalistischen Tendenzen des Kleinbürgertums sehr geschickt auf unverfängliche Ziele gelenkt. Denn der Staatsautorität war es unverhältnismäßig gleichgültig, ob überhaupt und wie viele Bewohner der Grenadierstraße Prügel bekamen. Daß die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, dafür war gesorgt.
Die vollziehende Gewalt lag damals in den Händen des Oberbefehlshabers der Reichswehr, des Generalobersten von Seeckt. Als die »Deutsche Liga für Menschenrechte« durch Flugblätter zu einer Protestkundgebung gegen die Pogrome im Berliner Scheunenviertel aufrief, wurden diese Flugblätter kurzerhand verboten. Herr von Seeckt ließ sich erst nach vielmaligem schriftlichem Drängen zu einer Begründung herbei, die ebenso fadenscheinig wie unangreifbar war. Derselbe Herr von Seeckt, dessen Gewissen und dessen Besorgtheit um die Staatsautorität und für Ruhe und Ordnung dadurch keineswegs bedrückt wurde, daß rings um Berlin die Heerhaufen der Schwarzen Reichswehr bedrohlich aufmarschiert waren. Derselbe Herr von Seeckt, dessen geistige Interessen und dessen militärisches Genie von einer Reihe recht bekannter jüdischer Schriftsteller gerade in jenen Tagen gepriesen wurden ...
Stillschweigende Duldung
Aber am Kurfürstendamm blieb alles ruhig. Diese zeitgemäße Erinnerung soll zeigen, daß auch in der deutschen Republik sich die Stellung der gouvernementalen Kreise zum Antisemitismus nicht wesentlich geändert hat: trotz der entschiedenen Betonung eines Kulturwillens, der die Barbarei des Antisemitismus nicht dulden kann, wird der Antisemitismus durch stillschweigende Duldung gefördert, soweit er als Ventil für antikapitalistische Neigungen des Kleinbürgertums dienen kann. Fraglich ist freilich, ob die Bewegung ihren Führern nicht aus der Hand gleiten wird, ob die von der NSDAP irregeleiteten Massen nicht eines Tages ihre antisemitischen und ihre antikapitalistischen Neigungen miteinander verwechseln werden.
Die Christlich-Sozialen in Österreich
Als Illustration zu der von uns gegebenen Entwicklungslinie des deutschen Antisemitismus möge die christlichsoziale Bewegung in Österreich dienen. Schon aus dem Grunde, weil Adolf Hitler in seiner Autobiographie den Namen Karl Lueger als Vorbild eines modernen Politikers mehrfach erwähnt.
Die vollendete Sinnlosigkeit des Antisemitismus, der im Judentum eine soziologisch und ideologisch scharf abgegrenzte Gesellschaftsschicht zu bekämpfen glaubt, zeigt sich in Österreich vielleicht noch krasser als in der Entartung der deutschen Antisemitenparteien zur Mittelstandspolitik. Die christlichsoziale Bewegung begann in Österreich mit dem Kampf einer demokratischen – von Lueger vertretenen – und einer nationalistischen Richtung unter Schönerer als ausgesprochene Partei des Kleinbürgertums. Mit den demokratischen Forderungen dieser Klasse parallel liefen starke antisemitische Tendenzen, die gerade in Wien auf sehr günstigen Boden fielen.
Die österreichische christlichsoziale Bewegung vollendete sich jedoch bedeutend schneller als die deutsche: bereits im Jahre 1895 hatte die Christlichsoziale Partei im Wiener Gemeinderat die absolute Mehrheit, und hatte damit ihren kleinbürgerlich-revoltierenden Charakter völlig verloren. Sie wurde mehr und mehr zu einem Sammelbecken für das Bürgertum und verzichtete auf jede eigene politische Zielsetzung. Die Unterstützung der föderalistischen Politik der Reichsregierung öffnete Lueger den Weg zum Frieden mit dem Feudalismus und dem Klerus. 1897 wurde er Bürgermeister von Wien, und die lebhafte Unterstützung der Klerikalen ließ die christlichsoziale Partei schon im Jahre 1907 mit 98 Abgeordneten als stärkste Partei in das Abgeordnetenhaus einziehen.
Nachtwächter des Kapitals
Die Partei, die mit einem demokratisch-antisemitischen Programm aufgetreten war, konnte ihrem Schicksal nicht entgehen: die Bindung an den Antisemitismus ist politisch unfruchtbar und muß über kurz oder lang zu einer Verschmelzung mit den kapitalistischen Interessen des Bürgertums führen. Seit 1918 ist die christlichsoziale Partei in Österreich ununterbrochen Regierungspartei. Und wie die Antisemiten in der NSDAP zu glauben vorgeben, den Kampf gegen den Marxismus nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus rassischen Gründen zu führen, so sind die österreichischen Christlichsozialen diejenigen, die aus klerikalen, das heißt kapitalistischen Interessen sich zum Nachtwächter gegen den »Austromarxismus« machen lassen und die reaktionäre Heimwehrbewegung offen und versteckt in jeder Weise unterstützen.
Die NSDAP handelt aus einem gesunden politischen Instinkt heraus, wenn sie sich energisch gegen den Nachweis wehrt, sie sei die unmittelbare Fortsetzung jener antisemitischen Bewegung des Kaiserreichs. Die Resultate dieser politischen Versuche ermutigen nicht gerade dazu, an die Zukunftsmöglichkeiten eines kleinbürgerlich-völkischen Programms zu glauben. Wenigstens ermutigen sie nicht diejenigen, auf die die NSDAP aus durchsichtigen Gründen den größten Wert legt: die deutschen Arbeiter.