Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

100

Werden eines Tatmenschen. Fortsetzung

 

Ulrich hatte das schlechte Gewissen zu Gerda getrieben; seit jenem traurigen Auftritt zwischen ihnen hatte er nichts von ihr gehört und wußte nicht, wie sie mit ihrem Zustand fertig geworden sei. Zu seiner Überraschung traf er bei Fischels Papa Leo an; Mama Klementine war mit Gerda ausgegangen. Leo Fischel ließ Ulrich nicht fort; er war selbst ins Vorzimmer herausgeeilt, als er seine Stimme erkannte. Ulrich hatte das Gefühl von Veränderungen. Direktor Fischel schien den Schneider gewechselt zu haben; sein Einkommen mußte größer und seine Gesinnung weniger groß geworden sein. Auch war er sonst immer länger in der Bank geblieben; er arbeitete niemals zuhause, seit die Luft dort so unerfreulich geworden war. Heute aber schien er an seinem Schreibtisch gesessen zu haben, obgleich dieser »sausende Webstuhl der Zeit« seit Jahren unbenutzt war; ein Paket Briefe lag auf dem grünen Tuch, und das vernickelte Telefon, das sonst nur den Damen diente, stand schief, als sei es eben in Gebrauch gewesen. Nachdem Ulrich Platz genommen hatte, drehte sich ihm Fischel mit dem Schreibtischsessel zu und polierte sein Glas mit einem Taschentuch, das er aus der Brusttasche zog, obgleich er früher bestimmt gegen solche Geckerei eingewandt hätte, daß es einem Goethe genügt hat, seine Taschentücher in der Hosentasche zu tragen; mochte das nun stimmen oder nicht.

»Lange nicht gesehen« sagte Direktor Fischel.

»Ja« sagte Ulrich.

»Sie haben viel geerbt?« fragte Fischel.

»Ach« sagte Ulrich. »Hinlänglich.«

»Ja, man hat Sorgen.«

»Sie sehen aber ausgezeichnet aus? Sie haben sich irgendwie verjüngt.«

»O, danke, beruflich ging es ja immer. Aber sehen Sie,« er wies schwermütig auf den Briefstoß, der auf dem Schreibtisch lag »Sie kennen doch Hans Sepp?«

»Natürlich. Sie haben mich ja ins Vertrauen gezogen.«

»Richtig!« sagte Fischel.

»Das sind wohl Liebesbriefe?«

Das Telefon klingelte. Fischel setzte den Kneifer auf, den er beim Sprechen abgenommen hatte, fingerte ein Blatt mit Notizen aus dem Rock und sagte: »Kaufen!« Dann sprach die Stimme auf der anderen Seite des Drahts eine lange Weile unhörbar auf ihn ein. Von Zeit zu Zeit blickte Fischel über das Glas zu Ulrich auf, einmal sagte er sogar: »Entschuldigen Sie!« Dann rief er in den Apparat: »Nein, danke; die zweite Sache liegt mir nicht! Reden? Ja, noch einmal darüber reden können wir« und hängte mit einem ganz kurzen befriedigten Nachdenken ab.

»Sehen Sie« sagte Fischel. »Da ist jemand in Amsterdam; viel zu teuer! Die Sache war vor drei Wochen nicht die Hälfte wert und in drei Wochen wird sie nicht einmal die Hälfte wert sein von dem, was sie jetzt kostet. Aber dazwischen wäre ein Geschäft zu machen. Ein großes Risiko!«

»Sie haben ja auch nicht gewollt« meinte Ulrich.

»Ach, das ist noch nicht gesagt. Aber ein großes Risiko! ... Und trotzdem, lassen Sie sich sagen, ist das Bauen in Marmor, Stein auf Stein! Kann man auf die Gesinnung, die Liebe, die Ideale eines Menschen bauen?!« Er dachte an seine Frau und an Gerda. Wie anders war das anfangs gewesen! Das Telefon klingelte wieder, aber diesmal war es ein Irrtum.

»Früher haben Sie feste moralische Werte sogar höher bewertet als eine feste Börse« sagte Ulrich. »Wie oft haben Sie es mir verübelt, daß ich Ihnen darin nicht folgen konnte!«

»Ach,« antwortete Fischel »Ideale sind wie Luft, die sich verändert, du weißt nicht wie; bei geschlossenen Fenstern! Hat man vor fünfundzwanzig Jahren eine Ahnung vom Antisemitismus gehabt? Nein, man hatte die großen Gesichtspunkte der Humanität! Sie sind zu jung. Ich aber habe noch einige große Parlamentsdebatten gehört. Die Ausklänge! Verläßlich ist nur, was man in Ziffern ausdrücken kann! Glauben Sie mir, die Welt wäre viel vernünftiger, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überließe, statt sie mit Panzerschiffen, Bajonetten, wirtschaftsfremden Diplomaten und sogenannten nationalen Idealen auszurüsten.«

Ulrich unterbrach ihn mit dem Einwand, daß doch gerade die Schwerindustrie und die Banken durch ihre Ansprüche die Völker zu Rüstungen antreiben.

»Nun, sollen sie nicht??« erwiderte Fischel. »Wenn die Welt ist, wie sie ist, und am hellen Tag in Narrenkostümen herumläuft, sollen sie nicht damit rechnen? Wenn nun einmal Militär für Zollverhandlungen oder gegen Streikende gut ist?! Wissen Sie, das Geld hat seine eigene Vernunft, damit läßt sich nicht spaßen! Übrigens à propos, haben Sie etwas Neues von den Arnheimschen Erzlagern gehört?« Wieder hatte das Klingelzeichen gerufen; aber mit der Hand am Apparat wartete Fischel die Antwort Ulrichs ab. Das Gespräch war kurz, und Fischel hatte den Faden ihres Gesprächs nicht verloren; da Ulrich von Arnheim nichts Neues wußte, wiederholte er, daß das Geld eine eigene Vernunft habe. »Geben Sie acht« fügte er hinzu. »Wenn ich Hans Sepp 500 Mark anbieten ließe, damit er sich an eine Universität seines über alles geliebten Deutschlands verzieht, so würde er sie entrüstet zurückweisen. Wenn ich ihm 1000 biete, gleichfalls. Ließe ich ihm jedoch 10 000 anbieten – aber das werde ich nie im Leben tun, selbst wenn ich noch so viel Geld hätte!« Es sah beinahe so aus, als hätte Direktor Fischel vor Schreck über einen solchen Einfall den Zusammenhang verloren, aber er überlegte nur und fuhr fort: »Das kann man eben nicht, weil Geld seine eigene Vernunft hat. Bei einem Mann, der unsinnige Ausgaben macht, bleibt es nicht; es flieht ihn, es macht ihn zu einem Verschwender. Daß die 10 000 Mark sich weigern, Hans Sepp angeboten zu werden, beweist, daß dieser Hans Sepp nichts Reelles, kein Wert, sondern ein gottsträfliches Schwindelgewächs ist, mit dem mich der Herr züchtigt.«

Wieder wurde Fischel unterbrochen. Diesesmal durch lange Mitteilungen. Ulrich fiel auf, daß er sich solche Geschäfte in die Wohnung bestellt habe, statt ins Büro. Fischel gab drei Aufträge zu kaufen und einen auf Verkauf. Dazwischen hatte er Zeit an seine Frau zu denken. – Wenn ich nun ihr Geld bieten möchte, damit sie sich von mir scheiden lasse, fragte er sich, würde es Klementine tun? – Eine innere Gewißheit erwiderte ihm: »Nein!«; Leo Fischel verdoppelte in Gedanken die Summe. »Gerade nicht!« sagte die innere Stimme. Fischel vervierfachte. »Aus Prinzip nicht« fiel ihm ein. Da steigerte er in einem Zuge, atemlos die Summe über jede menschliche Widerstandskraft und Leistungsfähigkeit hinaus und hielt ärgerlich inne. Er mußte seinen Geist hurtig auf kleinere Vermögen umstellen, das zog sich förmlich in seinem Kopf zusammen, wie man bei schnellem Lichtwechsel die Pupillen sich einziehen fühlt; aber er war nicht einen Augenblick von seinen Geschäften ab gewesen und machte keinen Fehler.

»Aber jetzt sagen Sie mir endlich einmal,« bat Ulrich, der schon ungeduldig geworden war »was das für Briefe sind, die Sie mir zeigen wollten. Das scheinen Liebesbriefe zu sein. Haben Sie Gerda bei Liebesbriefen erwischt?«

»Diese Briefe habe ich Ihnen zeigen wollen. Sie sollen sie lesen. Ich möchte jetzt bloß noch wissen, was Sie dazu sagen.« Fischel reichte Ulrich das ganze Paket und setzte sich zurecht, um, mit irgendwelchen anderen Gedanken inzwischen beschäftigt, durch seinen Kneifer in die Luft zu schauen. Ulrich blickte in die Briefe; dann nahm er einen heraus und las ihn langsam durch. Direktor Fischel fragte: »Sagen Sie, Doktor, Sie haben doch einmal diese Sängerin gekannt, Leontine oder Leona, die wie die selige Kaiserin Elisabeth aussieht; Gott soll mich strafen, dieses Weib hat wirklich einen Löwenappetit!«

Ulrich sah stirnrunzelnd auf; der Brief hatte ihm gefallen, und die Unterbrechung störte ihn.

»Nun, Sie brauchen nicht zu antworten,« begütigte Fischel »ich habe nur gefragt. Sie brauchen sich nicht zu schämen. Es ist eine königliche Person. Ich habe sie vor einiger Zeit durch einen Bekannten kennengelernt; wir haben dabei festgestellt, daß Sie befreundet waren. Sie ißt viel. Soll sie essen! Wer ißt nicht gerne?!« Fischel lachte.

Ulrich senkte den Blick wieder in den Brief, ohne zu antworten. Fischel blickte wieder träumend ins Firmament des Zimmers.

Der Brief begann: »Geliebter Mensch! Menschliche Göttin! Wir sind verurteilt, in einem erloschenen Jahrhundert zu leben. Niemand hat den Mut, an die Wirklichkeit des Mythos zu glauben. Du mußt dir inne machen, daß auch du davon betroffen wirst. Du hast nicht den Mut zu deiner Natur als Göttin. Menschenfurcht hält dich zurück. Du hast recht, wenn du die gewöhnliche Menschenbrunst für gemein hältst; ja schlimmer als das, für einen lächerlichen Rückfall aus dem Leben von uns Zukünftigen in bloße Atavismen! Und noch einmal hast du recht, wenn du sagst, daß Liebe zu einem Menschen, Tier oder Ding schon der Anfang seiner Besitznahme sei! Und darüber, daß Besitzen der Anfang von Entgeistigen ist, brauchen wir nicht zu reden! Aber dennoch müßtest du etwas scheiden: Gefühltwerden, vielleicht sogar schon Empfundenwerden heißt Meinsein. Ich fühle nur, was mein ist; ich höre nicht, was nicht für mich bestimmt ist! Wäre dem nicht so, so würden wir Intellektualisten sein. Das ist vielleicht eine unentrinnbare Tragik, daß wir mit Augen, Ohren, Atem und Gedanken besitzen müssen, wenn wir lieben! Aber bedenke: Ich fühle, daß ich nicht bin, solange ich nur ich selbst, Ichselbst bin. In den Dingen außer mir entdecke ich mich erst. Auch das ist eine Wahrheit. Ich liebe eine Blume, einen Menschen, weil ich ohne sie nichts war. Das Große am Erlebnis des Mein ist, sich ganz dahinschmelzen zu fühlen, wie ein Häuflein Schnee unter den Strahlen der Sonne; emporzuschweben wie ein leichter Hauch, der sich auflöst! Das schönste am Mein ist die letzte Ausrottung des Besitzes meiner selbst! Das ist der reine Sinn des Mein, daß ich nichts besitze, sondern von der ganzen Welt besessen werde. Alle Bäche fließen von den Höhen in die Täler, und auch du, meine Seele, wirst nicht eher Mein sein, als bis du ein Tropfen im Meer der Welt geworden bist, ganz ein Glied in der Weltbrüderschaft und Weltgemeinschaft! Dieses Mysterium hat nichts mehr gemein mit der nichtssagenden Überschätzung, welche die persönliche Liebe erfährt. Man muß trotz der Brunst dieses Zeitalters den Mut zur Inbrunst, zum In-Brennen haben! Die Tugend macht die Handlung tugendhaft; nicht machen Handlungen die Tugend! Versuche es! Das Jenseitige offenbart sich sprunghaft, und wir werden nicht mit einem Sprung in die Region des unbedingten Lebens entrückt werden. Aber Augenblicke werden kommen, wo wir menschenferne Menschen in menschenfernen Augenblicken der Gnade sein werden. Wirf nicht Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit in einen Topf des Gewesenen! Habe den Mut, Göttin zu sein! Das ist deutsch! –«

»Nun?« fragte Fischel.

Ulrich hatte einen roten Kopf bekommen. Er fand diesen Brief lächerlich und ergreifend. Hatten diese jungen Leute gar keine Scheu vor dem Übertriebenen, Unmöglichen, vor dem Wort, das sich nicht einlösen läßt? Worte spannen da immer neue Worte an, und ein Kern von Wahrheit überzog sich mit ihrem sonderbaren Gespinst. »Also, so ist jetzt Gerda?« dachte er. Aber in diesem Gedanken dachte er einen unausgesprochenen zweiten, eine Beschämung; ungefähr sagte sie: »Bist du nicht zu wenig übertrieben und unmöglich?«

»Nun?« wiederholte Fischel.

»Sind alle Briefe so?« fragte Ulrich und gab sie ihm zurück.

»Was weiß ich, welchen Sie gelesen haben!« antwortete Fischel. »Alle sind so!«

»Dann sind sie sehr schön« sagte Ulrich.

»Das habe ich mir gedacht!« platzte Fischel heraus. »Darum habe ich sie Ihnen wohl gezeigt! Meine Frau hat diesen Fund gemacht. Von mir erwartet aber niemand in solchen Seelenfragen einen klugen Rat. Also schön! Sagen Sie das meiner Frau!«

»Ich möchte lieber mit Gerda selbst darüber sprechen; vieles in dem Brief ist natürlich sehr unklug.«

»Unklug? Gering gesagt! Aber sprechen Sie! Und sagen Sie Gerda, daß ich kein Wort von diesem Jargon verstehen kann, daß ich aber bereit wäre, 5000 Mark – nein! sagen Sie lieber nichts! Sagen Sie nur, daß ich sie trotzdem liebe und bereit sein werde, ihr zu verzeihen!«

Das Telefon rief Fischel wieder an ein Geschäft. Er, der sein Leben lang nur ein solider Angestellter gewesen war, hatte seit einiger Zeit begonnen, auf eigene Rechnung an der Börse zu operieren; nur mit kleinen Beträgen einstweilen, den geringen Ersparnissen, die er besaß, und einigen Papieren seiner Gattin Klementine. Er durfte mit ihr nicht darüber reden, aber konnte mit dem Erfolg recht zufrieden sein; es war geradezu eine Erholung von den entmutigenden Verhältnissen zuhause.


 << zurück weiter >>