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Frühspaziergang
Um Clarissens Mund kämpfte Lachen mit Schwierigkeiten; bald öffnete er sich, bald preßte er sich schmal zusammen. Sie war vorzeitig aufgestanden; Walter schlief noch, sie hatte rasch ein leichtes Kleid übergeworfen und war ins Freie getreten. Die Vögel sangen vom Wald herüber durch die leere Morgenstille. Die Halbkugel des Himmels war noch nicht mit Wärme ausgefüllt. Selbst das Licht war noch seicht verteilt. »Es reicht mir nur an die Knöchel,« dachte Clarisse »der Hahn des Morgens ist soeben erst aufgedreht worden! Alles ist vor der Zeit!« Clarisse war stark davon berührt, daß sie vor der Zeit durch die Welt wandere. Ohne einen Begriff damit zu verbinden, hätte sie beinahe geweint.
Clarisse war ein zweitesmal, ohne Walter oder Ulrich etwas davon zu sagen, im Irrenhaus gewesen. Seither war sie besonders erregbar. Sie bezog alles, was sie während der beiden Besuche gesehen hatte, persönlich auf sich. Aber namentlich beschäftigten sie drei Vorkommnisse: Das erste war, daß man sie als kaiserlichen Sohn und Mann angesprochen und begrüßt hatte. Bei der Wiederholung dieser Behauptung hatte sie ganz deutlich ihren Widerstand dagegen nachgeben gefühlt, so als ob etwas Gewöhnliches, das sonst dem Fürstlichen im Wege stand, verschwände. Und sie war von einer unaussprechlichen Lust erfüllt worden. Das zweite, was sie erregte, war, daß sich auch Meingast verwandelte, und dazu offenbar ihre und Walters Nähe benützte. Seit sie ihn – es mochte nun wohl schon einige Wochen her sein! – im Gemüsegarten gestellt und durch den wahrhaft seherischen Zuruf in Schrecken versetzt hatte, daß auch sie sich verwandle und ein Mann sein könne, mied er ihre Gesellschaft. Sie hatte ihn von da an nicht einmal mehr bei den Mahlzeiten oft gesehn; er sperrte sich mit seiner Arbeit ein oder blieb tagsüber außer Hause, und wenn er Hunger hatte, holte er sich heimlich etwas aus der Speisekammer. Erst ganz vor kurzem war es ihr gelungen, ihn wieder allein anzureden. Sie hatte ihm gesagt: »Walter hat mir verboten, davon zu sprechen, daß du dich bei uns verwandelst!« und sie hatte mit den Augen gezwinkert. Meingast verhehlte sich jedoch auch da und tat überrascht, ja sogar ärgerlich. Clarisse aber hatte ihm gesagt: »Ich werde dir vielleicht zuvorkommen!« Und sie brachte das mit dem ersten Vorkommnis in Zusammenhang. Von Überlegung hatte das wenig an sich, und war darum auch in Beziehung zur Wirklichkeit ungewiß; aber deutlich war darin das wollüstige Hervordrängen eines anderen Wesens aus dem Grunde des ihren zu fühlen gewesen.
Clarisse war nun überzeugt, die Irren hätten sie erraten. Und als weder durch den heimlich widerstrebenden General von Stumm noch durch Ulrich eine Einladung kam, den unterbrochenen Besuch zu wiederholen, hatte sie nach langem Zögern selbst Dr. Friedenthal angerufen und ihm angekündigt, daß sie ihn im Krankenhaus aufsuchen werde. Und der Doktor hatte alsbald für Clarisse Zeit gehabt. Als sie ihn gleich bei ihrem Kommen fragte, ob die Irren nicht vieles wüßten, was die Gesunden nicht errieten, hatte er lächelnd den Kopf geschüttelt, aber tief in ihre Augen geschaut und mit wohlgefälliger Betonung geantwortet: »Die Ärzte der Irren wissen viel, was die Gesunden nicht ahnen!« Und als er seinen Rundgang antreten mußte, hatte er sich erboten, Clarisse zu Moosbrugger mitzunehmen und dort zu beginnen, wo sie das letztemal aufgehört hätten. Clarisse war wieder in den weißen Mantel geschlüpft, den ihr Friedenthal hinhielt, als wäre das schon ganz natürlich.
Aber – und das war das dritte Vorkommnis, das Clarisse noch nachträglich und noch mehr als die übrigen erregte – es war wieder nicht dazu gekommen, daß sie Moosbrugger sah. Denn es war etwas Merkwürdiges geschehn. Als sie den letzten Pavillon verlassen hatten und im Gehen die freie würzige Luft des Parks einatmeten, wobei Friedenthal unternehmungslustig sagte: »Nun kommt aber Moosbrugger an die Reihe!«, war wieder ein Wärter dahergelaufen gekommen und hatte eine Meldung hinterbracht. Friedenthal zuckte die Schultern und sagte: »Sonderbar! Es geht wieder nicht! Bei Moosbrugger ist im Augenblick der Chef mit einer Kommission. Ich kann Sie nicht mitnehmen!« Und nachdem er ihr aus eigenem versprochen hatte, sie, sobald es möglich sei, zur Fortsetzung einzuladen, war er mit großen Schritten weggegangen, indes Clarisse durch den Wärter zurück auf die Straße gebracht worden war.
Clarisse fand dieses zweimalige Leerausgehen ihres Besuchs auffällig und ungewöhnlich und vermutete eine Ursache dahinter. Sie hatte den Eindruck, daß man sie geflissentlich nicht zu Moosbrugger lasse und jedesmal eine andere Ausrede ersänne, ja vielleicht die Absicht habe, Moosbrugger verschwinden zu lassen, ehe sie ihn erreiche.
Als sich Clarisse das jetzt wieder überlegte, hätte sie beinahe geweint. Sie hatte sich überlisten lassen und fühlte sich sehr beschämt; denn von Friedenthal war wieder keine Nachricht gekommen. Aber während sie sich so aufregte, beruhigte sie sich auch wieder. Es fiel ihr ein Gedanke ein, der sie jetzt oft beschäftigte, daß im Verlauf der menschlichen Geschichte viele große Männer von ihren Zeitgenossen verheimlicht und gemartert worden und viele sogar im Irrenhaus verschwunden seien. »Sie haben sich nicht wehren, noch erklären können, weil sie nur Verachtung für ihre Zeit empfanden!« dachte sie. Und sie erinnerte sich an Nietzsche, den sie vergötterte, mit dem großen traurigen Lippenbart, und ganz stumm geworden dahinter.
Es wurde ihr dabei aber unheimlich zumute. Was sie soeben noch beleidigt und gekränkt hatte, ihre Niederlage durch den listigen Arzt, leuchtete ihr plötzlich als ein Zeichen davon ein, daß auch ihr das Schicksal eines solchen großen Menschen vorbestimmt sein könnte. Ihre Augen suchten die Richtung, in der das Irrenhaus lag, und sie wußte, daß sie diese Richtung immer als etwas Besonderes fühlte, auch wenn sie nicht daran dachte. Es war ungemein bedrückend, sich so mit den Irren eins zu fühlen, aber »sich mit dem Unheimlichen gleichzustellen, ist die Entscheidung zum Genie!« sagte sie sich.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und die Landschaft wirkte dadurch noch leerer; sie war grün und kühl mit blutigen Streifen; die Welt war noch immer niedrig und reichte Clarisse, die auf einer kleinen Anhöhe stand, nur bis an die Knöchel. Da und dort schrie eine Vogelstimme auf wie eine arme Seele. Ihr schmaler Mund breitete sich aus und lächelte der Morgenrunde zu. Sie stand, von ihrem Lächeln umgürtet, wie die Muttergottes auf der von der Sünde (Mondsichel) umschlungenen Erde. Sie überlegte, was sie zu tun habe. Eine eigentümliche Opferstimmung beherrschte sie: Allzuviel war ihr in der letzten Zeit durch den Kopf gegangen. Wiederholt hatte sie geglaubt, jetzt begänne es mit ihr: etwas Großes mit ganzer Seele zu tun! Aber sie wußte nicht was.
Sie fühlte nur, es stand ihr etwas nahe bevor. Sie fürchtete sich davor, und es verlangte sie nach dem Furchtbaren. In der Leere des Morgens schwebte es wie ein Kreuz über ihren Schultern. Aber eigentlich war es doch mehr ein tätiges Leid. Eine große Tat. Eine Verwandlung. Da war nun wieder diese beziehungsvolle Vorstellung. Die Gedanken daran und die Versuche, es sich vorzustellen, fuhren ihr kreuz und quer durch den Kopf. Auch die Schwalben hatten inzwischen begonnen, durch die Luft hin und her zu fahren. Clarisse wurde plötzlich wieder heiter, ohne daß jedoch das Unheimliche ganz von ihr wich. Es kam ihr vor, daß sie sich sehr weit von ihrem Wohnhause entfernt habe. Sie kehrte um und unterwegs begann sie zu tanzen. Sie streckte die Arme waagrecht aus und hob die Knie. So legte sie den ganzen letzten Teil des Wegs zurück.
Aber ehe sie zuhause anlangte, traf sie bei einer Biegung des Pfads auf General von Stumm.