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44

Eine gewaltige Aussprache

 

In diesem Augenblick trat Lindner ein und hatte sich ebensoviel zu sagen vorgenommen wie seine Besucherin; aber es kam alles anders, als sie sich einander gegenüber befanden. Agathe ging gleich mit Worten zum Angriff über, die zu ihrem Erstaunen weitaus gewöhnlicher ausfielen, als es ihrer Vorgeschichte entsprochen hätte. »Sie erinnern sich wohl, daß ich Sie gebeten habe, mir einiges zu erklären« begann sie. »Ich bin jetzt da. Ich weiß noch gut, was Sie gegen meine Scheidung gesagt haben. Vielleicht habe ich es seither sogar besser verstanden!« Sie saßen an einem großen, runden Tisch, und die ganze Länge seines Durchmessers trennte sie. Agathe fühlte sich, im Verhältnis zu den letzten Augenblicken ihres Alleinseins, gleich im ersten Augenblick dieses Beisammenseins tief gesunken, dann aber auf festem Boden; sie legte dort das Wort Scheidung wie einen Köder aus, obwohl ihre Neugierde, Lindners Meinung zu erfahren, auch aufrichtig war.

Und dieser antwortete wirklich fast in demselben Augenblick: »Ich weiß recht wohl, warum Sie diese Erklärung von mir verlangen. Man wird Ihnen zeitlebens eingeflüstert haben, daß der Glaube an Übermenschliches und der Gehorsam gegen Gebote, die in diesem ihren Ursprung haben, dem Mittelalter angehöre! Sie haben erfahren, solche Märchen seien durch die Wissenschaft abgetan worden! Sind Sie aber dessen gewiß, daß es wirklich so ist?!«

Agathe bemerkte zu ihrer Überraschung, daß sich ungefähr bei jedem dritten Wort seine Lippen unter dem schütteren Bart wie zwei Angreifer aufrichteten. Sie gab keine Antwort.

»Haben Sie darüber nachgedacht?« fuhr Lindner streng fort. »Kennen Sie die wahre Unzahl von Fragen, die damit zusammenhängen? Ich sehe: Sie kennen sie nicht! Aber Sie haben eine großartige Handbewegung, mit der Sie das abtun, und wissen wahrscheinlich nicht einmal, daß Sie bloß unter dem Einfluß fremden Zwanges handeln!«

Er hatte sich in die Gefahr gestürzt. Es blieb ungewiß, an welche Einflüsterer er dabei dachte. Er fühlte sich fortgerissen. Seine Rede war ein langer Tunnel, den er durch einen Berg gebohrt hatte, um jenseits über eine Vorstellung: »Lügen freigeistiger Männer« herzufallen, die dort in prahlerischem Licht prangte. Er meinte weder Ulrich noch Hagauer, aber er meinte beide, er meinte alle. »Und wenn Sie auch nachgedacht hätten« – er rief es mit kühn ansteigender Stimme aus – »und von diesen Irrlehren überzeugt wären: daß der Körper nichts als ein System toter Korpuskeln sei, die Seele ein Drüsenspiel, die Gesellschaft ein Lumpenbündel mechanisch-wirtschaftlicher Gesetze; und sogar, wenn das richtig wäre, wovon es weit entfernt ist – so würde ich doch solchem Denken das Wissen von der Wahrheit des Lebens absprechen! Denn was sich Wissenschaft nennt, hat nicht die geringste Zuständigkeit, mit ihrem äußerlichen Verfahren das zu erklären, was als innere, geistige Gewißheit im Menschen lebt. Die Lebenswahrheit ist ein anfangloses Wissen, und die Tatsachen des wahren Lebens werden nicht durch Beweis vermittelt: wer lebt und leidet, hat sie in sich selbst als die geheimnisvolle Macht höherer Ansprüche und als die lebendige Deutung seiner selbst!«

Lindner war aufgestanden. Seine Augen blitzten wie zwei Kanzelredner auf der von seinen langen Beinen gebildeten Höhe. Er sah mit Machtgefühlen auf Agathe hinab. »Warum spricht er gleich so viel?« dachte sie. »Und was hat er gegen Ulrich? Er kennt ihn kaum und spricht doch offenkundig gegen ihn!?« Da gab ihr die weibliche Übung im Erregen von Gefühlen, schneller, als es Nachdenken vermocht hätte, die Gewißheit ein, daß Lindner nur deshalb so spräche, weil er in einer lächerlichen Weise eifersüchtig sei. Sie sah mit einem bezaubernden Lächeln zu ihm auf. Er stand groß, schwank und bewaffnet vor ihr und kam ihr wie eine kampflustige Riesenheuschrecke aus vergangenen Erdzeitaltern vor. »Du lieber Himmel,« dachte sie »jetzt werde ich wieder etwas sagen, das ihn ärgert, und er wird wieder hinter mir drein laufen: Wo bin ich?! Welches Spiel treibe ich?!« Es verwirrte sie, daß sie von Lindner zum Lachen gereizt wurde und doch einzelne seiner Worte nicht ohneweiters los wurde, wie »anfangloses Wissen« oder »lebendige Deutung«: so fremde Worte in der Gegenwart, aber ihr heimlich vertraut, als hätte sie selbst sie immer gebraucht, ohne daß sie sich erinnern konnte, diese Ausdrücke früher auch nur gehört zu haben. Sie dachte: »Es ist schauerlich, aber einzelne seiner Worte hat er mir schon wie Kinder ins Herz gesenkt!«

Lindner bemerkte, daß er auf sie Eindruck gemacht habe, und diese Genugtuung versöhnte ihn ein wenig. Er sah eine junge Frau vor sich, an der Erregung und gespielte Gleichgültigkeit, ja selbst Keckheit verdächtig zu wechseln schienen: und da er ein genauer Kenner der Frauenseele zu sein glaubte, ließ er sich davon nicht beirren, sondern wußte, daß die Versuchung zu Hochmut und Eitelkeit für schöne Frauen außerordentlich groß sei. Er konnte überhaupt ein schönes Gesicht selten ohne eine Beimischung von Mitleid betrachten. Damit ausgezeichnete Menschen waren nach seiner Überzeugung fast immer Märtyrer ihrer glänzenden Außenseite, die sie zu Dünkel verführte und seinem schleichenden Gefolge von Herzenskälte und Äußerlichkeit. Immerhin kann es aber auch vorkommen, daß hinter einem schönen Antlitz eine Seele wohnt, und wieviel Unsicherheit hat sich denn nicht oft schon hinter Hochmut, wieviel Verzweiflung unter Leichtsinn verborgen! Oft sind das sogar besonders edle Menschen, denen bloß die Hilfe richtiger und unerschütterlicher Überzeugungen abgeht. Und Lindner wurde nun nach und nach wieder ganz davon überwältigt, daß sich der erfolgreiche Mensch in die Stimmung des vernachlässigten hineinzuversetzen habe; und als er dies tat, wurde er gewahr, daß die Form von Agathes Antlitz und Körper jene liebliche Ruhe besitze, die nur dem Großen und Edlen zu eigen ist, ja das Knie in den Falten der Umhüllung erschien ihm sogar als das einer Niobe. Es setzte ihn in Erstaunen, daß sich ihm gerade dieser Vergleich aufdrängte, der seines Wissens keinesfalls passend sein konnte, aber anscheinend hatte sich darin der Adel seines moralischen Schmerzes selbsttätig mit der verdächtigen Vorstellung vieler Kinder verbunden, denn er fühlte sich nicht minder angezogen als geängstigt. Er bemerkte nun auch den Busen, der in raschen, kleinen Wellen atmete. Es wurde ihm schwül zumute, und wäre ihm nicht abermals seine Weltkenntnis zu Hilfe gekommen, so hätte er sich sogar ratlos gefühlt: sie flüsterte ihm aber im Augenblick der höchsten Verfänglichkeit zu, daß dieser Busen etwas Unausgesprochenes umschließen müsse, und daß dieses Geheimnis nach allem, was er wußte, mit der Scheidung von seinem Kollegen Hagauer zusammenhängen dürfte; und das rettete ihn aus beschämender Torheit, indem es ihm augenblicklich die Möglichkeit bot, sich die Enthüllung dieses Geheimnisses an Stelle der des Busens zu wünschen. Er tat es aus ganzer Kraft, und die Verbindung von Sünde mit der ritterlichen Tötung des Sündendrachens schwebte ihm dabei in glühenden Farben vor, ähnlich wie sie auf der Glasmalerei in seinem Arbeitszimmer leuchteten.

Agathe unterbrach dieses Nachsinnen mit einer Frage, die sie in gemäßigtem, ja verhaltenen Ton an ihn richtete, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. »Sie haben behauptet, daß ich unter Einflüsterungen, unter einem fremden Zwang handle: was haben Sie damit gemeint?«

Lindner hob verblüfft den Blick, der auf ihrem Herzen geruht hatte, zu ihren Augen. Was ihm noch nie widerfahren war, er wußte nicht mehr, was er zuletzt gesagt hatte. Er hatte in dieser jungen Frau ein Opfer des freien Geistes gesehen, der die Zeit verwirrt, und hatte es über seiner Siegesfreude vergessen.

Agathe wiederholte ihre Frage mit einer kleinen Veränderung: »Ich habe Ihnen anvertraut, daß ich mich von Professor Hagauer scheiden lassen will, und Sie haben mir erwidert, daß ich unter Einflüsterungen handle. Es könnte mir nützen, zu erfahren, was Sie darunter verstehen. Ich wiederhole Ihnen, daß keiner der landläufigen Gründe ganz zutrifft; nicht einmal die Abneigung ist nach den Maßen der Welt unüberwindlich gewesen. Ich bin bloß überzeugt worden, daß sie nicht überwunden werden darf, sondern unermeßlich vergrößert werden soll!«

»Von wem?«

»Das ist eben die Frage, die Sie mir lösen helfen sollen.« Sie sah ihn wieder mit einem sanften Lächeln an, das sozusagen abscheulich tief ausgeschnitten war und den inneren Busen entblößte, als läge nur noch ein schwarzes Spitzentuch darüber. Unwillkürlich schützte Lindner davor das Auge mit einer Bewegung der Hand, die seine Brille zu richten vorgab. Die Wahrheit war, daß Mut in seinem Weltbild als auch in den Gefühlen, die er Agathe entgegenbrachte, dieselbe ängstliche Rolle spielte. Er gehörte zu denen, die erkannt haben, daß es den Sieg der Demut erleichtert, wenn sie den Hochmut zuvor mit der Faust niederstreckt, und seine gelehrte Natur hieß ihn keinen Hochmut so bitterlich fürchten wie den der freien Wissenschaft, die dem Glauben vorwirft, daß er unwissenschaftlich sei. Hätte man ihm gesagt, daß die Heiligen mit ihren leer und bittend erhobenen Händen veraltet seien und gegenwärtig mit Säbel, Pistole oder noch neueren Instrumenten in der Faust dargestellt werden müßten, so möchte ihn das empört haben, aber die Waffen des Wissens wollte er dem Glauben nicht vorenthalten sehen. Das war beinahe zur Gänze ein Irrtum, aber nicht er allein beging ihn; und darum war er über Agathe mit Worten hergefallen, die in seinen Veröffentlichungen einen ehrenvollen Platz verdient hätten – und ihn dort wahrscheinlich auch einnahmen –, der sich ihm Anvertrauenden gegenüber aber fehl am Ort gewesen waren. Da er den Sendling ihm feindlicher Weltteile, den ein gütiges oder dämonisches Geschick in seine Hände gegeben, nun bescheiden nachdenklich vor sich sitzen sah, spürte er das selbst und war in Verlegenheit, was er antworten solle. »Ach!« sagte er, möglichst allgemein und wegwerfend, und traf zufällig nicht weit vom Richtigen: »Ich habe den Geist gemeint, der heute herrscht und junge Menschen befürchten läßt, daß sie dumm, ja sogar unwissenschaftlich erscheinen könnten, wenn sie nicht allen modernen Aberglauben mitmachen. Was weiß ich, welche Schlagworte Ihnen im Sinn liegen mögen: Ausleben! Lebensbejahung! Kultur der Persönlichkeit! Freiheit des Denkens oder der Kunst! Jedenfalls alles, nur nicht die Gebote der ewigen und einfachen Moral.«

Die glückliche Steigerung: »dumm, ja sogar unwissenschaftlich« erfreute ihn durch ihre Feinheit und hatte seinen Kampfgeist wieder aufgerichtet. »Sie werden sich wundern,« fuhr er fort »daß ich im Gespräch mit Ihnen auf Wissenschaft Wert lege, ohne davon unterrichtet zu sein, ob Sie sich viel oder wenig mit ihr befaßt haben –«

»Gar nicht!« unterbrach ihn Agathe. »Ich bin eine unwissende Frau.« Sie betonte es und schien daran, vielleicht mit einer Art von Schein-Unheiligkeit, Vergnügen zu haben.

»Aber es ist Ihr Milieu!« berichtigte Lindner mit Nachdruck. »Und ob Freiheit der Sitten oder der Wissenschaft, in beiden drückt sich dasselbe aus: der von der Moral losgelöste Geist!«

Agathe empfand auch diese Worte wieder als nüchterne Schatten, die gleichwohl von etwas Dunklerem herfielen, das ihnen in der Nähe war. Sie war nicht gesonnen, ihre Enttäuschung zu verbergen, offenbarte sie aber lachend: »Sie haben mir letzthin den Rat gegeben, nicht an mich zu denken, und reden selbst immerzu von mir« gab sie dem Mann vor ihr spöttisch zu bedenken.

Dieser wiederholte: »Sie haben Angst, sich unzeitgemäß vorzukommen!«

In Agathes Augen zuckte es ärgerlich. »Ich bin ratlos, so wenig paßt auf mich, was Sie sagen!«

»Und ich sage Ihnen: ›Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht Knechte der Menschen!‹« Die Vortragsweise, die zur ganzen Verkörperung in Widerspruch stand wie eine schwere Blüte zu einem schwachen Stengel, erheiterte Agathe. Sie fragte dringlich und beinahe rauh: »Also, was soll ich tun? Ich erhoffe mir von Ihnen eine bestimmte Antwort.«

Lindner schluckte und wurde dunkel vor Ernst. »Tun Sie, was Ihre Pflicht ist!«

»Ich weiß nicht, was meine Pflicht ist!«

»Dann müßten Sie sich Pflichten suchen!«

»Ich weiß doch nicht, was Pflichten sind!«

Lindner lächelte grimmig. »Da haben wir ja gleich die Freiheit der Persönlichkeit!« rief er. »Eitel Spiegelung! Sie sehen es doch an sich: wenn der Mensch frei ist, ist er unglücklich! Wenn der Mensch frei ist, ist er ein Phantom!« fügte er, aus Verlegenheit die Stimme noch etwas mehr hebend, hinzu. Dann senkte er sie aber wieder und schloß mit Überzeugung: »Pflicht ist, was die Menschheit in richtiger Selbsterkenntnis gegen ihre eigene Schwäche aufgerichtet hat. Pflicht ist ein und dieselbe Wahrheit, die alle großen Persönlichkeiten bekannt oder auf die sie ahnungsvoll hingewiesen haben. Pflicht ist das Werk jahrhundertelanger Erfahrung und das Ergebnis des Seherblicks der Begnadeten. Pflicht ist aber auch, was selbst der einfachste Mensch im geheimen Innern genau kennt, wenn er nur aufrichtig lebt!«

»Das war ein von Kerzen durchzitterter Gesang« stellte Agathe anerkennend fest.

Unliebsam war, daß Lindner auch fühlte, daß er falsch gesungen habe. Er hätte etwas anderes sagen sollen, getraute sich aber nicht zu erkennen, worin die Abweichung von der echten Stimme seines Herzens bestehe. Er gestattete sich bloß den Gedanken, daß dieses junge Wesen von seinem Mann tief enttäuscht sein müsse, da es so dreist und verbittert gegen sich selbst wüte, und daß es trotz alles Tadels, den es herausfordere, eines stärkeren Mannes würdig wäre; er hatte aber den Eindruck, daß auf diesen Gedanken ein noch weitaus gefährlicherer folgen wolle. Indessen schüttelte Agathe aber langsam und sehr entschlossen den Kopf; und mit der unwillkürlichen Sicherheit, mit der ein erregter Mensch vom andern zu dem verführt wird, was die bedenkliche Lage ganz zum Sturz bringt, fuhr sie fort: »Aber wir sprechen von meiner Scheidung! Und warum sagen Sie da heute nichts mehr von Gott? Warum sagen Sie nicht einfach zu mir: ›Gott befiehlt, daß Sie bei Professor Hagauer bleiben!‹? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß er so etwas befehlen mag!«

Lindner zuckte unwillig die hohen Schultern; ja, er schien mit ihrer auffahrenden Bewegung fürwahr selbst in die Höhe zu schweben. »Ich habe nie mit Ihnen davon gesprochen, das haben bloß Sie versucht!« verwahrte er sich schroff. »Und was das übrige betrifft, glauben Sie nur ja nicht, daß sich Gott um die kleinen selbstischen Händel unseres Gefühls kümmert! Dafür ist sein Gesetz da, das wir zu befolgen haben! Oder dünkt Sie das nicht heldisch genug, da doch der Mensch heute in allem das ›Persönliche‹ will? Nun, dann setze ich Ihren Ansprüchen ein höheres Heldentum entgegen, das der heroischen Unterwerfung!«

Jedes Wort davon besagte bedeutend mehr, als sich ein Laie erlauben sollte, wäre es selbst nur in Gedanken; Agathe hinwieder konnte zu so grobem Hohn bloß unaufhörlich lächeln, wollte sie nicht gezwungen sein, daß sie aufstehe und ihren Besuch abbreche, und sie tat es natürlich mit so sicherer Geschicklichkeit, daß sich Lindner immer wirrer gereizt fühlte. Er gewahrte seine Einfälle beunruhigend aufsteigen und immer mehr eine glühende Trunkenheit verstärken, die ihn der Besinnung beraubte und von dem Willen widerhallte, den störrischen Sinn zu brechen und vielleicht die Seele zu retten, der er sich gegenüber sah. »Unsere Pflicht ist schmerzhaft!« rief er aus. »Unsere Pflicht mag widerwärtig und ekelerregend sein! Glauben Sie nur ja nicht, daß ich der Anwalt Ihres Gatten sein will und von Natur auf seiner Seite stehe. Aber Sie müssen dem Gesetz gehorchen, weil es das einzige ist, was uns dauernd Friede gewährt und uns vor uns beschützt!«

Agathe lachte ihn jetzt aus; sie hatte die Waffe erraten, die ihr die Wirkungen an die Hand gaben, die von ihrer Scheidung ausgingen, und sie drehte das Messer in der Wunde um. »Ich begreife von dem allen wenig« sagte sie. »Aber darf ich Ihnen aufrichtig einen Eindruck bekennen? Wenn Sie zornig sind, werden Sie ein wenig schlüpfrig!«

»Ach, lassen Sie das!« verwies es Lindner. Er prallte zurück und hatte nur den einen Wunsch, so etwas um keinen Preis zuzulassen. Er hob abwehrend die Stimme und beschwor das vor ihm sitzende sündliche Phantom. »Der Geist darf sich nicht dem Fleisch unterwerfen und seinen Reizen und Schauern! Nicht einmal in der Form des Abscheus! Und ich sage Ihnen: Es mag die Beherrschung des fleischlichen Unwillens, welche die Schule der Ehe anscheinend von Ihnen verlangt hat, schmerzlich sein, so dürfen Sie ihr doch nicht entfliehn. Denn es lebt im Menschen ein Verlangen nach Befreiung, und wir dürfen so wenig die Knechte des Abscheus unseres Fleisches sein wie die seiner Wollust! Das ist es doch offenbar, was Sie hören wollen, denn sonst wären Sie nicht zu mir gekommen!« – schloß er, nicht minder großartig als hämisch. Er stand hochgereckt vor Agathe, die Bartfäden bewegten sich um seine Lippen. Noch nie hatte er solche Worte zu einer Frau gesprochen außer zu seiner verstorbenen eigenen, und da waren die Gefühle andere gewesen. Denn jetzt waren sie mit Wollust untermischt, als schwänge er eine Geißel in der Faust, den Erdball zu züchtigen, und zugleich waren sie ängstlich, als schwebte er gleich einem entführten Hut auf der Höhe des bußpredigerlichen Wirbelsturms, der ihn erfaßt hatte.

»Da haben Sie soeben wieder merkwürdig gesprochen!« bemerkte Agathe leidenschaftslos und wollte seine Unverschämtheit jetzt mit einigen trockenen Worten abstellen; doch dann ermaß sie den ungeheuren Absturz, der ihm bevorstünde, und zog es vor, sich sanft zu demütigen, indem sie einhielt und mit einer Stimme, die scheinbar plötzlich von Reue verdunkelt worden war, fortfuhr: »Ich bin bloß deshalb gekommen, weil ich wollte, daß Sie mich führen.«

Lindner, in ratlosem Eifer, schwang die Wortgeißel weiter; ihm ahnte, daß ihn Agathe mit Absicht in die Irre treibe, aber er fand nicht zurück und vertraute sich der Zukunft an. »Lebenslänglich an einen Mann gefesselt zu sein, ohne körperliche Neigung zu empfinden, ist gewiß eine schwere Strafe« rief er aus. »Aber hat man sich diese nicht gerade dann, wenn der Partner unwürdig ist, dadurch zugezogen, daß man auf die Zeichen des inwendigen Lebens nicht genug geachtet hat?! Viele Frauen lassen sich doch von äußeren Umständen betören, und wer weiß, ob man nicht gestraft wird, um aufgerüttelt zu werden!« Plötzlich überschlug sich seine Stimme. Agathe hatte seine Worte mit zustimmender Kopfbewegung begleitet; aber daß sie sich Hagauer als betörenden Verführer vorstellen sollte, war zuviel für sie gewesen, und ihre heiteren Augen verrieten es. Lindner, aufs äußerste irregemacht, schmetterte in der Fistel: »Denn der die Rute spart, der haßt sein Kind, der es aber liebt, züchtiget es!«

Der Widerstand seines Opfers hatte aus dem auf sicherer Warte hausenden Lebensphilosophen nun vollends einen Dichter von Strafen und ihren erregenden Begleitumständen gemacht. Er war von einer ihm unbekannten Empfindung berauscht, die aus einer innigen Verbindung der moralischen Zurechtweisung, durch die er seinen Besuch stachelte, mit einer Aufreizung seiner ganzen Männlichkeit hervorging und die man symbolisch, wie er nun selbst einsah, als wollüstig bezeichnen konnte.

Aber die »arrogante Eroberin«, die von der leeren Eitelkeit ihrer weltlichen Schönheit doch endlich zur Verzweiflung hätte getrieben werden sollen, knüpfte sachlich auch an seine Drohungen mit der Rute an und fragte still: »Von wem werde ich gestraft? An wen denken Sie?«

Und das ließ sich nicht aussprechen! Lindner verlor plötzlich den Mut. Schweiß stand zwischen seinen Haaren. Es war unmöglich, in einem solchen Zusammenhang den Namen Gottes zu nennen. Sein Blick, der wie eine zweizinkige Gabel vorgestreckt war, zog sich langsam von Agathe zurück. Agathe fühlte das. »Er kann es also auch nicht!« dachte sie. Sie empfand eine wahnsinnige Lust, an diesem Menschen weiter zu zerren, so lange, bis das aus seinem Mund hervorginge, was er ihr nicht preisgeben wollte. Doch für diesmal war es genug; das Gespräch war an seiner äußersten Grenze angelangt. Agathe verstand, daß es nur eine glühende, und in der Glut durchsichtig gewordene Ausrede gewesen war, um das Entscheidende nicht sagen zu müssen. Übrigens wußte auch Lindner jetzt, daß alles, was er vorgebracht, ja alles, was ihn erregt hatte, ja die Übertreibung selbst, nur der Angst vor Übertreibungen entsprungen war, als deren zuchtloseste er es ansah, sich dem, was von hohen Worten verhüllt bleiben soll, mit fürwitzigen Sinnes- und Gefühlswerkzeugen zu nahen, wozu ihn offenbar diese übertriebene junge Frau drängte. Er nannte es bei sich jetzt »eine Verletzung der Dezenz des Glaubens«. Denn während dieser Augenblicke strömte das Blut aus Lindners Kopf zurück und nahm seine ordentliche Bahn wieder auf; er erwachte wie ein Mensch, der sich weit weg von der Tür seines Hauses nackend dastehen findet, und erinnerte sich, daß er Agathe nicht ohne Trost und Belehrung fortschicken dürfe. Tief aufatmend trat er von ihr zurück, strich seinen Bart und sagte verweisend: »Sie haben ein unruhiges und phantastisches Selbst!«

»Und Sie haben eine eigentümliche Art von Galanterie!« entgegnete Agathe kühl, denn sie hatte jetzt keine Lust mehr auf eine Fortsetzung.

Lindner fand es indes zu seiner Wiederherstellung erforderlich, noch etwas zu sagen: »Sie sollten in der Schule der Wirklichkeit lernen, Ihre Subjektivität unerbittlich in die Zügel zu nehmen, denn wer das nicht kann, dessen Phantasie und Einbildung wird ihn gar zu bald am Boden schleifen . . .!« Er hielt ein, denn die sonderbare Frau zog noch immer die Stimme ganz unerwünscht aus seiner Brust. »Wehe dem, der sich von der Sitte loslöst, er löst sich von der Wirklichkeit los!« fügte er leise hinzu.

Agathe zuckte die Achseln. »Ich hoffe Sie das nächste Mal bei uns zu sehen!« schlug sie vor.

»Da muß ich doch erwidern: Nie!« verwahrte sich Lindner heftig und nun ganz irdisch. »Zwischen Ihrem Bruder und mir bestehen Gegensätze der Lebensauffassung, die einen Verkehr besser meiden lassen« fügte er als Entschuldigung hinzu.

»Also werde wohl ich fleißig in die Schule der Wirklichkeit kommen müssen« gab Agathe ruhig zur Antwort.

»Nein!« wiederholte Lindner, vertrat ihr dabei aber merkwürdigerweise beinahe drohend den Weg; denn sie hatte sich mit jenen Worten zum Gehen angeschickt. »Das darf nicht geschehen! Sie dürfen mich Kollege Hagauer gegenüber nicht in die peinliche Lage bringen, daß ich ohne sein Wissen Ihre Besuche empfange!«

»Sind Sie immer so leidenschaftlich wie heute?« fragte Agathe spöttisch und zwang ihn dadurch, ihr den Weg freizugeben. Sie fühlte sich jetzt am Ende schal, aber gekräftigt. Die Angst, die Lindner vor ihr verriet, zog sie zu Handlungen hin, die ihrem wahren Zustand fremd waren; während aber die Forderungen ihres Bruders sie leicht entmutigten, gab ihr dieser Mann die Freiheit zurück, ihr Inneres nach Willkür zu regen, und es tröstete sie, ihn zu verwirren.

»Habe ich mir vielleicht etwas vergeben?« fragte sich Lindner, nachdem sie gegangen war. Er steifte die Schultern und marschierte einigemal im Zimmer auf und ab. Schließlich beschloß er, den Verkehr fortzusetzen, und faßte sein Unbehagen, das dabei sehr groß war, in die soldatischen Worte: »Man muß den festen Willen zur Tapferkeit gegenüber allem Peinlichen haben!«

Peter aber war, als Agathe aufbrach, vom Schlüsselloch fortgehuscht, wo er nicht ohne Staunen belauscht hatte, was sein Vater mit der »großen Gans« anhebe.


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