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Die Referate D und L

 

Als General Stumm von Bordwehr im Garten darzulegen begonnen hatte, warum er glaube, über eine Idee gestolpert zu sein, zeigte sich alsbald, daß er mit der Freude erzähle, die ein Stoff bereitet, der gut durchdacht ist. Den Anfang habe es gemacht, berichtete er, daß er wegen des unbesonnenen Beschlusses, der den Kriegsminister gezwungen hätte, Diotimas Haus fluchtartig zu verlassen, die erwartete Nase bekommen habe. »Ich habe ja alles vorausgesagt!« beteuerte Stumm selbstbewußt und fügte bescheidener hinzu: »Nur das nicht, was danach gekommen ist.« Es war nämlich trotz aller Gegenmaßnahmen etwas von dem leidigen Zwischenfall in die Zeitungen durchgesickert und bei den Ausschreitungen wieder zum Vorschein gekommen, deren Opfer dann Graf Leinsdorf wurde. Graf Leinsdorf aber war, wie es Stumm schon in Agathes Gegenwart angedeutet hatte und jetzt ausführte, auf der Rückreise von seinen böhmischen Gütern in einer Stadt, wo er den Eilzug erreichen wollte, mit dem Wagen zwischen die zwei Fronten eines politischen Zusammenstoßes geraten, und Stumm beschrieb nun das Weitere folgendermaßen: »Sie haben ihre Unruhen natürlich wegen etwas ganz anderem veranstaltet gehabt; wegen irgend einer Verordnung der Regierung über den Gebrauch der Landessprachen in den Ämtern, oder wegen einer andern von diesen Sachen, über die man sich schon so oft geärgert hat, daß man kaum noch kann. Und so sind auch bloß auf der einen Seite der Straßen die deutschsprachigen Stadtbewohner gestanden und haben zu den andern hinübergeschrien: ›Pfui!‹, und auf der andern Seite sind die anderssprachigen gestanden und haben zu den Deutschen hinübergeschrien: ›Schande!‹; und es wäre weiter auch nichts geschehn. Aber der Leinsdorf ist als Friedensstifter bekannt; er will, daß die in der Monarchie vereinigten Volksstämme ein Staatsvolk bilden, und das sagt er auch immer. Und du weißt doch auch, wenn ich hier so sagen darf, wo es niemand hört, daß zwei Hunde einander oft unentschlossen anknurren, daß sie aber in dem Augenblick, wo man sie beruhigen will, aufeinander losfahren. Wie der Leinsdorf erkannt worden ist, hat das also den Gefühlen einen ungeheuren Aufschwung gegeben; und sie haben zuerst im Sprechchor auf zwei Sprachen angefangen zu fragen: ›Was ist mit der Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung, Herr Graf?‹ und dann haben sie geschrien: ›Nach außen heuchelst du Frieden, und im eigenen Haus bist du ein Mörder!‹ Erinnerst du dich an die Geschichte, die man ihm nachsagt, daß einmal, vor hundert Jahren, als er noch jünger gewesen ist, eine Kokotte in der Nacht gestorben sein soll, wo sie bei ihm war? Auf das haben sie nämlich damit auch anspielen wollen, sagt man jetzt. Und das alles ist bloß wegen diesem dummen Beschluß geschehn, daß man sich für seine eigenen Ideen töten lassen soll, aber ja nicht für fremde; wegen einem Beschluß also, den es gar nicht gibt, weil ich seine Protokollierung verhindert hab'! Aber anscheinend hat er sich herumgesprochen, und weil wir ihn nicht zugelassen haben, verdächtigt man jetzt uns alle, daß wir Volksmörder sein wollen! So etwas ist vollkommen unvernünftig, aber es ist schließlich logisch!«

Ulrich fiel diese Unterscheidung auf.

Der General zuckte die Achseln. »Die geht auf den Kriegsminister selbst zurück. Nämlich schon wie er mich nach dem Krakeel bei Tuzzis hat zu sich rufen lassen, hat er zu mir gesagt: ›Lieber Stumm, du hättest es nicht so weit kommen lassen dürfen!‹ Ich habe ihm aber darauf, was mir nur einfiel, vom Zeitgeist erwidert und davon, daß der Zeitgeist eine Äußerung und anderseits auch wieder einen Halt braucht: mit einem Wort, ich habe ihm zu beweisen getrachtet, wie wichtig es ist, eine Zeitidee zu suchen und sich für sie zu begeistern, selbst wenn es vorderhand noch zwei Ideen sind, die einander widersprechen und sich gegenseitig in Wut treiben, so daß man unmöglich in jedem Augenblick wissen kann, was daraus entstehen wird. Doch er hat mir erwidert: ›Lieber Stumm, du bist ein Philosoph! Ein General aber muß wissen! Wenn du eine Brigade in ein Rencontre-Gefecht führst, vertraut dir der Feind auch nicht an, was er vorhat und wie stark er ist!‹ Und danach hat er mir ein für allemal die größte Zurückhaltung anbefohlen.« – Stumm unterbrach seine Erzählung nur, um einen neuen Vorrat an Atem zu schöpfen, und fuhr fort: »Darum habe ich mich, wie dann auch noch die Geschichte mit dem Leinsdorf dazugekommen ist, gleich selbst beim Minister melden lassen; denn ich habe vorhergesehen, daß man wieder der Parallelaktion schuld geben wird, und habe dem die Spitze abbrechen wollen. ›Exzellenz!‹ habe ich begonnen. ›Es ist unvernünftig gewesen, was das Volk dort getan hat, aber das hätte man wissen können, denn es ist immer so. Ich rechne darum in einem solchen Fall nicht mit der Vernunft, sondern mit Leidenschaften, Einbildungen, Schlagworten und ähnlichem. Aber abgesehen davon, hätte auch das nichts genutzt, denn Seine Erlaucht ist ein eigensinniger und schwer zu beeinflussender alter Herr –‹. So ungefähr habe ich also gesprochen, und der Kriegsminister hat mich auch die ganze Zeit still angehört und hat genickt. Aber entweder hat er selbst vergessen gehabt, was er mir das Mal zuvor vorgehalten hat, oder er ist scheinbar sehr grantig gewesen, denn plötzlich hat er erwidert: ›Du bist eben doch ein Philosoph, Stumm! Mich interessiert weder Seine Erlaucht noch das Volk; aber du sagst bald Vernunft, bald Logik, so als ob das ein und dasselbe wäre, und ich muß dich aufmerksam machen, daß es nicht ein und dasselbe ist! Vernunft kann ein Zivilist haben, und braucht sie auch nicht zu haben. Aber das, womit man der Vernunft begegnen muß und was ich darum von meinen Generalen verlangen muß, ist Logik. Das gewöhnliche Volk hat keine Logik, aber es muß sie über sich spüren!‹ Und damit ist die Unterredung beendet gewesen« schloß Stumm von Bordwehr.

»Ich verstehe das zwar nicht im mindesten, aber es kommt mir vor, daß dein Zweithöchster Kriegsherr im ganzen nicht ungnädig mit dir umgeht« bemerkte Ulrich.

Sie wandelten die Gartenwege auf und ab, und Stumm machte jetzt einige Schritte, ohne zu erwidern, blieb dann aber so heftig stehn, daß der Kies unter seinen Sohlen knirschte. »Das verstehst du nicht?!« rief er aus und fügte hinzu: »Zuerst habe ich es auch nicht verstanden. Aber nach und nach ist mir die ganze Tragweite aufgegangen, warum Seine Exzellenz, der Herr Kriegsminister, recht hat! Und warum hat er recht?« fragte er unversöhnlich. »Weil der Kriegsminister immer recht hat! Ich kann, wenn es bei Diotima einen Skandal gibt, nicht vor ihm weggehen, und ich kann auch nicht in die Zukunft von Böhmen blicken; es ist unvernünftig, das von mir zu verlangen! Und ich darf auch nicht, wie in dem Falle Leinsdorf, für etwas in Ungnade fallen, womit ich so wenig zu tun habe wie mit der Geburt meiner seligen Großmutter! Aber trotzdem hat der Kriegsminister, der mir das alles zumutet, recht, weil der Vorgesetzte immer recht hat: das ist nämlich eine Banalität, und auch keine! Verstehst du es jetzt?«

»Nein« sagte Ulrich.

»Aber schau,« beschwor ihn Stumm »du willst mir bloß Schwierigkeiten machen, weil du dich unabhängig fühlst oder weil du ein Rechtsgefühl hast oder aus solchen Gründen, und gibst nicht zu, daß es sich hier um etwas Ernsteres handelt! Aber wirklich erinnerst du dich ganz gut; denn beim Militär hat man doch auch dir seinerzeit bei jeder Gelegenheit gesagt: ein Offizier muß logisch denken können! Logik ist ja gerade das, was in unseren Augen das Militär vom Zivil unterscheidet. Aber meint man damit Vernunft? Nein. Vernunft hat der Feldrabbiner oder der Feldkurat oder der Herr vom Kriegswissenschaftlichen Archiv. Aber Logik ist nicht Vernunft. Logik heißt: handle unter allen Umständen ehrenvoll, aber konsequent, rücksichtslos und ohne Gefühl; und laß dich durch nichts irre machen! Denn die Welt wird nicht von der Vernunft regiert, sondern muß mit eiserner Logik beherrscht werden, wenn auch auf ihr, seit sie besteht, geredet wird! – Das ist es also, was mir der Kriegsminister zu verstehen gegeben hat; und du wirst einräumen, daß es in mir nicht auf den unfruchtbarsten Boden gefallen ist, denn es ist ja nichts als die alte, bewährte Offiziersmentalität. Ich habe seither wieder etwas mehr davon in mir; und du wirst es auch nicht leugnen können: Wir müssen schlagfertig sein, bevor wir alle anfangen, vom Ewigen Frieden zu sprechen; wir müssen zuerst unsere Versäumnisse und Schwächen gutmachen, damit wir dann bei der allgemeinen Verbrüderung nicht im Nachteil sind. Und unser Geist ist nicht schlagfertig! Er ist überhaupt nie fertig! Der Zivilgeist ist ein bedeutsames Hin und Her, ein Empor und Hinab, und du hast ihn einmal den tausendjährigen Glaubenskrieg genannt: aber davon können wir uns nicht ruinieren lassen! Es muß also jemand da sein, der, wie man beim Militär sagt, Initiative hat und die Führung übernimmt, und dazu ist der Vorgesetzte berufen: Das sehe ich jetzt selbst ein; und ich bin nicht ganz sicher, ob ich früher, in meiner Teilnahme für alle geistigen Bestrebungen, nicht doch manchmal zu weit hingerissen worden bin.«

Ulrich fragte: »Und was wäre geschehn, wenn du das nicht eingesehen hättest? Hätte man dir den Zylinder geschickt?«

»Nein, das nicht« berichtigte Stumm. »Natürlich vorausgesetzt, daß ich es nicht auch am militärischen Gefühl für die Kräfteverhältnisse fehlen lasse. Aber eine Landwehrbrigade in Wladischmirschowitz oder in Knobljoluka hätten sie mir verliehen, statt daß ich wie bisher am Kreuzungspunkt soldatischer Macht und ziviler Erleuchtung sitze und der uns allen gemeinsamen Kultur vielleicht doch noch etwas nützen kann!«

Sie hatten nun die Wege zwischen dem Haus und der Ausfahrt, in deren Nähe der Wagen wartete, schon einigemal zurückgelegt, und auch diesmal bog der General wieder ab, ehe sie ans Gitter gelangten. »Du mißtraust mir« beklagte er sich: »du hast mich nicht ein einzigesmal gefragt, was gar erst geschehen ist, wie auf einmal der Friedenskongreß da war!«

»Also, was ist geschehen? Der Kriegsminister hat dich wieder rufen lassen, und was hat er gesagt –?«

»Nein! Nichts hat er gesagt! Ich habe acht Tage darauf gewartet: aber nichts mehr hat er gesagt!« berichtigte der andere. Und nach einem Augenblick des Verstummens konnte er es nicht mehr bei sich behalten und verkündete: »Aber das Referat ›D‹ haben sie mir da abgenommen!«

»Was ist das Referat ›D‹?« fragte Ulrich, obwohl es ihm ahnte.

»Referat ›Diotima‹ natürlich« gab Stumm mit schmerzlichem Vergnügen zur Antwort. »In einem Ministerium wird doch für jede größere Frage ein Referat eingerichtet, und so hat das auch geschehen müssen, wie Diotima ihre Hauskongresse zur Ermittlung einer patriotischen Idee begonnen hat und durch die lebhafte Anteilnahme des Arnheim unsere Aufmerksamkeit erregt worden ist. Dieses Referat ist mir zugeteilt worden, wie du wohl bemerkt haben wirst, und da bin ich eben auch gefragt worden, wie man es benennen soll; denn schließlich kann man so etwas doch nicht einfach einreihen wie ein Medikamentendepot oder einen Intendanzkurs, und der Name Tuzzi hat aus interministeriellen Rücksichten nicht genannt werden dürfen. Mir selbst ist aber auch nichts Bezeichnendes eingefallen, und darum habe ich, damit ich nicht zuviel und nicht zuwenig sage, schließlich vorgeschlagen, es Referat ›D‹ zu nennen; ›D‹, das ist für mich Diotima gewesen, aber das hat niemand gewußt, und für die andern hat es doch ganz hervorragend echt geklungen, wie der Name eines Dienstbuches, wenn nicht gar wie ein nur dem Generalstab zugängliches Geheimnis. Das ist eine meiner besten Ideen gewesen!« schloß Stumm und fügte seufzend bei: »Damals habe ich eben noch Ideen haben dürfen!«

Er schien sich aber nicht genug ermuntert zu fühlen, und als Ulrich – dessen weltrückfällige Laune beinahe schon verbraucht war, zumindest ihren Mundvorrat an Gesprächigkeit fast aufgezehrt hatte – jetzt nach einem anerkennenden Lächeln in Schweigen verfiel, beklagte sich Stumm von neuem. »Du traust mir nicht. Du hältst mich nach dem, was ich gesagt hab', für einen Militaristen. Aber, auf Ehrenwort, ich wehre mich dagegen, einer zu sein, und will nicht ohneweiters fahren lassen, woran ich so lange geglaubt habe! Diese großartigen Ideen machen den Soldaten doch erst zum Menschen: Ich sage dir, Freund, wenn ich daran denke, komme ich mir wie ein Witwer vor, dem seine bessere Hälfte in den Tod vorangegangen ist!« Er ereiferte sich noch einmal. »Die Republik der Geister ist natürlich gerade so unordentlich wie eine jede Republik; aber wie glücklich macht allein schon die große Idee, daß keiner die Weisheit allein gepachtet hat und daß es eine Menge Ideen gibt, die man – vielleicht gerade wegen der mangelnden Ordnung, die unter ihnen herrscht! – überhaupt noch nicht gefunden hat! Für das Militär bin ich damit ein Neuerer gewesen! Sie haben zwar im Generalstab mich und mein Referat ›D‹ wegen meiner wechselvollen Anregungen den ›Mobilen Beleuchtungszug‹ geheißen, aber auch sie haben von der Fülle, die ich ausgestreut habe, ganz gern genossen!«

»Und das ist alles aus?«

»Es wäre nicht unbedingt aus; aber ich selbst habe mein Vertrauen in den Geist teilweise eingebüßt!« grollte Stumm, Trost fordernd.

»Da tust du recht daran« bemerkte Ulrich trocken.

»Das sagst jetzt auch du?!«

»Ich habe es immer gesagt. Ich habe dich seit je gewarnt, früher als der Minister. Geist eignet sich nur in beschränktem Maße zum Regieren.«

Stumm wollte die Belehrung zurückweisen, darum versicherte er: »Das ist immer auch meine Meinung gewesen!«

Ulrich fuhr fort: »Der Geist ist ins Leben verflochten wie in ein Rad, das er treibt und von dem er gerädert wird.«

Stumm ließ ihn aber nicht weiter kommen. »Wenn du vermuten solltest, daß für mich solche äußere Umstände bestimmend gewesen sind,« unterbrach er ihn »so würdest du mich aber erniedrigen! Es handelt sich auch um eine geistige Läuterung! Das Referat ›D‹ ist mir außerdem in allen Ehren abgenommen worden. Der Minister hat mich rufen lassen, um mir selbst mitzuteilen, daß es notwendig ist, weil der Chef des Generalstabs eine persönliche Berichterstattung über den Weltfriedenskongreß verlangt; und darum haben sie gleich das Ganze aus dem Militärbildungswesen herausgenommen und der Nachrichtenabteilung des Evidenzbüros angegliedert –«

»Der Spionage-Abteilung?!« warf Ulrich ein, nun von neuem belebt.

»Wem denn sonst!? Wer nicht weiß, was er selbst will, muß wenigstens wissen, was die anderen wollen! Und, ich bitte dich, was soll der Generalstab auf einem Weltfriedenskongreß wollen? Ihn behindern, das wäre barbarisch, und ihn pazifistisch fördern, das wäre unmilitärisch! Also beobachten sie ihn. Wer hat gesagt: ›Bereitschaft ist alles‹? Na, egal, jedenfalls ist es jemand gewesen, der vom Militär etwas verstanden hat –« Stumm hatte seinen Kummer vergessen. Er drehte sich auf den Beinen hin und her und versuchte, mit der Scheide des Säbels eine Blume zu köpfen. »Ich fürchte ja bloß, daß es ihnen zu schwer sein wird und daß sie mich noch kniefällig zurückholen werden, damit ich mein Referat wieder selbst übernehme!« plauderte er. »Schließlich wissen wir doch, du und ich, mit unserer fast schon einjährigen Erfahrung, wie sich so ein Ideenkongreß in Beweise und Gegenbeweise zerspaltet! Glaubst du überhaupt daran, daß – also jetzt abgesehen von den besonderen Schwierigkeiten des Regierens! – eine Ordnung sozusagen nur vom Geiste ausgehen kann?«

Er hatte jetzt auch seine Beschäftigung mit den Blumen eingestellt und sah mit gefalteter Stirn, die Säbelscheide in der Hand haltend, seinem Freunde eindringlich ins Gesicht.

Dieser lächelte ihn an und schwieg.

Stumm ließ den Säbel fallen, weil er die Fingerspitzen beider in weißen Handschuhen steckenden Hände zu einer delikaten Begriffsbestimmung brauchte: »Du mußt mich richtig verstehn, wenn ich zwischen Geist und Logik unterscheide. Logik ist Ordnung. Und Ordnung muß sein! Das ist der Grundsatz des Offiziers, und ihm beuge ich mich! Auf Grund welcher Ideen aber Ordnung gemacht wird, das ist egal; das ist Geist – oder wie es der Kriegsminister etwas altmodisch ausgedrückt hat, Vernunft – und das ist nicht Sache des Offiziers. Aber der Offizier mißtraut der Fähigkeit des Zivils, daß es von selbst vernünftig wird, auf Grund welcher Ideen es das auch immer versucht. Denn ganz gleich, welchen Geist es wann immer gegeben hat, immer ist am Ende ein Krieg daraus entstanden!«

So erläuterte Stumm seine neuen Einsichten und Zweifel, und Ulrich faßte das unwillkürlich in eine Anspielung auf einen bekannten Ausspruch zusammen, indem er fragte: »Du möchtest also eigentlich sagen, daß der Krieg ein Element der von Gott eingesetzten Weltordnung ist?«

»Da redest du aber schon zu geistig!« pflichtete Stumm wohl bei, doch mit Vorbehalt. »Ich frage mich bloß schlicht, ob der Geist nicht einfach entbehrlich ist. Denn wenn ich den Menschen mit Sporen und Zaum behandeln soll wie ein Stück Vieh, dann muß ich auch ein Stück Vieh in mir tragen, weil ein wirklich guter Reiter dem Roß nähersteht als beispielsweise der Rechtsphilosophie! Die Preußen nennen das den Schweinehund, den jeder in sich trägt, und bezwingen ihn mit einem spartanischen Geist. Als österreichischer General möchte ich aber lieber sagen: Je besser, schöner und geordneter ein Staat ist, desto weniger braucht man darin den Geist, und in einem vollkommenen Staat braucht man ihn überhaupt nicht! Das halte ich für ein sehr schwieriges Paradoxon! Übrigens von wem ist das, was du gesagt hast? Ist das von jemandem?«

»Das ist von Moltke. Er hat gesagt, daß sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut, Entsagung, Pflichttreue, Opferwilligkeit, erst im Krieg entwickeln und daß die Welt ohne den Krieg in dumpfem Materialismus versumpfen müßte.«

»Schau!« rief Stumm aus. »Auch interessant! Da hat er schon etwas gesagt, was ich mir ebenfalls manchmal denke!«

»Aber Moltke sagt in einem andern Brief an den gleichen Menschen, fast in demselben Atem tut er es also, daß selbst ein siegreicher Krieg ein nationales Unglück ist« gab Ulrich zu bedenken.

»Siehst du, da hat ihn der Geist gezwickt!« versetzte Stumm überzeugt. »Ich habe nämlich nie eine Zeile von ihm gelesen, er ist mir immer viel zu militärisch vorgekommen. Und du kannst mir wirklich glauben, daß ich immer ein Antimilitarist gewesen bin. Ich habe mein Leben lang gedacht: Kein Mensch glaubt heutzutage mehr an einen Krieg, man macht sich damit nur lächerlich. Und – ich möchte nicht, daß du glaubst, ich habe mich geändert, weil ich jetzt anders bin!« Er hatte den Wagen herbeigewinkt und den Fuß schon aufs Trittbrett gesetzt, zögerte aber und sah Ulrich nötigend an. »Ich bin mir selbst treu geblieben!« fuhr er fort. »Aber wenn ich den zivilen Geist früher mit den Gefühlen eines jungen Mädchens geliebt habe, liebe ich ihn jetzt, wenn ich so sagen darf, mehr wie eine reife Frau: Er ist kein Ideal, er läßt sich nicht einmal dahin bringen, daß er mit sich selbst eines Sinnes wird. Darum habe ich dir – nicht erst heute, sondern schon lange – gesagt, daß man mit den Menschen sowohl in Güte wie auch mit starker Hand verfahren muß, man muß sie also lieben und kujonieren, damit es zu etwas Rechtem kommt. Und das ist schließlich nichts als die überparteiliche militärische Gesinnung, die den Soldaten auszeichnen soll. Ich beanspruche kein persönliches Verdienst daran, aber ich will dir zeigen, daß sie schon früher aus mir gesprochen hat!«

»Jetzt wirst du noch wiederholen, daß der Bürgerkrieg vom Jahre Sechsundsechzig daraus entstanden ist, daß sich alle Deutschen als Brüder erklärt haben« meinte Ulrich lächelnd.

»Ja, natürlich!« bestätigte Stumm. »Und jetzt erklären sich noch dazu alle Menschen als Brüder! Da muß ich mich doch fragen, was daraus entstehen wird! Es kommt ja so unerwartet, was wirklich kommt. Da haben wir fast ein Jahr lang nachgedacht, und dann ist es auch ganz anders gekommen. Und so ist es anscheinend mein Verhängnis, daß mich der Geist, indem ich ihn aufmerksam durchforschte, wieder zum Militär zurückführt. Trotzdem, wenn du alles überlegst, was ich gesagt habe, so wirst du finden: Ich identifiziere mich also mit nichts; aber ich finde an allem etwas Wahres: das wäre fähr der Extrakt von dem, was wir gesprochen haben!«

Stumm wollte nach einem Blick auf die Uhr das Zeichen zur Abfahrt geben, denn sein Vergnügen, sich ausgesprochen zu haben, war so lebhaft, daß er alles übrige vergessen hatte. Aber Ulrich legte jetzt freundschaftlich Hand an ihn und sagte: »Du hast mir noch nicht mitgeteilt, was dein neues ›Auftragerl‹ ist.«

Stumm weigerte sich: »Heute reicht die Zeit nicht mehr. Ich muß fort.«

Aber Ulrich hatte ihn an einem der goldenen Knöpfe gefaßt, die auf seinem Bauch glänzten, und hielt so lange fest, bis sich Stumm ergab. Er angelte nach Ulrichs Kopf und zog das Ohr an seinen Mund. »Also unter strengster Diskretion,« flüsterte er: »Leinsdorf!«

»Ich nehme an, daß er beseitigt werden soll, du politischer Meuchelmörder!« flüsterte Ulrich wieder, aber so unbefangen, daß Stumm verletzt auf den Kutscher deutete. Sie richteten sich auf, und Ulrich trat vom Wagenschlag zurück. Sie zogen es jetzt vor, laut zu sprechen und bloß den Namen zu vermeiden. »Laß mich selbst nachdenken und versuchen,« bat Ulrich »ob ich noch irgend etwas von eurer Welt weiß: ›Er‹ hat den letzten Kultusminister gestürzt, und seit der neuen ihm widerfahrenen Beleidigung muß man darauf gefaßt sein, daß ›Er‹ es dem jetzigen auch so macht. Das wäre aber augenblicklich eine unangenehme Störung, und dem muß man vorbaun. Und aus irgendeinem Grund hält ›Er‹ halt immer an seinen Überzeugungen fest: daß die Deutschen die Gefahr für den Staat sind, daß gerade der Baron Wisnietzky, den sie nicht leiden können, der geeignete Mann ist, bei ihnen Propaganda zu machen, daß die Regierung nicht hätte ihren Kurs wechseln sollen, und so weiter –«

Stumm hätte Ulrich unterbrechen können, aber er hörte freiwillig zu, und jetzt mischte er sich sogar selbst ein. »Schließlich ist unter ihm in der Aktion doch auch die ›Parole der Tat‹ entstanden, und während alle andern bloß sagen: das ist ein neuer Geist!, sagt ›Er‹ jedem, der es ungern hört: es muß etwas geschehn!«

»Und stürzen kann man ihn nicht, er ist eine Privatperson. Und die Parallelaktion hat man ihm ohnehin schon unter dem Sattel weggeschossen« meinte Ulrich.

»Also ist jetzt die Gefahr entstanden, daß er etwas Neues anfangt!« ergänzte es der General.

»Aber was kannst denn du dagegen tun?!« fragte Ulrich neugierig.

»Gott! Ich hab' halt die Aufgabe bekommen, ihn ein bissel abzulenken und zu beschäftigen, und wenn du willst, auch ein bissel zu beaufsichtigen –«

»Also: ein Referat ›L‹? Du trügerisches Himmelblau!«

»Unter uns kannst du es ja so nennen, aber einen dienstlichen Namen hat es natürlich nicht. Ich habe einfach den Auftrag, mich dem Leinsdorf« – diesmal wollte Stumm den Namen doch auch mitgenießen, flüsterte ihn aber wieder – »an den Hals zu setzen wie eine Zecke: das sind die eigenen huldvollen Worte Seiner Exzellenz!«

»Aber er muß dir doch auch ein Ziel gegeben haben, das du erreichen sollst?«

Der General lachte. »Reden! Ich soll mit ihm reden. Auf alles eingehn, was er sich denkt, und so viel darüber reden, daß er sich womöglich auf diese Weise verausgabt und nichts Unvorhergesehenes tut. ›Saug ihn aus‹ hat Seine Exzellenz gesagt und hat das einen sehr ehrenvollen Vertrauensbeweis und Auftrag genannt. Und wenn du mich noch fragen solltest, ob das alles ist, so kann ich dir nur erwidern: es ist sehr viel! Diese alte Erlaucht ist ungeheuer gebildet und eigentlich ein hervorragend interessanter Mensch!« Er hatte dem Kutscher das Zeichen zum Losfahren gegeben und rief zurück: »Alles andere das nächste Mal! Ich rechne auf dich!«

Und erst als der Wagen davonrollte, kam Ulrich der Einfall, daß Stumm vielleicht auch die Absicht haben könnte, ihn selbst unschädlich zu machen, den man früher verdächtigt hatte, daß er den Geist des Grafen Leinsdorf einmal noch zu einem ganz ungewöhnlichen Einfall verleiten könnte.


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