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Agathe findet Ulrichs Tagebuch
Dieweil Ulrich dem Fortgehenden selbst das Geleite gab, führte Agathe, dem inneren Tadel zum Trotz, etwas aus, das sie sich blitzartig vorgenommen hatte. In einer Lade des Arbeitstisches waren ihr schon vor der Unterbrechung durch Stumm lose liegende Papiere aufgefallen, und dann ein zweites Mal in seiner Gegenwart; und zwar beidemal durch eine unterdrückte Bewegung ihres Bruders, die den Eindruck hervorgerufen hatte, er wolle sich im Gespräch auf diese Papiere berufen, könne sich aber nicht dazu entschließen, ja verwehre es sich mit Vorsatz. Ihre Vertrautheit mit ihm hatte sie das mehr erahnen als begründet erraten lassen; und auf die gleiche Weise verstand sie auch, daß sich das Verhohlene auf sie und ihn beziehen müsse. Darum öffnete sie die Lade, nachdem er kaum das Zimmer verlassen hatte, und tat dies, mochte es berechtigt sein oder nicht, in einem Gefühl, das rasche Entscheidungen fordert und moralische Bedenken nicht zuläßt. Aber die vielfach durchstrichenen, lose zusammenhängenden und nicht immer leicht zu entziffernden Aufzeichnungen, die ihr in die Hand fielen, zwangen ihrer leidenschaftlichen Neugierde alsbald ein langsames Zeitmaß auf.
»Ist Liebe ein Gefühl? Diese Frage mag im ersten Augenblick unsinnig wirken, so gewiß scheint es zu sein, daß die ganze Natur der Liebe ein Fühlen sei; umso mehr überrascht die richtige Antwort: denn das Gefühl ist wahrhaftig das wenigste an der Liebe! Bloß als solches betrachtet, ist sie – kaum so heftig und mächtig und jedenfalls weniger deutlich ausgeprägt als ein Zahnschmerz.«
Der zweite, ebenso wunderliche Vermerk lautete: »Ein Mann vermag seinen Hund und seine Frau zu lieben. Ein Kind kann einen Hund zärtlicher lieben als ein Mann seine Frau. Jemand liebt seinen Beruf, ein anderer die Politik. Am meisten lieben wir wohl allgemeine Zustände; ich meine – wenn wir sie nicht gerade hassen – jenes undurchschaubare Zusammenwirken von ihnen, das ich ›das Stallgefühl‹ nennen mag: wir sind erfreut in unserem Leben zu Hause wie ein Pferd in seinem Stall!
Aber was bedeutet es, alles dieses, das so verschieden ist, mit dem gleichen Wort ›lieben‹ zu verbinden?! Da hat sich in meinem Kopf, neben Zweifel und Spott, ein uralter Gedanke niedergelassen: Alles in der Welt ist Liebe! Liebe ist das sanfte, göttliche, von Asche verdeckte, aber unauslöschliche Wesen der Welt! Ich wüßte nicht zu sagen, was ich unter ›Wesen‹ verstehe; aber wenn ich mich ohne Sorge dem ganzen Gedanken überlasse, empfinde ich ihn mit einer merkwürdig natürlichen Gewißheit. Wenigstens für Augenblicke.«
Agathe errötete, denn die nächsten Eintragungen begannen mit ihrem Namen. »Agathe hat mir einmal Bibelstellen gezeigt; ich erinnere mich noch ungefähr an den Wortlaut und habe mir vorgenommen, ihn aufzuschreiben: ›Alles, was in der Liebe geschieht, geschieht in Gott. Denn Gott ist Liebe.‹ Und eine zweite sagte: ›Die Liebe ist von Gott, und wer Gott liebt, der ist von Gott geboren.‹ Diese beiden Stellen stehen offensichtlich miteinander in Widerspruch: das eine Mal kommt die Liebe von Gott, das andre Mal ist sie Gott selbst!
Die Versuche, das Verhältnis der ›Liebe‹ zur Welt auszudrücken, scheinen also selbst den Erleuchteten nicht wenig Schwierigkeiten zu machen; wie sollte da nicht erst der unbelehrte Verstand versagen! Daß ich sie das Wesen der Welt genannt habe, ist nichts als Ausrede gewesen: es läßt all die Wahl offen, daß ich sage, diese Feder und dieser Tintennapf, mit denen ich schreibe, beständen in Wahrheit aus Liebe oder sie täten es in Wirklichkeit. Denn wie in Wirklichkeit? Bestünden sie dann aus Liebe, oder wären sie deren Folge, ausgestaltende Erscheinung oder Andeutung? Sind sie selbst, schon sie selbst, Liebe, oder ist das erst ihre Gesamtheit? Sollen sie von Natur Liebe sein, oder ist von der Wirklichkeit einer Übernatur die Rede? Und wie verhält es sich mit dem: in Wahrheit? Ist das eine Wahrheit für den geschärfteren Verstand oder eine für den begnadeten Unverstand? Ist es die Wahrheit des Denkens oder eine unvollständige symbolische Beziehung, die erst in der um Gott versammelten Universalität der Geistesgeschehnisse ihre Bedeutung voll enthüllen wird? Was davon habe ich gesagt? Ungefähr nichts und alles!
Ebensogut hätte ich von der Liebe auch sagen können, daß sie die göttliche Vernunft, der neuplatonische Logos sei. Ebensogut anderes: Liebe ist der Schoß der Welt; der sanfte Schoß des sich selbst nicht begreifenden Geschehens. Und abermals verschieden: O Meer der Liebe, von dem nur der Ertrinkende, nicht der Darüberfahrende weiß! Alle diese hinweisenden Rufe fristen ihre Bedeutung bloß davon, daß einer so wenig Wort hält wie der andere.
Am ehrlichsten ist das Gefühl: wie winzig ist die Erde im Himmelsraum, und wie ist der Mensch, nichtiger als das kleinste Kind, auf Liebe angewiesen! Aber das ist nichts als der nackte Schrei nach ihr, und keine Spur von Antwort!
Doch darf ich vielleicht in dieser Weise sprechen, ohne meine Worte ins Leere überzutreiben: Es gibt einen Zustand in der Welt, dessen Anblick uns verstellt ist, den aber die Dinge manches Mal da oder dort freigeben, wenn wir uns selbst in einem auf besondere Art erregten Zustand befinden. Und nur in ihm erblicken wir, daß die Dinge ›aus Liebe‹ sind. Und nur in ihm erfassen wir auch, was es bedeutet. Und nur er ist dann wirklich, und wir wären dann wahr.
Das wäre eine Beschreibung, von der ich nichts zurücknehmen müßte. Aber ich habe freilich auch nichts, es zu ihr zuzufügen!«
Agathe staunte. Ulrich hielt sich in diesen heimlichen Aufzeichnungen viel weniger als sonst zurück. Und obwohl sie verstand, daß er sich das auch vor sich selbst nur mit dem Vorbehalt des Heimlichen gestatte, meinte sie ihn doch dabei so vor sich zu sehen, daß er unschlüssig und gerührt die Arme gegen etwas öffne.
Die Aufzeichnungen fuhren nun fort: »Auch das ist ein Einfall, auf den beinahe die Vernunft selbst verfallen könnte, allerdings nur eine etwas aus ihrer ruhenden Lage geratene Vernunft: sich den Alliebenden als den Ewigen Künstler vorzustellen. Er liebt die Schöpfung, solange er sie schafft, von den fertigen Teilen wendet sich seine Liebe aber ab. Denn der Künstler muß auch das Hassenswerteste lieben, um es bilden zu können, aber was er bereits geschaffen hat, mag es auch gut sein, erkaltet ihm; es wird so liebeverlassen, daß er sich darin selbst kaum noch versteht, und die Augenblicke sind selten und unberechenbar, wo seine Liebe wiederkehrt und sich an dem weidet, was sie getan hat. Und so wäre denn auch zu denken: Was über uns waltet, liebt, was es schafft; aber dem fertigen Teil der Schöpfung entzieht und nähert sich seine Liebe in langem Abfließen und kurzem Wiederanschwellen. Diese Vorstellung paßt sich der Tatsache an, daß Seelen und Dinge der Welt wie Tote sind, die manchmal für Sekunden auferweckt werden.«
Dann kamen flüchtig einige andere Eintragungen, die wirr aussahen, als wären sie zum Versuch gemacht.
»Ein Löwe vor dem Morgenhimmel! Ein Nashorn im Mondlicht! Du hast die Wahl zwischen Liebesfeuer und Gewehrfeuer. Also sind zumindest zwei Grundzustände anzunehmen: Liebe und Gewalt. Und es ist ohne Zweifel die Gewalt, was die Welt im Gange hält und vor dem Einschlafen bewahrt, nicht die Liebe!
Hier ließe sich freilich auch die Annahme einflechten, daß die Welt sündig geworden sei. Vorher Liebe und Paradies. Das hieße: die fertige Welt Sünde! Die mögliche: Liebe!
Andere verdächtige Frage: Die Philosophen stellen sich Gott als Philosophen vor, als den reinen Geist; sollte es dann nicht den Offizieren naheliegen, sich ihn als Offizier vorzustellen? Aber ich, Mathematiker, stelle mir das Allwesen als Liebe vor? Wie bin ich eigentlich dahin gekommen?
Und wie sollten wir denn auch gleich an einem der intimsten Erlebnisse des Ewigen Künstlers teilhaben!«
Das Blatt brach ab. Aber danach bedeckte sich Agathes Gesicht von neuem mit Röte, als sie, ohne die Augen zu heben, das nächste nahm und weiterlas:
»Wir hatten in letzter Zeit oft ein merkwürdiges Erlebnis, Agathe und ich! Wenn wir unsere Ausgänge in die Stadt unternahmen. In dem besonders schönen Wetter sieht die Welt sehr fröhlich und zusammengehörig aus, so daß man gar nicht dessen acht hat, wie verschieden sie überall nach Alter und Wesen zusammengesetzt ist. Alles steht und läuft mit größter Natürlichkeit. Und doch liegt etwas, das merkwürdig in die Öde geht, etwas wie ein verfehlter Liebesantrag, oder eine ähnliche Bloßstellung, in einem solchen scheinbar unwiderleglichen Gegenwartszustand, sobald man nicht bedingungslos an ihm teilnimmt.
Wir befinden uns unterwegs durch die veilchenblauen Gassen der Stadt, die oben, wo sie sich dem Licht öffnen, wie Feuer brennen. Oder wir treten aus dem plastischen Blau auf einen von der Sonne frei übergossenen Platz hinaus; dann stehen seine Häuser zwar zurückgenommen und gleichsam an die Wand gestellt da, aber nicht weniger ausdrücklich, und so, als hätte sie jemand mit den feinen Linien eines Grabstichels, die alles überdeutlich machen, in eine farbige Helligkeit geritzt. Und wir wissen in einem solchen Augenblick nicht, ob uns alle diese von sich selbst erfüllte Schönheit aufs tiefste erregt oder überhaupt nichts angeht. Beides ist der Fall. Sie steht auf einer messerscharfen Schneide zwischen Lust und Trauer.
Aber hat der Anblick der Schönheit nicht überhaupt diese Wirkung, daß er die Trauer des gewöhnlichen Lebens aufhellt und seine Lustigkeit verdunkelt? Es scheint, daß die Schönheit einer Welt angehört, in deren Tiefe es weder Trauer noch Lustigkeit gibt. Vielleicht gibt es in dieser Welt sogar die Schönheit selbst nicht, sondern irgendeinen fast unbeschreiblichen heiteren Ernst, und ihr Name entsteht erst durch die Brechung seines namenlosen Glanzes in der gewöhnlichen Atmosphäre. Diese Welt suchen wir beide, Agathe und ich, ohne uns noch zu entscheiden; wir bewegen uns an ihren Grenzen entlang und kosten die tiefe Ausstrahlung mit Vorsicht dort, wo sie noch mit den kräftigen Lichtern des Alltags vermengt und kaum zu unterscheiden ist!«
Es machte den Eindruck, daß Ulrich durch seinen Einfall, von einem Ewigen Künstler zu sprechen, darauf gebracht worden war, die Frage nach der Schönheit in seine Betrachtung einzubeziehn, zumal da sie auch für ihren Teil die zwischen den Geschwistern entstandene Überempfindlichkeit ausdrückte. Zugleich hatte er aber die Denkart gewechselt. Er ging in dieser neuen Folge seiner Aufzeichnungen nicht mehr von der im Fluchtpunkt seiner Erlebnisse herrschenden Gedankendämmerung aus, sondern vom Vordergrund, der klarer war, aber an einigen Stellen, die er sich anmerkte, eigentlich überklar, und nun wieder für den Hintergrund beinahe durchlässig. So fuhr Ulrich denn fort. »Ich habe zu Agathe gesagt: ›Wahrscheinlich ist Schönheit nichts anderes als Geliebtwordensein.‹ Denn etwas lieben und es verschönen ist ein und dasselbe. Und seine Liebe zu verbreiten und andere ihre Schönheit finden zu machen ist auch ein und dasselbe. Darum kann alles schön werden, und alles Schöne wieder häßlich werden; und es wird beide Male nicht minder von uns abhängen, als uns von außen bezwingen, weil die Liebe keine Kausalität hat und keine Rechtsfolge kennt. Wieviel ich davon gesagt habe, dessen bin ich nicht sicher, aber es ist damit auch dieser andere Eindruck erklärt, den wir auf unseren Ausgängen so leicht empfangen: Wir schauen uns die Menschen an und wollen an der Freude, die sie im Gesicht tragen, teilhaben, ja wir fühlen uns fast gezwungen, an ihr teilzunehmen; aber es geht davon doch auch ein Unbehagen und beinahe eine unheimliche Abstoßung aus. Auch von den Häusern, Kleidern und allem, was sie für sich geschaffen haben, geht das aus. Als ich mir die Erklärung überlegte, bin ich auf einen weiteren Gedankenkreis gebracht worden und durch ihn wieder zu meinen ersten, scheinbar so phantastischen Notizen zurück.
Eine Stadt wie die unsere, schön und alt, mit ihrem bauherrlichen Gepräge, das im Lauf der Zeiten aus wechselndem Geschmack hervorgegangen ist, bedeutet ein einziges großes Zeugnis der Fähigkeit zu lieben und der Unfähigkeit, es dauernd zu tun. Die stolze Folge ihrer Bauten stellt nicht nur eine große Geschichte dar, sondern auch einen dauernden Wechsel in der Richtung der Gesinnung. Sie ist, auf diese Weise betrachtet, eine zur Steinkette gewordene Wankelmütigkeit, die sich alle Vierteljahrhunderte auf eine andere Weise vermessen hat, für ewige Zeiten recht zu behalten. Ihre stumme Beredsamkeit ist die toter Lippen, und je zauberhafter sie verführt, umso heftiger muß das im tiefsten Augenblick des Gefallens und der Enteignung blinde Abwehr und Schreck hervorrufen.
›Es ist lächerlich und verführerisch‹ hat mir Agathe darauf erwidert. ›Dann müssen also die Schwalbenschwanzröcke dieser Bummler oder die sonderbaren Kappen, die von den Offizieren wie Töpfe auf dem Kopf getragen werden, schön sein, denn sie werden von ihren Besitzern mit großer Entschiedenheit geliebt und zur Liebe ausgestellt und erfreuen sich der Gunst der Frauen!‹ – Wir haben auch ein Spiel daraus gemacht. In einer Art lustiger Übelgelauntheit haben wir es ausgekostet und haben uns eine Weile auf Schritt und Tritt lebenswidersetzlich gefragt: Was will zum Beispiel jenes Rot dort auf dem Kleid, daß es so rot ist? Oder was tut dieses Blau und Gelb und Weiß auf den Kragen der Uniformen eigentlich? Und warum sind, in Gottes Namen gefragt, die Sonnenschirme der Damen rund, und nicht rechteckig? Wir haben uns gefragt, was der griechische Giebel des Parlaments mit seinen gespreizten Schenkeln wolle. ›Spagatmachen‹, wie es nur eine Tänzerin und ein Reißzirkel zustandebringen, oder klassische Schönheit verbreiten? Wenn man sich dergestalt in einen Vorzustand zurückversetzt, wo man ungerührt bleibt von den Empfindungen, und den Dingen nicht auf die Gefühle eingeht, die sie selbstgefällig erwarten, so zerstört man Treu und Glauben des Daseins. Es ist ähnlich, wie wenn du jemand, ohne seinen Appetit zu teilen, zusiehst, wie er stumm ißt: Du gewahrst plötzlich nur Schlingbewegungen, die keineswegs beneidenswert erscheinen.
Ich nenne das: Sich Der Meinung Des Lebens Verschließen. – Um es näher auszuführen, beginne ich wohl damit, daß wir ohne Zweifel im Leben das Feste so inständig suchen wie ein Landtier, das ins Wasser gefallen ist. Wir überschätzen darum sowohl die Bedeutung des Wissens, des Rechts und der Vernunft als auch die Notwendigkeit des Zwangs und der Gewalt. Vielleicht sollte ich nicht gerade überschätzen sagen; aber jedenfalls beruhen weitaus die meisten Äußerungen unseres Lebens auf geistiger Unsicherheit. Glaube, Vermutung, Annahme, Ahnung, Wunsch, Zweifel, Neigung, Forderung, Vorurteil, Überredung, Beispielnahme, persönliche Ansichten und andere Zustände der Halbgewißheit herrschen unter ihnen vor. Und weil das Meinen auf dieser Skala ungefähr in der Mitte zwischen Begründung und Willkür liegt, nehme ich seinen Namen für das Ganze. Ist das, was wir in Worten ausdrücken, wenn sie auch noch so großartig sind, meistens nur eine Meinung, so ist es das, was wir ohne Worte ausdrücken, immer.
Ich sage also: Unsere Wirklichkeit ist, soweit sie von uns abhängt, zum größten Teil nur eine Meinungsäußerung, obwohl wir ihr wunder was für eine Gewichtigkeit andichten. Wir mögen unserem Leben im Stein der Häuser einen bestimmten Ausdruck geben, es geschieht immer um einer Meinung willen. Wir mögen töten oder uns opfern, so handeln wir nur auf Grund einer Vermutung. Ich möchte beinahe sagen, daß alle unsere Leidenschaften nur Vermutungen sind; wir irren uns sehr oft in ihnen; wir können ihnen bloß aus Sehnsucht nach Entschiedenheit verfallen! Auch daß wir etwas aus ›freiem‹ Willen tun, setzt eigentlich voraus, daß es bloß auf Veranlassung einer Meinung geschieht. Seit einiger Zeit sind Agathe und ich empfindlich für ein gewisses Geistertreiben im Wirklichen. Jede Einzelheit des Ausdrucks unserer Umgebung, ›spricht uns an‹. Sie meint etwas. Sie zeigt, daß sie in einer keineswegs flüchtigen Absicht entstanden ist. Sie ist zwar nur eine Meinung, aber sie tritt wie eine Überzeugung auf. Sie ist bloß ein Einfall, tut aber, als wäre sie unerschütterlicher Wille. Zeiten und Jahrhunderte stehen mit aufgestemmten Beinen da, aber eine Stimme flüstert hinter ihnen: Unsinn! Noch nie hat die Stunde geschlagen, ist die Zeit gekommen! Es scheint Eigensinn zu sein, aber es läßt mich erst verstehen, was ich sehe, wenn ich dazu anmerke: Dieser Gegensatz zwischen der Selbstinbrunst, die allem von uns Geschaffenen in seiner Pracht die Brust vorwölbt, und dem heimlichen Zug des Verlassen- und Aufgegebenwerdens, der gleichfalls mit der ersten Minute beginnt, stimmt ganz und gar damit überein, daß ich alles bloß eine Meinung nenne. Wir erkennen uns dadurch in einer eigentümlichen Lage. Denn jede Meinung zeigt die gleiche doppelte Eigentümlichkeit: sie macht, so lange sie neu ist, unduldsam gegen jede, die ihr im Wege steht (wenn rote Sonnenschirme an der Zeit sind, sind blaue ›unmöglich‹ – etwas Ähnliches gilt aber auch von unseren Überzeugungen); doch ist es die zweite Eigentümlichkeit jeder Meinung, daß sie trotzdem ganz von selbst und ebenso sicher mit der Zeit preisgegeben wird, wenn sie nicht mehr neu ist. Ich habe einmal gesagt, die Wirklichkeit schaffe sich selbst ab. Es ließe sich nun auch so ausdrücken: Wenn der Mensch hauptsächlich nur Meinungen kundtut, so tut er sich niemals ganz und dauernd kund; wenn er sich aber niemals vollständig ausdrücken kann, so wird er es auf die verschiedenste Weise versuchen, und damit hat er dann eine Geschichte. Nur aus einer Schwäche hat er sie also, scheint mir; obwohl die Historiker begreiflicherweise die Fähigkeit, Geschichte zu machen, für eine besondere Auszeichnung halten!«
Ulrich schien hier etwas abgekommen zu sein, fuhr aber in dieser Richtung weiter fort: »Und dies ist anscheinend der Grund, warum ich das heute vormerken muß: Geschichte wird, Geschehen wird, sogar Kunst wird – aus einem Mangel an Glück. Ein solcher liegt aber nicht an den Umständen, also daß sie uns das Glück nicht erreichen ließen, sondern an unserem Gefühl. Unser Gefühl ist der Kreuzträger der Doppeleigenschaft: es duldet kein anderes neben sich und dauert selbst nicht aus. Dadurch erhält alles, was mit ihm verbunden ist, das Ansehen, für die Ewigkeit zu gelten, und alle haben wir trotzdem die Bestrebung, die Schöpfungen unseres Gefühls zu verlassen und unsere in ihnen ausgedrückte Meinung zu ändern. Denn ein Gefühl verändert sich in dem Augenblick, wo es dauert; es hat keine Dauer und Identität; es muß neu vollzogen werden. Gefühle sind nicht nur veränderlich und unbeständig – wofür sie wohl gelten –, sondern sie würden das erst recht in dem Augenblick, wo sie es nicht wären. Sie werden unecht, wenn sie dauern. Sie müssen immer von neuem entstehen, wenn sie anhalten sollen, und auch dabei werden sie andere. Ein Zorn, der fünf Tage anhielte, wäre kein Zorn mehr, sondern eine Geistesstörung; er verwandelt sich entweder in Verzeihung oder in Rachebereitschaft, und etwas Ähnliches vollzieht sich mit allen Gefühlen.
Unser Gefühl sucht an dem, was es gestaltet, seinen Halt und findet ihn immer für eine Weile. Aber Agathe und ich fühlen an unserer Umgebung die eingeschlossene Unheimlichkeit, das Auseinanderstreben des beisammen Befindlichen, den Widerruf im Ruf, die Wanderschaft der vermeinten festen Wände; wir sehen und hören das plötzlich. Es erscheint uns als Abenteuer und verdächtige Gesellschaft, ›in eine Zeit‹ geraten zu sein. Wir befinden uns im Zauberwald. Und obwohl wir ›unser‹ Gefühl, dieses andersartige, noch gar nicht übersehen, ja kaum kennen, leiden wir Angst um dieses Gefühl und möchten es festhalten. Wie aber hält man ein Gefühl fest? Wie könnte man auf der höchsten Stufe der Glückseligkeit verweilen, falls sich überhaupt zu ihr gelangen läßt? Im Grunde beschäftigt uns nur diese Frage. Wir ahnen ein Gefühl, das der Hinfälligkeit der übrigen entrückt ist. Es steht wie ein wunderbarer regloser Schatten im Fließenden vor uns. Aber müßte es nicht die Welt auf ihrem Wege anhalten, um bestehen zu können? Ich komme zu dem Schluß, daß es kein Gefühl sein kann in dem gleichen Sinn wie die übrigen.«
Und plötzlich schloß Ulrich: »So komme ich auch auf die Frage zurück: Ist Liebe ein Gefühl? Ich glaube nein. Liebe ist eine Ekstase. Und Gott selbst müßte sich, um die Welt dauernd lieben zu können, und mit der Liebe des Gott-Künstlers auch das schon Geschehene zu umfassen, dauernd in Ekstase befinden. Nur als ein solcher wäre er zu denken –«
Hier hatte er diese Aufzeichnungen abgebrochen.