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Zurück zur Wirklichkeit. Oder Der Tugut singt
Professor August Lindner sang ein Lied. Er wartete auf Agathe.
Ach, des Knaben Augen sind
Mir so schön und klar erschienen,
Und ein Etwas strahlt aus ihnen,
Das mein ganzes Herz gewinnt.
Blickt er doch mit diesen süßen
Augen nach den meinen hin!
Säh er dann sein Bild darin,
Würd er wohl mich liebend grüßen.
Und so geb ich ganz mich hin,
Seinen Augen nur zu dienen,
Denn ein Etwas strahlt aus ihnen,
Das mein ganzes Herz gewinnt.
Es war ursprünglich ein spanisches Lied. In Lindners Wohnung stand ein kleines Klavier aus Frau Professor Lindners Zeiten, das zuweilen der Aufgabe diente, die Bildung und Erziehung des Sohnes Peter abzurunden, weshalb dieser schon einige Saiten daraus entfernt hatte. Lindner selbst benutzte es niemals, es sei denn, daß er hie und da ein paar weihevolle Akkorde darauf anschlug; und obgleich er schon lange vor dem Tongerät auf und ab gegangen war, hatte er sich zu seinem ungewöhnlichen Versuch erst hinreißen lassen, nachdem er sich vorsichtig davon überzeugt hatte, daß sowohl seine Wirtschafterin als auch Peter aus dem Hause wären. Seine Stimme hatte ihm sehr wohlgefallen, sie war ein hoher, zum Gefühlsausdruck offenbar recht geeigneter Bariton; und nun hatte Lindner das Klavier nicht geschlossen, sondern stand, den Arm darauf gestützt, das Spielbein über das Standbein gekreuzt, überlegend daneben. Agathe hatte über eine Stunde Verspätung. Die Leere des Hauses, die einesteils davon, andernteils von seinen Anordnungen herrührte, kam ihm als schuldhafte Vorbereitung zu Bewußtsein.
Er hatte eine Seele gefunden, die er zu retten bemüht war, die den Eindruck hervorrief, sich ihm anzuvertrauen, und die von verwirrendem Reichtum war; und welchen Mann entzückte es nicht, ein kaum noch erwartetes weibliches Geschöpf zu finden, das er nach seinem Sinn erziehen könnte! Aber tiefe Töne des Mißbehagens mischten sich darein. Lindner hielt Pünktlichkeit für eine Gewissensforderung und stellte sie nicht niedriger als Vertragstreue und Ehrlichkeit; auch erschienen ihm Menschen ohne eine feste Zeiteinteilung krankhaft zerfahren, und zwangen sie vollends ihre ernsteren Mitmenschen dazu, Teile ihrer Zeit mit ihnen zu verlieren, so erachtete er sie ärger als Straßenräuber. Er nahm es dann als seine Pflicht in Anspruch, solchen Naturen höflich, aber unerbittlich Achtung davor beizubringen, daß seine Zeit nicht ihm, sondern seiner Tätigkeit gehöre; und weil Notlügen das eigene Gemüt schädigen, die Menschen aber ungleich sind, manche einflußreich und manche nicht, hatte er vielfältige Charakterübungen daraus gewonnen, so daß ihm davon nun eine Menge der kräftigsten und geschmeidigsten Merksprüche einfielen und die sanfte Erregung durch das Lied störten.
Immerhin hatte er seit seiner Studienzeit kein religiöses Lied mehr gesungen und genoß es mit bedachtsamem Schreck. »Welche südliche Naivität und welchen Liebreiz« dachte er »strahlen diese so weltlichen Verse aus! Wie entzückend und zart ist ihre Beziehung zu dem Knaben Jesu!« Er versuchte, ihre Unbefangenheit in seinem Inneren nachzuahmen, und kam zu dem Ergebnis: »Wüßte ich es nicht besser, so vermöchte ich jetzt zu glauben, in mir das keusche Hoffen eines Mädchens zu seinem Knaben hin zu vernehmen!« Man sollte also wohl sagen können, daß eine Frau, die solche Huldigungen herauf beschwöre, an das Edelste im Manne rühre, selbst ein edles Wesen sein müsse. Aber da lächelte Lindner unzufrieden und entschloß sich, den Deckel des Klaviers zu schließen. Sodann machte er mit den Armen eine seiner Bewegungen, die die Harmonie der Persönlichkeit fördern, und hielt wieder inne. Ein unangenehmer Gedanke war ihm dazwischen gekommen. »Sie hat kein Gefühl!« seufzte er hinter zusammengebissenen Zähnen. »Sie würde lachen!«
Er hatte in diesem Augenblick etwas in seinem Gesicht, das seine selige Mutter an den Knaben erinnert hätte, dem sie jeden Morgen vor dem Schulweg eine schöne große Schleife unter das Kinn band; man hätte dieses Etwas den völligen Mangel an männlicher Roheit nennen können. Dieser Mangel macht einen Knaben unter Knaben unmöglich. Auf der röhrenbeinig hohen, kraftlos großen Erscheinung saß das Haupt wie auf eine Lanze gespießt über der brüllenden Arena der Schulkameraden, die seine von Mutterhand geschaffene Masche verhöhnte; und in Angstträumen sah sich Professor Lindner jetzt noch manchmal so dastehn und für das Gute, Schöne und Wahre leiden. Aber gerade darum gab er auch niemals zu, daß die Roheit eine dem Manne unentbehrliche Eigenschaft sei, dem Kies vergleichbar, der in den Mörtel gemischt werden muß, um ihm Festigkeit zu leihen; und zumal seit er der Mann geworden, der zu sein er sich schmeichelte, sah er in jenem frühen Mangel bloß eine Bestätigung dafür, daß er geboren worden sei, die Welt, auch wenn in bescheidenem Maße, zu verbessern. Nun ist man ja wohl die Erklärung, daß die großen Redner aus den Zungenfehlern erstehn und die Helden aus der Schwäche, mit anderen Worten die Erklärung, daß unsere Natur immer erst eine Grube gräbt, wenn sie will, daß wir darüber einen Berg errichten, heute allgemein gewohnt; und weil die Halbwissenden und Halbwilden, von denen der Gang des Lebens vornehmlich bestimmt wird, schon bald jeden Stotterer als einen Demosthenes ausrufen, gilt es umso leichter als ein Zeichen für den guten geistigen Geschmack, daß man nur ja als die Hauptsache an einem Demosthenes das ursprüngliche Stottern erkenne. Doch ist es noch nicht gelungen, die Taten des Herakles darauf zurückzuführen, daß er ein schwächliches Kind gewesen wäre, die höchsten Leistungen im Schnellauf und Springen auf einen Plattfuß, und den Mut auf die Ängstlichkeit, und so muß wohl doch zugegeben werden, daß zu einer besonderen Begabung auch noch etwas anderes gehört als ihr Fehlen!
Durchaus nicht war Professor Lindner also zu dem Bekenntnis verhalten, daß die Neckereien und Prügel, die er als Knabe gefürchtet hatte, eine Ursache seiner geistigen Entwicklung gewesen sein könnten. Trotzdem leistete ihm die Einrichtung seiner Grundsätze und Gefühle aber heute den Dienst, daß jeder aus dem Gedränge der Welt kommende Eindruck davon in einen geistigen Triumph verwandelt wurde; und sogar seine Gewohnheit, kriegerische und sportliche Ausdrücke in seine Rede einzuflechten, sowie seine Neigung, allem, was er tat und sagte, das Gepräge eines unbeugsamen und strengen Willens zu geben, hatte sich in dem Maße zu entwickeln begonnen, als er, heranreifend, und nun auch unter gereifteren Gefährten lebend, unmittelbaren körperlichen Angriffen entrückt war. Er war sogar auf der Universität einer der Studentenverbindungen beigetreten, die Wams, Mütze, Stiefel, Band und Waffe ebenso malerisch trugen wie die Raufbolde, die von ihnen verachtet wurden, davon aber nur friedliche Anwendung machten, weil ihre Weltanschauung den Zweikampf verbot. Dabei hatte sich seine Lust an der Tapferkeit, von der man keinen blutigen Gebrauch machen muß, endgültig ausgebildet; zugleich legte es aber auch ein Zeugnis davon ab, wie man eine edle Gesinnung mit überschäumendem Lebensdrang verbinden kann oder, freilich mit anderen Worten, daß Gott am bequemsten in den Menschen fährt, wenn er es dem Teufel nachmacht, der vor ihm dagewesen ist!
Sobald Lindner also, wie es leider öfters geschehen mußte, seinem untersetzteren Sohne Peter vorhielt, daß auch die Nachgiebigkeit gegen den Gedanken der Kraft den Menschen verweichliche, oder daß die Kraft der Demut und der Mut zu verzichten höher stehen als Körperkraft und -mut, sprach er nicht als Laie in Mutfragen, sondern genoß die Aufregungen eines Magiers, dem es gelingt, Dämonen in den Dienst des Guten zu zwingen. Denn obwohl es auf der Höhe seines Wohlergehens eigentlich nichts gab, was ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte, war ihm doch eine beinahe an Angst streifende Abneigung – ähnlich wie eine geheilte Wunde ein Hinken zurückläßt – gegen Witze und Gelächter eigentümlich, selbst wenn er bloß deren blanke Möglichkeit argwöhnte. »Die Kitzel des Witzes und des Humors« pflegte er seinen Sohn darüber zu belehren »entspringen dem satten Lebensbehagen, der Bosheit und der müßigen Phantasie, und sie verleiten den Menschen gar leicht dazu, etwas zu sagen, das durch sein besseres Selbst verurteilt wird! Dagegen ist die Übung, seine witzigen Einfälle und Vorstellungen zu verschweigen, eine schöne Kraftprobe und stählende Willensprüfung, und sie fällt umso segensreicher für den ganzen Menschen aus, je mehr man das errungene Schweigen dazu benutzt, seinen Witz näher zu betrachten: Da sehen wir gewöhnlich erst,« schloß diese stehende Ermahnung »wieviel Wünsche auf eigene Überhebung und Verkleinerung des anderen, wieviel Gefallsucht und wieviel Leichtfertigkeit hinter den meisten Witzen stecken, wieviel Verfeinerung des Mitgefühls in uns und anderen durch sie erstickt wird, ja wieviel erschreckende Roheit und Spottsucht im Gelächter der Zuhörer, um das wir gebuhlt haben, zutage tritt!«
Peter mußte darum seine jugendliche Neigung zur Spottsucht und zum Witzemachen sorgfältig vor seinem Vater verbergen; aber er besaß sie, und Professor Lindner fühlte oft den Atem des bösen Geistes in seiner Umgebung, ohne das giftige Gespenst stellen zu können. Es konnte so weit führen, daß der Vater den Sohn mit bändigendem Blick in Furcht hielt, insgeheim sich aber selbst vor ihm fürchtete, und erinnerte dann an etwas Unbestimmbares, das schon zwischen dem Ehepaar Lindner bestanden hatte, als die rundliche Frau Professor noch auf Erden war. Herr in seinem Hause zu sein, dessen Geist zu bestimmen und die Familie als einen friedlichen Garten um sich zu wissen, in den er seine Grundsätze gepflanzt hatte, gehörte für ihn zu den unerläßlichen Voraussetzungen der Zufriedenheit; Frau Lindner aber, die er kurz nach dem Abschluß seiner Studien geheiratet hatte, während deren er »Zimmerherr« bei ihrer Mutter gewesen war, hatte leider bald danach aufgehört, seine Grundsätze zu teilen, hingegen sie eine Art, ihm ungern zu widersprechen, annahm, die ihn mehr reizte als Widerspruch. Es blieb ihm unvergeßlich, manchmal einen Blick aus dem Augenwinkel aufgefangen zu haben, während ihr Mund gehorsam schwieg; und jedesmal hatte er sich danach in einer Lage vorgefunden, gegen die vielleicht etwas einzuwenden gewesen wäre; zum Beispiel in einem zu kurzen Nachthemd, darüber predigend, daß ihre Würde der Frau jedes Gefallen an den lockeren und rauhen Gesellen verbieten sollte, die mit ihrer Trunkenheit und ihren Schrammen damals noch das studentische Leben beherrschten und darum auch als Mieter nicht so ungern gesehen waren, wie man fordern dürfte.
Überhaupt ist die heimliche Spottsucht der Frau ein Kapitel, das eng mit ihrem Unverständnis für die wichtigsten männlichen Angelegenheiten zusammenhängt; und in dem Augenblick, als Lindner sich daran erinnerte, gaben die geistigen Vorgänge, die sich bis dahin ohne deutliche Gestalt in ihm gewälzt hatten, den Gedanken an Agathe frei. Wie mochte sie sein, wenn man innig mit ihr zusammen lebte? »Sie ist ohne Zweifel nicht das, was man beruhigt einen guten Menschen nennen möchte. Sie macht ja nicht einmal ein Hehl daraus!« sagte er sich, und einer ihrer Aussprüche, der ihm dabei einfiel, die lachende Behauptung, daß die guten Menschen heute an der Verderbnis des Lebens nicht weniger Schuld trügen als die schlechten, sträubte ihm die Haare. Aber er hatte diesen »fürchterlichen Ansichten«, wenn sie ihn auch jedesmal von neuem erregten, im ganzen doch schon »die Giftzähne ausgebrochen«, indem er sich ein für allemal davon die Erklärung gemacht hatte: »Sie kennt die Wirklichkeit nicht!« Denn er hielt Agathe für ein edles Wesen, wenn auch für eine »Evatochter« voll böser Unruhe. Das rechte Verhalten, so gewiß es dem Gläubigen ist, ihr schien es der denkungewisseste Gegenstand, die Lösung der äußersten und schwierigsten Aufgabe des Lebens zu sein! Sie schien sich eine traumhaft verworrene Vorstellung von Güte und Recht zu machen, eine ordnungsfeindliche, die nicht mehr Zusammenhang besaß als eine zufällige Zusammenstellung von Gedichten. »Sie ist wirklichkeitsfremd!« wiederholte er. »Kennte sie beispielsweise die Liebe, wie möchte sie so zynische Äußerungen darüber machen, daß sie unmöglich sei und dergleichen!« Es mußte ihr also die wahre Liebe gezeigt werden.
Aber da bereitete Agathe nun wieder neue Schwierigkeiten. Wollte er es sich nur ungescheut und mutig eingestehen: sie war verletzend! Sie riß allzu gerne von seinem Piedestal, was man sorgsam hochstellte; und tadelte man sie, so hielt sich ihre Kritik vor nichts zurück, und sie zeigte offen, daß sie verletzen wolle. Es gibt solche Naturen, die wider sich selbst wüten und nach der Hand schlagen, die ihnen Hilfe bringt; aber ein fester Mann wird sein Verhalten nie vom Verhalten anderer abhängen lassen, und in diesem Augenblick hatte Lindner das Bild eines ruhigen Mannes mit langem Bart vor sich, der sich über eine ängstlich abwehrende Kranke beugt und eine Wunde ganz tief an ihrem Herzen sieht. Der Augenblick war fern von Logik, und so war damit nicht gesagt, daß er selbst dieser Mann sei; aber Lindner richtete sich auf, und das tat er wirklich, griff nach seinem Bart, der inzwischen sehr an Fülle verloren hatte, und eine nervöse Röte überflog sein Antlitz. Es war ihm erinnerlich geworden, daß Agathe die verwerfliche Gewohnheit besaß, ihn mehr, als es je ein anderer Mensch zuwege gebracht hätte, in den Glauben zu versetzen, sie vermöchte seine erhabensten und seine geheimsten Gefühle zu teilen, ja sie warte in ihrer bedrängten eigenen Lage sogar auf eine besondere Anstrengung von deren Seite, um ihn dann, wenn er die Schätze seines Inneren preisgab, höhnisch zu beleidigen. Sie beflügelte ihn! Lindner gestand es sich ein und hätte auch nicht anders können, denn in seiner Brust war ein fremdes, unruhiges Gefühl, das man lieblos, was ihm freilich fern lag, mit einem Korb voll Hühner hätte vergleichen können, die durcheinander drängen. Aber dann konnte sie auch mit einemmal auf äußerst unbestimmbare Art lachen oder etwas weltlich Liebloses andeuten, das ihn ins Herz schnitt, als hätte sie alles nur darauf angelegt gehabt, ihn zu täuschen! Und hatte sie ihn denn nicht auch heute, noch ehe sie da war, schon in eine solche Lage gebracht, mit diesem Klavier, fragte sich Lindner. Er sah es an. Wie eine Hausmagd stand es neben ihm, an der sich der Herr vergangen hat!
Er konnte nicht wissen, was Agathe bewog, ihr Spiel mit ihm zu treiben, und sie selbst hätte sich mit niemand darüber aussprechen können, durchaus nicht einmal mit Ulrich. Sie verhielt sich launenhaft; aber sofern das heißt, mit wechselndem Gefühl, geschah es doch auch mit Absicht und bedeutete ein Rütteln und Lockern des Gefühls, wie ein Mensch seine Glieder dehnt, auf denen eine süße Schwere lastet. So hatte die wunderliche Anziehung, die sie mehrmals heimlich zu Lindner führte, von Anfang an eine Widersetzlichkeit gegen Ulrich, oder doch gegen die völlige Abhängigkeit von ihm, enthalten; der fremde Mann wendete ihre Gedanken ein wenig ab und erinnerte sie an die Vielfältigkeit der Welt und der Männer. Aber es geschah nur, um sie ihre Abhängigkeit von ihrem Bruder desto wärmer fühlen zu lassen, und war überdies das gleiche wie Ulrichs Heimlichkeit mit den Aufzeichnungen, die er vor ihr verschloß, ja schon wie schlechthin sein Entschluß, neben dem Gefühl, und über dieses, auch den Verstand urteilen zu lassen. Doch während er damit genug zu tun hatte, bedurfte ihre Ungeduld und ihre für ein Abenteuer, von dem sich noch nicht sagen ließ, welchen Weg es nehmen werde, bereitgehaltene Spannung des Auslasses, und in dem Maße, als Ulrich sie begeisterte oder entmutigte, machte Lindner, dem sie sich überlegen fühlte, sie wieder geduldig oder übermütig. Sie gewann Herrschaft über sich selbst, indem sie den Einfluß mißbrauchte, den sie auf ihn ausübte, und hatte das nötig.
Dabei spielte aber doch auch noch etwas anderes mit. Denn zu dieser Zeit war zwischen ihr und Ulrich weder von ihrer Scheidung und Hagauers Briefen noch von dem leichtsinnig oder eigentlich abersinnig, in einem ausgesprungenen Augenblick veränderten Testament die Rede, das eine Gutmachung forderte, entweder eine bürgerliche oder eine wunderbare. Agathe wurde manchmal von dem bedrückt, was sie getan hatte, und sie wußte auch, daß Ulrich in der Unordnung, die man in einem tieferen Lebenskreis zurückläßt, keine gute Vorbedeutung für die Ordnung sah, die man in einer höheren Bedeutung anstrebt; er hatte es ihr offen genug gesagt, und wenn sie sich auch nicht mehr an alle Einzelheiten des Gesprächs erinnerte, das sich an die Verdächtigungen angeschlossen hatte, die von Hagauer gegen sie erhoben wurden, so fand sie sich doch in einen Wartezustand zwischen Wohl und Übel verbannt. Etwas hob zwar alle ihre Eigenschaften nach oben zur wunderbaren Rechtfertigung, aber sie durfte noch nicht daran glauben, und so war es auch ihr beleidigtes widerspenstiges Rechtsgefühl, was sich im Streit mit Lindner einen Ausweg schuf. Sie war ihm sehr dankbar dafür, daß er ihr alle schlechten Eigenschaften anzudichten schien, die auch Hagauer an ihr entdeckt hatte, und daß er sie, ohne es zu wollen, schon durch den Anblick beruhigte, den er dabei darbot.
Lindner, der also nie in der Beurteilung Agathes mit sich ins reine kam, hatte jetzt begonnen, unruhig in seinem Zimmer auf und ab zu wandern, und unterzog die Besuche, die sie ihm machte, einer strengen Prüfung im einzelnen. Es schien ihr bei ihm zu gefallen, sie fragte nach vielen Einzelheiten seines Hauses und seines Lebens, nach seinen Erziehungsgrundsätzen und nach seinen Büchern. Er irrte sich bestimmt nicht, wenn er annahm, daß man mit solcher Teilnahme nur nach einem Leben fragt, das zu teilen man sich angezogen fühlt; freilich, wie sie sich dabei ausdrückte, mußte man als ihre Eigenart einstweilen hinnehmen! So entsann er sich, daß sie ihm einmal von einer Frau erzählt hatte – sträflicherweise einer gewesenen Geliebten ihres Bruders! –, die jedesmal einen Kopf »wie eine Kokosnuß« bekäme, »mit den Haaren nach innen«, wenn sie sich in einen Mann verschaute; und daran hatte sie die Bemerkung geknüpft, daß es ihr so mit seiner Wohnung erginge. Es sei alles so einheitlich, daß man ordentlich »Angst um sich selbst« bekomme! Aber diese Angst schien ihr Vergnügen zu bereiten, und Lindner erkannte in diesem widerspruchsvollen Zug die geängstigte Hingabebereitschaft der weiblichen Psyche, umsomehr als sie ihm andeutete, ähnliche Eindrücke seien ihr auch aus der ersten Zeit ihrer Ehe im Gedächtnis.
Nun ist es wohl nur natürlich, daß einem Mann wie Lindner Heiratsgedanken eher kommen als sündige. Und so hatte er inner- und außerhalb der für Lebensfragen vorgesehenen Zeiten schon manchmal verstohlen dem Gedanken stattgegeben, daß es vielleicht gut wäre, dem Kinde Peter wieder eine Mutter zu geben; und es geschah auch jetzt, daß er, statt Agathes Verhalten weiter zu zergliedern, bei einer Erscheinung anhielt, die ihn geheimnisvoll ansprach. Denn in tiefer Vorwegnahme seines Schicksals redete Agathe seit Beginn ihrer Bekanntschaft von nichts so leidenschaftlich wie von ihrer Scheidung. Er konnte diese Sünde unmöglich gutheißen, konnte aber auch nicht verhindern, daß ihm ihre Vorzüge mit jedem Tage mehr einleuchteten; und unerachtet seiner sonstigen Anschauungen vom Wesen des Tragischen neigte er dazu, dieses Los tragisch zu finden, das ihn zwang, bittere Abneigung gegen das zu äußern, was er selbst fast schon wünschte. Nun geschah es aber noch dazu, daß Agathe dieses Widerstreben am meisten ausnützte, um in ihrer verletzenden Art anzudeuten, sie glaube der Wahrheit seiner Überzeugung nicht. Er mochte die Moral vorkehren, die Kirche davorstellen, alle die Sätze aussprechen, die ihm ein Leben lang so geläufig waren, sie lächelte bei ihrer Antwort, und dieses Lächeln erinnerte ihn an das Frau Lindners in den späteren Jahren der Ehe, hatte aber davor die beunruhigende Kraft des Neuen und Geheimnisvollen voraus. »Es ist das Lächeln der Mona Lisa!« rief Lindner innerlich aus. »Spöttisch in frommem Gesicht!« und er war von dieser bedeutenden vermeintlichen Entdeckung so bestürzt und geschmeichelt, daß er im Augenblick gegen die Anmaßung, ihn nach der Sicherheit seiner Gottesgewißheit auszufragen, die sich diesem Lächeln anzuschließen pflegte, weniger Abweisung aufbrachte als sonst. Diese Ungläubige wollte nicht die ausgesendete Belehrung, sie wollte die Hand in die Quelle stecken; und vielleicht war ihm gerade das auferlegt, wirklich einmal wieder den Stein darüber zu öffnen, um ihr ein wenig Einblick zu gewähren: wer wollte ihn davor bewahren, daß es nicht so sei, so unangenehm, ja beängstigend dieser Gedanke auch für ihn selbst war! Und plötzlich trat Lindner, obwohl er sich allein in dem Zimmer befand, fest auf den Boden und sagte laut: »Sie sollen nicht denken, daß ich Sie nicht verstehe! Ach, glauben Sie nicht, daß die Unterwerfung, die Sie an mir bemerken, aus einem von Beginn an unterworfenen Wesen kommt!«
Die Geschichte, wie Lindner der geworden, der er war, war freilich beiweitem alltäglicher, als er glaubte. Sie begann damit, daß er auch ein anderer hätte werden können; denn er erinnerte sich noch genau an die Vorliebe, die er als Knabe für die Geometrie besessen hatte, deren schöne, klug angelegte Beweise sich am Ende mit einem leisen Schnappen um die Wahrheit schlossen und ihm ein Vergnügen bereiteten, als hätte er einen Riesen in einer Mausefalle gefangen. Es sprach nichts dafür, daß er besonders religiös angelegt gewesen wäre; und er war auch heute noch der Anschauung, daß man einen Glauben »erwerben« müsse, und nicht als Wiegengeschenk empfangen. Was ihn im Religionsunterricht damals zum vorzüglichen Schüler machte, war die gleiche Freude am Wissen und Besserwissen, die er auch den anderen Unterrichtsgegenständen entgegenbrachte. Allerdings hatte sein Inneres doch wohl die Ausdrucksweise der religiösen Überlieferung schon angenommen, und es wehrte sich bloß sein früh entwickelter Bürgersinn noch dagegen, was in der einzigen ungewöhnlichen Stunde, die sein Leben enthielt, einmal unerwartet zum Ausdruck kam. Es geschah zur Zeit der Vorbereitung auf die Reifeprüfung; er hatte schon durch Wochen übermäßig gearbeitet und saß abends lernend in seiner Stube, als sich auf einmal eine unbegreifliche Veränderung mit ihm vollzog. Sein Körper schien gegen die Welt zu so leicht zu werden wie zarte Papierasche, und eine unsägliche Freude erfüllte ihn, als wäre im dunklen Gewölbe der Brust eine Kerze entzündet worden und sendete ihren sanften Glanz bis in alle Glieder; und ehe er sich noch ob solcher Einbildung zur Rede stellen konnte, umlagerte dieses Licht auch sein Haupt mit einem strahlenden Zustand. Er war sehr erschrocken davor; aber sein Kopf sandte trotzdem Licht aus. Eine wundervolle geistige Klarheit überflutete nun alle seine Sinne, und die Welt spiegelte sich so weithin gesehen darin, wie es kein natürliches Auge erfassen kann. Er blickte auf und sah nichts als sein halberleuchtetes Zimmer; das war also keine Vision, aber der Aufschwung hielt an, mochte es auch in Widerspruch dazu stehn. Er tröstete sich damit, daß er anscheinend irgendwie nur »als geistiger Mensch« das erlebe, während »der körperliche« doch nüchtern und deutlich auf seinem Stuhl säße und ganz den gewohnten Raum einnähme; und so verharrte er eine Weile und hatte sich schon halb mit seinem bedenklichen Zustand abgefunden, da man sich auch an das Ungewöhnliche rasch gewöhnt, solange nur Hoffnung besteht, es werde sich schon noch als eine Geburt, und sei es auch eine Ausgeburt, der Ordnung herausstellen. Aber da geschah etwas Neues, denn er hörte mit einemmal eine Stimme, die gemäßigt, als hätte sie schon länger gesprochen, aber ganz deutlich zu ihm die Worte sagte: »Lindner, wo suchst du mich? Sis tu tuus et ego ero tuus«, was sich etwa so übersetzen ließe: werde du nur Lindner, und ich werde bei dir sein! Es war aber nicht sowohl der Inhalt dieser Rede, der den ehrgeizigen Studenten bestürzte, denn er mochte ihn wenigstens zum Teil schon gelesen oder gehört und danach vergessen haben, als vielmehr das sinnliche Erklingen; denn dieses kam so unabhängig und überraschend von außen und war von einer solchen sofort überzeugenden Fülle und Festigkeit und hatte einen so anderen Klang als den trockenen des zähen Fleißes, auf den die späte Stunde abgestimmt war, daß davon jeder Versuch, die Erscheinung auf eine Übermüdung und Überreizung des Innern zurückzuführen, zum voraus entwurzelt wurde. Daß dieser Ausweg so nahe lag, und doch versperrt war, steigerte natürlich die Verwirrung; und als auch noch hinzukam, daß sich mit der Verwirrung der Zustand in Lindners Kopf und Herzen immer herrlicher erhob und bald durch den ganzen Körper zu fließen begann, war das zuviel. Er packte seinen Kopf, schüttelte ihn zwischen den Fäusten, sprang von seinem Stuhl auf, stieß drei »Nein!« hervor und sagte beinahe schreiend das erstbeste Gebet her, das ihm einfiel, worauf endlich der Zauber verschwand, und der tödlich erschrockene zukünftige Lehramtskandidat ins Bett flüchtete.
Bald danach legte er die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab und bezog die Universität. Er fühlte nicht die innere Berufung zum geistlichen Stand in sich – die er übrigens, törichten Fragen Agathens zu antworten, während seines ganzen Lebens niemals empfand – und war zu jener Zeit nicht einmal ganz und ohne Anfechtung gläubig, denn auch ihn suchten die Zweifel heim, die keinem werdenden Verstand erspart bleiben. Aber der tödliche Schreck über die religiösen Kräfte, die er in sich berge, ging ihm sein Leben lang nicht mehr verloren. Je länger es her war, desto weniger glaubte er natürlich, daß wirklich Gott zu ihm gesprochen habe, und begann darum die Phantasie als eine zügellose Macht zu fürchten, die leicht zu geistiger Umnachtung führen kann. Auch sein Pessimismus, dem der Mensch überhaupt als bedrohtes Wesen erschien, gewann an Tiefe, und so war sein Beschluß, Pädagoge zu werden, einesteils wohl der Beginn einer sozusagen posthumen Erziehung der Schulkameraden, die ihn gequält hatten, andernteils aber auch der einer Erziehung des bösen Geistes oder irregulären Gottes, der möglicherweise noch in der Höhle seiner Brust hauste. Aber war es ihm somit unklar, bis zu welchem Grade er gläubig sei, so wurde ihm doch rasch klar, daß er ein Gegner der Ungläubigen sei, und er erlernte es, mit Überzeugung zu denken, daß er überzeugt sei und daß man überzeugt zu sein habe. Er lernte an der Universität auch umso eher die Schwächen des der Freiheit überlassenen Geistes erkennen, als ihm nur in bescheidenem Maße bekannt war, wie sehr den schöpferischen Kräften die Bedingung der Freiheit angeboren ist. Es ist schwer, von diesen Schwächen das Maßgebliche in wenigen Worten zu sagen. Man könnte es zum Beispiel darin sehen, daß die großen Gedankengebäude der selbständigen philosophischen Welterklärung, deren letzte zwischen den Mitten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden sind, von den Veränderungen des Lebens, vornehmlich aber von den Ergebnissen des Denkens und der Erfahrung selbst, unterhöhlt worden sind; ohne daß die Fülle der neuen, von den Wissenschaften fast mit jedem Tag ans Licht gebrachten Erkenntnisse zu einer neuen, festen, wenn auch abwartenden, menschlichen Gesinnung geführt hätte, ja auch ohne daß sich der Wille dazu ernst und öffentlich genug regte, so daß der Reichtum der Kenntnisse fast ebenso bedrückend wie beglückend geworden ist. Man kann aber auch ganz allgemein davon ausgehen, daß sich ein außerordentliches Gedeihen von Besitz und Bildung bis zu einem schleichenden Notstand gesteigert hatte, der nicht gar lange nach diesem Tag, da Lindner, zu seiner Erholung von dem anstrengenderen Teile seiner Lebenserinnerungen, über die Irrtümer der Welt nachdachte, von dem ersten Vernichtungsschlag unterbrochen werden sollte. Denn angenommen, daß jemand 1871, in dem Jahre der Geburt Deutschlands, auf die Welt gekommen sei, so hätte er schon mit einigen dreißig Jahren gewahren können, daß sich während seines Daseins die Länge der Eisenbahnen in Europa verdreifacht und auf der ganzen Erde mehr als viermal vergrößert habe, der Postverkehr sich auf das dreifache ausgedehnt, die Telegrafenlinien es gar auf das siebenfache getan hätten; und auch vieles andere hatte sich in demselben Sinne entwickelt. Der Wirkungsgrad der Kraftmaschinen war von 50 auf 90 v. H. gesteigert worden; die Petroleumlampe war in dieser Zeit der Reihe nach durch Gasbeleuchtung, Auerlicht und Elektrizität, die immer neue Beleuchtungsarten hervorbringt, ersetzt worden; das Pferdegespann, das jahrtausendelang seinen Platz gehalten hatte, durch den Kraftwagen; und die Flugmaschinen waren nicht nur in die Welt getreten, sondern auch schon aus den Kinderschuhen. Auch die durchschnittliche Lebensdauer hatte sich, dank der Fortschritte der Medizin und Hygiene, auffallend gehoben, und die Beziehungen zwischen den Völkern wurden seit der letzten kriegerischen Auseinandersetzung zusehends milder und vertrauensvoller. Der Mensch, der das miterlebte, konnte wohl glauben, daß es nun endlich zu dem lange erwarteten dauernden Fortschritt der Menschheit gekommen sei, und wer möchte das nicht als angemessen erachten einer Zeit, in der er selbst auf der Welt ist!
Aber es scheint, daß dieser bürgerliche und seelische Wohlstand auf ganz bestimmten und keinesfalls unvergänglichen Voraussetzungen geruht hat, und man erklärt uns heute, daß es damals noch ungeheure Anbauflächen und andere natürliche Reichtümer in der Welt gegeben habe, die gerade erst in Besitz genommen worden seien; daß es wehrlose farbige Völker gegeben habe, die noch nicht beraubt waren (den Vorwurf, es zu tun, glich man durch den Gedanken aus, daß man ihnen dafür die Zivilisation schenke); und daß auch Millionen weißer Menschen vorhanden gewesen seien, die wehrlos die Kosten des industriellen und kaufmännischen Fortschritts bezahlen mußten (aber man stärkte sein Gewissen durch die feste und nicht einmal völlig unbegründete Zuversicht, daß es nach fünfzig oder hundert Jahren weiteren Fortschritts auch den Enterbten besser gehen werde als vor der Enterbung). Jedenfalls war das Füllhorn, aus dem das leibliche und geistige Gedeihen kam, so groß und unübersehbar, daß es unsichtbar wirkte und nur der Eindruck des Wachstums in allen Leistungen übrig blieb; und es ist heute schier unmöglich, noch einmal begreiflich zu machen, wie natürlich es damals war, an die Dauer dieses Fortschritts zu glauben und Gedeihen und Geist für etwas zu halten, das, wie Gras, überall fortkommt, wo es nicht geradezu absichtlich ausgerottet wird.
Gegen diese Vertrauensseligkeit, diesen Gedeihniswahn, diesen verhängnisvoll frohsinnigen Freisinn besaß der blasse, unüppige und von seinem Wachstum körperlich sogar geplagte Student Lindner eine natürliche Abneigung, und es war ihm ein natürliches Ahnungsvermögen für alle Fehler und eine wache Aufnahmebereitschaft für jedes Lebenszeugnis zu eigen, das dagegen aussagte. Wohl war sein Fach nicht Volkswirtschaft, und er lernte diese Tatsachen erst später richtig würdigen; umso hellsichtiger war er aber für die andere Seite der Entwicklung und die sich dort vollziehende Fäulnis einer Gesinnung, die im Anfang den freien Handel im Namen eines freien Geistes an die Spitze der menschlichen Tätigkeiten gesetzt und dann den freien Geist dem freien Handel überlassen hat, und Lindner witterte den geistigen Zusammenbruch, der ja auch nicht ausgeblieben ist. Dieser Glaube an das Verhängnis, inmitten einer sich ihre Fortschritte behagen lassenden Welt, war die kräftigste von allen seinen Eigenschaften; aber er hätte dabei wahrscheinlich auch ein Sozialist werden können oder einer der einsamen und fatalistischen Menschen, die sich höchst ungern auf Politik einlassen, wenn sie auch voll Erbitterung wider das Ganze sind, und die den Fortbestand des Geistes sichern, indem sie in ihrem engeren Kreis auf das Rechte halten und für ihre Person das Bedeutende tun und die Kulturheilkunde den Kurpfuschern überlassen. Wenn sich Lindner also heute fragte, wie er dennoch geworden sei, der er sei, so durfte er sich die beruhigende Antwort geben, daß das genau so geschehen sei, wie man ansonsten in einen Beruf hineinkommt. Er hatte schon in der letzten Klasse des Gymnasiums einem Zirkel angehört, dessen Arbeitsplan es war, kühle, bedächtige Kritik sowohl an dem halbamtlich an der Schule bewunderten »antiken Heidentum« als auch an dem außerhalb der Schule umgehenden »modernen Geist« zu üben; in der Fortsetzung war er, abgestoßen von dem freien studentischen Treiben der Universität, einer Verbindung beigetreten, in deren Kreise, wie der Bart das Milchgesicht, bereits die Einflüsse des politischen Kampfes die harmlosen Jünglingsgespräche verdrängten; und als er so in die höheren Semester gekommen war, hatte sich an ihm schon gebieterisch die für jede Art von Gesinnung gültige Denkwürdigkeit geltend gemacht, daß die beste Stütze des Glaubens der Unglaube ist, da er, an anderen bemerkt und bekämpft, dem Gläubigen immer Gelegenheit gibt, sich eifrig zu fühlen.
Von der Stunde an, da sich Lindner entschlossen gesagt hatte, daß auch Religion vornehmlich eine Einrichtung für Menschen sei, und nicht für Heilige, hatte sich Friede über ihn gebreitet. Zwischen den Wünschen, Kind oder Diener Gottes zu sein, war für ihn die Wahl gefallen. In dem ungeheuren Palast, darin er dienen wollte, gab es zwar einen innersten Raum, wo die Wunder aufbewahrt wurden und ruhten, und jeder dachte bei Gelegenheit daran, aber in diesem Heiligtum hielt sich keiner seiner Diener dauernd auf, sondern sie lebten alle nur davon, ja es wurde ängstlich vor der Zudringlichkeit Unberufener geschützt, mit der man nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht hat. Das sagte Lindner ungemein zu. Er schied zwischen Überhebung und Erhebung. Der Vorzimmerbetrieb, in seinen würdigen Formen und voll seiner hundertfach abgestuften Tätigkeiten und Angestellten, erfüllte ihn mit Bewunderung und Ehrgeiz; und die Außenarbeit, der er sich nun selbst unterzog, die Einflußnahme auf das moralische, politische und erzieherische Vereinswesen und die Durchdringung der Wissenschaft mit religiösen Grundsätzen, enthielt Aufgaben, für die er nicht ein, sondern tausend Leben hätte verbrauchen können, schenkten ihm dafür aber auch jene dauernde Bewegung bei innerer Unveränderlichkeit, die das Glück der seligen Geister ist: wenigstens meinte er das in zufriedenen Stunden, vielleicht verwechselte er es aber mit dem Glück der politischen Geister. Und so trat er von da an in Vereine ein, schrieb Broschüren, hielt Vorträge, besuchte Versammlungen, knüpfte Beziehungen an, und ehe er die Universität verlassen hatte, war aus dem Rekruten der gläubigen Bewegung ein junger Mann geworden, der in der Offiziersliste evident gehalten wurde und einflußreiche Gönner besaß.
Eine Persönlichkeit mit so breiter Grundlage und so geläuterter Höhe hatte es also wahrhaftig nicht nötig, sich von der vorlauten Kritik einer jungen Frau einschüchtern zu lassen, und als Lindner zur Gegenwart zurückkehrte, zog er die Uhr und stellte fest, daß Agathe noch immer nicht da sei, obwohl es fast schon an der Zeit war, daß Peter zurückkehren konnte. Trotzdem schlug er noch einmal das Klavier auf, und wenn er sich auch nicht der Unberechenbarkeit des Gesanges auslieferte, so ließ er doch sein Auge wiederholend über die Worte des Lieds wandern und begleitete sie mit leisem Flüstern. Dabei wurde er zum erstenmal gewahr, daß er sie falsch betonte, viel zu gefühlvoll, und nicht im Einklang mit der bei allem Liebreiz strengen Musik. Er sah einen Jesusknaben vor sich, der »irgendwie von Murillo« war, das heißt, auf eine sehr unbestimmte Art außer den schwarzen Kirschenaugen auch die malerischen Lumpen der älteren Bettlerknaben dieses Meisters besaß, so daß er mit dem Gottessohn und Erlöser gerade nur das rührend Vermenschlichte gemein hatte, dieses aber offenbar recht übertrieben und eigentlich geschmacklos. Es machte auf ihn einen unangenehmen Eindruck und flocht nun wieder Agathe in seine Gedanken ein, denn er entsann sich, sie hätte einmal ausgerufen, es wäre wirklich nichts so merkwürdig, wie daß der Geschmack, der die gotischen Dome und Passionen hervorgebracht habe, durch einen Geschmack abgelöst worden sei, dem heute Papierblumen, Perlenstickereien, gezackte Deckchen und eine süßliche Sprache gefielen, so daß der Glaube geschmacklos geworden wäre und die Gabe, das Unerfaßliche duften und schmecken zu machen, fast nur noch unter ungläubigen oder zweifelhaften Menschen bewahrt würde! Lindner sagte sich, daß Agathe »eine ästhetische Natur« sei, und das bedeutete etwas, das an den Ernst der Volkswirtschaft und der Moral nicht heranreicht, in einzelnen Fällen aber sehr anregend sein kann, und zu ihnen gehörte auch dieser. Denn Lindner hatte die Erfindung der Papierblumen bisher schön und sinnig gefunden, entschied sich aber plötzlich, einen Strauß von ihnen, der auf dem Tisch stand, dort zu entfernen, und versteckte ihn einstweilen hinter seinem Rücken.
Es war beinahe unwillkürlich geschehn, und er war ein wenig bestürzt ob dieser Handlung; stand aber dabei unter dem Eindruck, er wüßte über die von Agathe beobachtete »Merkwürdigkeit«, bei der sie es hatte bewenden lassen, wohl eine Erklärung abzugeben, die sie nicht von ihm erwartete. Ein Apostelwort fiel ihm ein: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle!« Und mit gerunzelter Stirn zu Boden blickend, bedachte er, daß nun schon seit vielen Jahren alles, was er tue, in Beziehung zur ewigen Liebe stehe. Er gehörte einer wunderbaren Liebesgemeinschaft an – und gerade das unterschied ihn von einem gewöhnlichen Intellektuellen – worin nichts geschah, dem sich nicht, und mochte es auch noch so irdisch bedingt und getan sein, eine allegorische Beziehung zum Ewigen hätte geben lassen, ja dem diese Beziehung nicht als tiefste Bedeutung eingewohnt hätte, mochte das Bewußtsein davon auch nicht immer blank geputzt sein. Es besteht aber ein mächtiger Unterschied zwischen der Liebe, die man als Überzeugung besitzt, und der Liebe, die einen besitzt; ein Unterschied an Frische, mochte er sagen, wenn auch gewiß der zwischen geläutertem Wissen und trüber Turbulenz gleichfalls zu Recht bestand. Lindner zweifelte nicht daran, daß die geläuterte Überzeugung höher zu stellen sei; aber je älter sie ist, umsomehr läutert sie sich, das heißt, sie befreit sich von den Unregelmäßigkeiten des Gefühls, das sie erzeugt hat; und allmählich bleibt von diesen Leidenschaften nicht einmal mehr die Überzeugung übrig, sondern nur noch die Bereitschaft, sich jederzeit, wenn man sie braucht, ihrer erinnern und bedienen zu können. Und das mag erklären, warum die Werke des Gefühls abdorren, wenn sie nicht aus unmittelbarer Liebeserfahrung noch einmal erfrischt werden.
Mit solchen beinahe ketzerischen Erwägungen war Lindner beschäftigt, als plötzlich die Glocke schrillte.
Er zuckte mit den Achseln, schloß das Klavier wieder zu und entschuldigte sich bei sich selbst mit den Worten: »Das Leben braucht nicht nur Beter, sondern auch Arbeiter!«