Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Tugut und der Tunichtgut. Aber auch Agathe
Peter war ein recht beträchtlicher, ungefähr siebzehnjähriger Bursche, in dem sich die abschüssige Größe Lindners mit einer breiteren Körperlichkeit durchdrungen und verkürzt hatte; er reichte seinem Vater nur an die Schultern, aber sein Kopf, der einer eckig-runden großen Kegelkugel glich, saß auf einem Nacken von strammem Fleisch, dessen Umfang für einen Oberschenkel von Papa ausgereicht hätte. Peter hatte statt in der Schule auf einem Fußballplatz geweilt und unseligerweise am Heimweg ein Mädchen angesprochen, dem seine männliche Schönheit das halbe Versprechen eines Wiedersehens abrang: dadurch in Verspätung, hatte er sich heimlich in die Wohnung und an die Tür des Speisezimmers geschlichen, unschlüssig bis zum letzten Augenblick, wie er sich ausreden werde, hatte aber zu seiner Überraschung niemand im Zimmer gehört, war hineingestürzt, und gerade im Begriff, die gelangweilte Miene langen Wartens aufzusetzen, wurde er jetzt sehr verlegen, als er mit seinem Vater zusammenprallte. Sein rotes Gesicht überzog sich mit noch röteren Flecken, er ließ augenblicklich einen großen Wortschwall los und schielte seinen Vater ängstlich an, wenn er glaubte, daß dieser es nicht bemerke, wogegen er sein Auge furchtlos in das väterliche springen ließ, wenn er es auf sich gerichtet fühlte. Das war ein wohlberechnetes und oft erprobtes Verhalten, das die Aufgabe erfüllte, den Eindruck eines bis zur Unklugheit offenen und unbeherrschten jungen Mannes zu erwecken, der alles imstande sein könnte, bloß das eine nicht, etwas zu verbergen. Aber wenn das nicht genügte, so schreckte Peter auch nicht davor zurück, sich scheinbar versehentlich unehrerbietige oder andre seinem Vater mißliebige Worte entschlüpfen zu lassen, die dann wie Spitzen wirkten, die den Blitz anzogen und von gefährlicheren Bahnen ablenkten. Denn Peter fürchtete seinen Vater wie die Hölle den Himmel, mit dem Ehrgefühl des schmorenden Fleisches, auf das der Geist hinabblickt. Er liebte das Fußballspiel, und selbst dabei liebte er es mehr, mit sachkundiger Miene zuzusehn und gewichtige Urteile zu fällen, als sich selbst anzustrengen. Er hatte vor, Flieger zu werden und eines Tags Heldentaten zu vollbringen; er stellte es sich aber nicht als ein Ziel vor, für das man arbeiten müsse, sondern als eine persönliche Anlage, wie eben Wesen, zu denen das gehört, eines Tags fliegen können. Auch daß seine Abneigung zu arbeiten im Widerspruch zu den Lehren der Schule stehe, beeinflußte ihn nicht: Dieser Sohn eines anerkannten Pädagogen legte überhaupt keinen Wert darauf, von seinen Lehrern geachtet zu werden; es genügte ihm, körperlich der Stärkste in seiner Klasse zu sein, und wenn ihm ein Mitschüler zu gescheit vorkam, so war er bereit, durch einen Fausthieb gegen Nase oder Magen das Verhältnis wieder erträglich zu gestalten. Bekanntlich kann man auch auf diese Weise ein geachtetes Dasein führen, und sein Verfahren hatte bloß den einen Nachteil, daß er es zu Hause gegen seinen Vater nicht anwenden konnte, ja daß dieser davon möglichst wenig erfahren durfte. Denn vor dieser geistigen Autorität, die ihn erzogen hatte und sanft umklammert hielt, brach Peters Ungestüm zu jammernden Versuchen der Auflehnung zusammen, die Lindner senior das klägliche Geschrei der Begierden nannte. Von klein auf mit den besten Grundsätzen vertraut gemacht, hatte es Peter schwer, sich ihrer Wahrheit zu verschließen, und vermochte seiner Ehre und Wehrhaftigkeit nur durch einen indianischen Gebrauch von Kriegslisten genugzutun, die den offenen Wortkampf mieden. Zwar bediente er sich, um sich seinem Gegner anzupassen, auch vieler Worte, doch ließ er sich dabei niemals zu dem Bedürfnis herab, die Wahrheit zu reden, was nach seiner Auffassung unmännlich und geschwätzig war.
So sprudelten auch dieses Mal sogleich seine Beteuerungen und Grimassen, fanden aber keine Gegenwirkung auf Seiten des Meisters. Professor Lindner hatte eiligst das Kreuz über der Suppe geschlagen und aß ernst, schweigend und hastig. Nur zuweilen ruhte sein Auge kurz und ohne Sammlung auf dem Scheitel seines Sohnes. Dieser Scheitel war an diesem Tag mit Kamm, Wasser und viel Pomade durch das dicke, braunrote Haar gezogen wie eine Schmalspurbahn durch unwillig ausweichendes Walddickicht. Fühlte Peter den Blick seines Vaters darauf ruhn, so senkte er den Kopf, um mit dem Kinn die rote, schreiend schöne Krawatte zu verdecken, die sein Erzieher noch nicht kannte. Denn einen Augenblick später konnte sich der Blick sanft an einer solchen Entdeckung erweitern und der Mund ihm folgen, und Worte hervorbringen von der »Unterwerfung unter die Parolen von Hanswursten und Laffen« oder von »sozialer Gefallsucht und knechtischer Eitelkeit«, die Peter kränkten. Diesmal geschah aber nichts, und erst nach einer Weile, während die Teller gewechselt wurden, sagte Lindner gütig und unbestimmt – es war nicht einmal sicher, ob er die Krawatte meine oder nur von einem unbewußt aufgenommenen Anblick zu seinem Mahnwort bestimmt werde: »Menschen, die noch sehr mit ihrer Eitelkeit zu kämpfen haben, sollten in ihrer äußeren Erscheinung alles Auffallende meiden . . .!«
Peter benutzte diese unerwartete Charakterabwesenheit seines Vaters, um eine Geschichte von einem Ungenügend vorzubringen, das er aus Ritterlichkeit erhalten haben wollte, weil er, nach einem Kameraden geprüft, sich mit Absicht unvorbereitet gezeigt habe, um diesen, angesichts unerhörter Anforderungen, die für Schwächere einfach unerfüllbar seien, nicht in den Schatten zu stellen.
Professor Lindner schüttelte bloß den Kopf dazu.
Aber als der Mittelgang abgetragen wurde und die Nachspeise auf den Tisch kam, begann er nachdenklich und behutsam: »Sieh, gerade in den Jahren des größten Appetits kann man die folgenreichsten Siege über sich gewinnen, und zwar nicht etwa durch ungesundes Hungern, sondern nach ausreichender Ernährung durch gelegentlichen Verzicht auf ein Lieblingsgericht!«
Peter schwieg und zeigte kein Verständnis dafür, aber sein Kopf bedeckte sich wieder bis über die Ohren mit lebhaftem Rot.
»Es wäre verfehlt,« fuhr sein Vater bekümmert fort »wenn ich dich für dieses Ungenügend strafen wollte, denn da du überdies kindisch lügst, liegt noch ein solcher Mangel an sittlichem Ehrbegriff vor, daß man den Boden erst urbar machen muß, auf dem die Strafe wirken kann. Ich verlange darum von dir nichts, als daß du das selbst einsiehst, und bin sicher, daß du dich dann auch selbst bestrafen wirst!«
Dies war der Augenblick, wo Peter lebhaft auf seine schwache Gesundheit hinwies wie auch auf seine Überarbeitung, die in letzter Zeit sein Versagen in der Schule verursacht haben könnten und ihn außerstand setzten, seinen Charakter durch Verzicht auf den letzten Gang zu stählen.
»Der französische Philosoph Comte« erwiderte Professor Lindner darauf gelassen »pflegte nach dem Essen an Stelle des Desserts auch ohne besonderen Anlaß ein Stück trockenen Brots zu kauen, bloß um dabei an diejenigen zu denken, die nicht einmal trockenes Brot haben. Es ist ein feiner Zug, der uns daran erinnert, daß jede Übung in der Enthaltsamkeit und Einfachheit eine tiefe soziale Bedeutung hat!«
Peter hatte schon längst eine äußerst unvorteilhafte Vorstellung von der Philosophie, aber auch die Dichtkunst brachte ihm sein Vater nun in üble Erinnerung, denn er fuhr fort: »Auch der Dichter Tolstoi sagt, die Enthaltsamkeit sei die erste Stufe zur Freiheit. Der Mensch hat viele knechtische Begierden, und damit der Kampf gegen alle erfolgreich sei, muß man bei den elementarsten beginnen: der Eßsucht, dem Müßiggang und der Sinnenlust.« – Professor Lindner pflegte eines dieser drei Worte, die in seinen Ermahnungen oft vorkamen, so unpersönlich wie das andere auszusprechen; und lange, ehe Peter mit dem Wort Sinnenlust eine bestimmte Vorstellung zu verbinden vermochte, hatte er schon den Kampf gegen sie an der Seite des Kampfes gegen Eßsucht und Müßiggang kennengelernt, ohne sich etwas anderes dabei zu denken als sein Vater, der sich nichts mehr dabei zu denken brauchte, weil er sicher war, daß damit der Elementarunterricht in der Selbstbestimmung beginne. Auf diese Weise kam es, daß Peter an einem Tag, wo er die Sinnenlust zwar auch noch nicht in ihrer begehrtesten Gestalt kannte, ihr aber doch schon um die Röcke strich, zum erstenmal davon überrascht wurde, daß er gegen ihre lieblose, von seinem Vater gewohnheitsmäßig ausgeführte Verbindung mit Eßsucht und Müßiggang plötzlich zornigen Widerwillen empfand; er durfte es bloß nicht geradeswegs ausdrücken, sondern mußte lügen und rief aus: »Ich bin ein schlichter Mensch und kann mich nicht mit Dichtern und Philosophen vergleichen!« Wobei er trotz seiner Erregung die Worte nicht unbedacht wählte.
Sein Erzieher schwieg darauf.
»Ich habe Hunger!« fügte Peter noch leidenschaftlicher hinzu.
Lindner lächelte schmerzlich und verächtlich.
»Ich gehe zugrunde, wenn ich nicht genügend zu essen bekomme!« plärrte Peter beinahe.
»Die erste Erwiderung des Menschen auf alle Eingriffe und Angriffe von außen, geschieht mittels der Stimmwerkzeuge!« belehrte ihn sein Vater.
Und das »klägliche Geschrei der Begierden«, wie Lindner es nannte, erstarb. Peter wollte an diesem besonders männlichen Tag nicht weinen, aber die Forderung, beredten Verteidigungsgeist zu entwickeln, lastete furchtbar auf ihm. Es fiel ihm durchaus nichts mehr ein, und er haßte in diesem Augenblick sogar die Lüge, weil man sprechen muß, um sich ihrer zu bedienen. In seinen Augen wechselte Mordgier mit Klagegeheul. Als es so weit gekommen war, sagte Professor Lindner gütig zu ihm: »Du mußt dir ernsthafte Übungen in der Schweigsamkeit auferlegen, damit nicht der unbedachte und ungebildete Mensch in dir rede, sondern der besonnene und erzogene, von dem Worte ausgehn, die Friede und Festigkeit bringen!« Und dann dachte er mit freundlichem Antlitz nach. »Ich habe, wenn man andere gut machen will, keinen besseren Rat,« eröffnete er das Ergebnis, zu dem er kam, seinem Sohn »als daß man selbst gut sei; auch Matthias Claudius sagt: ›Ich kann nichts anderes aussinnen, als daß man selbst sein muß, wie man die Kinder machen will‹!« Und mit diesen Worten schob Professor Lindner gütig und entschieden die Nachspeise von sich, obgleich es seine Lieblingsspeise Milchreis mit Zucker und Schokolade war, ohne sie zu berühren, und seinen Sohn durch solche liebende Unerbittlichkeit zwingend, zähneknirschend das gleiche zu tun.
Da geschah es, daß die Wirtschafterin hereinkam und Agathe anmeldete. August Lindner richtete sich verstört auf. »Also doch!« sagte eine schrecklich deutliche stumme Stimme zu ihm. Er war bereit, sich entrüstet zu fühlen, aber er war auch bereit, brüderliche Milde zu empfinden, die sich mit feinem moralischen Tastsinn einfühlt, und diese zwei Gegenspiele, mit einem großen Gefolge von Prinzipien, begannen eine wilde Jagd durch seinen ganzen Körper zu veranstalten, ehe es ihm gelang, den einfachen Befehl zu geben, daß die Dame ins Empfangszimmer geführt werde. »Du erwartest mich hier!« sagte er streng zu Peter und entfernte sich großen Schrittes. Peter aber hatte etwas Ungewöhnliches an seinem Vater bemerkt, er wußte bloß nicht was; immerhin gab es ihm so viel Leichtsinn und Mut, daß er sich nach dessen Abgang und nach kurzem Zögern einen Löffel voll Schokolade in den Mund strich, die zum Überstreuen bereitstand, dann einen Löffel Zucker und schließlich einen großen Löffel voll Reis, Schokolade und Zucker, was er mehrmals wiederholte, ehe er die Schüsseln auf alle Fälle wieder glättete.
Und Agathe saß eine Weile allein in der fremden Wohnung und wartete auf Professor Lindner, denn dieser ging in einem andern Zimmer von einer Seite zur andern und sammelte seine Gedanken, ehe er dem schönen und gefährlichen Weib entgegentrat. Sie sah um sich und fühlte plötzlich eine Angst, als hätte sie sich in den Ästen eines geträumten Baums verstiegen und müßte fürchten, aus seiner Welt von gewundenem Holz und tausend Blättern nicht mehr heil zurückzufinden. Eine Fülle von Einzelheiten verwirrte sie, und in dem dürftigen Geschmack, der sich in ihnen aussprach, verschränkte sich auf das merkwürdigste eine abweisende Herbheit mit einem Gegenteil, für das sie in ihrer Aufregung nicht gleich ein Wort fand. Das Abweisende mochte dabei vielleicht an die gefrorene Steifheit von Kreidezeichnungen erinnern, doch sah das Zimmer auch aus, als röche es großmütterlich verzärtelt nach Arznei und Salbe, und es schwebten altmodische und unmännliche, mit unangenehmer Geflissentlichkeit auf das menschliche Leiden gerichtete Geister in dem Raum. Agathe schnupperte. Und obwohl die Luft nichts als ihre Einbildungen enthielt, sah sie sich von ihren Gefühlen nach und nach weit zurückgeführt und erinnerte sich nun an den bänglichen »Geruch des Himmels«, jenen halb entlüfteten und seiner Würze entleerten, an den Tuchen der Soutanen haften gebliebenen Weihrauchduft, den ihre Lehrer einst an sich getragen hatten, als sie ein Mädchen war, das gemeinsam mit kleinen Freundinnen in einem frommen Institut erzogen wurde und keineswegs in Frömmigkeit erstarb. Denn so erbaulich dieser Geruch auch für Menschen ist, die das Richtige mit ihm verbinden, in den Herzen der heranwachsenden weltlich-widerstrebenden Mädchen bestand seine Wirkung in der lebhaften Erinnerung an Protestgerüche, wie sie Vorstellung und erste Erfahrungen mit dem Schnurrbart eines Mannes oder mit seinen energischen, nach scharfen Essenzen duftenden und von Rasierpuder überhauchten Wangen verbinden. Weiß Gott, auch dieser Geruch hält nicht, was er verspricht! Und während Agathe auf einem der entsagungsvollen Lindnerschen Polsterstühle saß und wartete, schloß sich nun der leere Geruch der Welt mit dem leeren Geruch des Himmels unentrinnbar um sie zusammen wie zwei hohle Halbkugeln, und eine Ahnung wandelte sie an, daß sie im Begriff sei, eine unachtsam überstandene Lebensschulstunde nachzuholen.
Sie wußte nun, wo sie war. Zaghaft bereit, versuchte sie, sich dieser Umgebung anzupassen und der Lehren zu gedenken, von denen sie sich vielleicht zu früh hatte abwenden lassen. Aber ihr Herz scheute bei dieser Willigkeit wie ein Pferd, das keinem Zuspruch zugänglich ist, und fing in wilder Angst zu laufen an, wie es geschieht, wenn Gefühle da sind, die den Verstand warnen möchten und keine Worte finden. Trotzdem versuchte sie es nach einer Weile abermals; und um es zu unterstützen, dachte sie dabei an ihren Vater, der ein liberaler Mann gewesen war und für seine Person immer einen etwas seichten Aufklärungsstil zur Schau getragen hatte, unerachtet dessen er aber den Entschluß aufbrachte, sie einer Klosterschule zur Erziehung zu übergeben. Sie fühlte sich geneigt, das als eine Art Versöhnungsopfer aufzufassen und als den von heimlicher Unsicherheit erzwungenen Versuch, einmal das Gegenteil von dem zu tun, wovon man überzeugt zu sein meint: und weil sie sich jeder Inkonsequenz verwandt fühlte, mutete sie die Lage, in die sie sich selbst gebracht hatte, dabei einen Augenblick lang als eine geheimnisvolle unbewußt-töchterliche Wiederholung an. Aber auch dieser zweite, freiwillig geförderte fromme Schauer war nicht von Bestand; und anscheinend hatte sie ein für allemal, als sie in allzu seelsorgliche Obhut gesteckt worden, die Fähigkeit verloren, für ihre bewegten Ahnungen den Ankerplatz in einem Glauben zu finden: Denn sie brauchte bloß wieder ihre Umgebung zu mustern, und mit dem grausamen Spürsinn, den die Jugend für den Abstand hat, der zwischen der Unendlichkeit einer Lehre und der Endlichkeit des Lehrers besteht, ja auch leicht dahin führt, von dem Diener auf den Herrn zurückzuschließen, sah sie sich von dem sie umrahmenden Heim, darin sie sich gefangen begeben und erwartungsvoll niedergelassen hatte, plötzlich unaufhaltsam zum Lachen gereizt.
Doch grub sie unwillkürlich die Nägel in das Holz des Sessels, denn sie schämte sich der Unschlüssigkeit. Und am liebsten hätte sie dem Unbekannten, der sich der Tröstung anmaßte, alles, was sie bedrückte, jetzt so rasch wie möglich und auf einmal ins Gesicht geschleudert, so er bloß geruht hätte, sich endlich zu zeigen: Den bösen Handel mit dem Testament – völlig unverzeihlich, wenn man es ohne Trotz überlegt. Hagauers Briefe, ihr Abbild so abscheulich verzerrend wie ein schlechter Spiegel, ohne daß sich die Ähnlichkeit ganz hätte leugnen lassen. Dann wohl auch, daß sie diesen Mann vernichten wollte, nun aber doch nicht wirklich töten; und daß sie ihn einst wohl geheiratet hätte, aber auch nicht wirklich, sondern blind vor Selbstverachtung. Es gab lauter ungewöhnliche Halbheiten in ihrem Leben; aber schließlich hätte dann auch, alles vereinend, die zwischen Ulrich und ihr schwebende Ahnung zur Sprache kommen müssen, und diesen Verrat konnte sie ja doch nie und nimmer begehen! Sie fühlte sich unwirsch wie ein Kind, dem stets eine zu schwere Aufgabe zugemutet wird. Warum wurde das Licht, das sie manchmal sah, jedesmal gleich wieder verlöscht wie eine durch weites Dunkel schwankende Laterne, deren Schimmer von der Finsternis bald eingeschluckt, bald freigegeben wird?! Sie war aller Entschließung beraubt, und zum Überfluß entsann sie sich, daß Ulrich einmal gesagt habe, wer dieses Licht suche, der müsse über einen Abgrund, der keinen Boden und keine Brücke hat. Glaubte er also zuinnerst selbst nicht an die Möglichkeit dessen, was sie gemeinsam suchten? So dachte sie, und obwohl sie nicht wirklich zu zweifeln wagte, fühlte sie sich doch tief erschüttert. Niemand konnte ihr also helfen als der Abgrund selbst! Dieser Abgrund war Gott: ach, was wußte sie! Mit Abneigung und verächtlich musterte sie die Brücklein, die hinüberführen wollten, die Demut des Zimmers, die fromm an den Wänden angebrachten Bilder, alles das, was ein vertrauliches Verhältnis zu ihm vortäuschte. Sie war ebenso nahe daran, sich selbst zu demütigen, wie sich mit Grausen abzuwenden. Und am liebsten wäre sie wohl noch einmal davongelaufen; als sie sich aber erinnerte, daß sie immer davonliefe, fiel ihr noch einmal Ulrich ein, und sie kam sich »furchtbar feig« vor. Das Schweigen zu Hause war doch schon wie eine Windstille gewesen, die dem Sturm vorangeht, und von dem Druck dieses Herannahens war sie hierhergeschleudert worden. So sah sie es jetzt an, nicht ganz ohne ein aufkommendes Lächeln; und da lag es auch nahe, daß ihr noch etwas einfiel, das Ulrich gesagt hatte, denn er hatte irgend einmal gesagt: »Niemals findet sich ein Mensch selbst völlig feig; denn wenn er vor etwas erschrickt, so läuft er genau so weit davon, daß er sich wieder als Held vorkommt!« Und da saß sie also!