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Nachdenken

 

Seit diesem Auftritt meinte Ulrich, daß er vorwärts getragen würde; eigentlich wäre nur zu sagen gewesen, daß etwas Unverständliches neu hinzugekommen sei, er nahm es aber als Zuwachs an Wirklichkeit auf. Er handelte dabei vielleicht ein wenig wie einer, der seine Meinungen gedruckt gelesen hat und seither von ihrer Unumstößlichkeit überzeugt ist; aber er mochte das belächeln, zu ändern vermochte er es nicht. Und Agathe hatte ihm, gerade als er seine Schlüsse aus dem tausendjährigen Buch ziehen, vielleicht aber auch nur sein Erstaunen nochmals ausdrücken wollte, erwidert und mit dem Ausruf das Wort abgeschnitten: »Das haben wir ja schon lange besprochen!« Daß sie immer recht behielte, auch dann, wenn sie es nicht hätte, fühlte Ulrich! Denn ob es zwar nichts weniger als richtig sein konnte, daß zwischen ihnen schon genug gesagt worden wäre, – geschweige denn das Wahre oder Entscheidende! – ja gerade ein solches erlösendes Geschehen oder Zauberwort ausgeblieben war, auf das man anfangs noch hatte hoffen mögen: so wußte er doch auch, daß die Fragen, die sein Leben schon fast seit einem Jahr beherrschten, nun sehr eng und dicht, und nicht in einer verständigen, sondern in einer lebendigen Weise, um ihn zusammengerückt seien. Gerade so, als wäre nun bald doch genug über sie gesprochen worden, wenn sich auch die Antwort nicht eben in Worten ausdrückte.

Er konnte sich nicht einmal vollständig erinnern, was er darüber im Lauf der Zeit gesagt und gedacht hatte, ja beiweitem vermochte er das nicht. Er war wohl offenbar ausgezogen, um mit allen Menschen davon zu sprechen; aber es lag ja auch an dem Vorwurf selbst, daß sich nichts, was man über ihn zu sagen vermochte, in einer fortschreitenden Art aneinander fügte, sondern daß sich alles ebenso vielfältig zerstreute wie berührte. Es entstand immer wieder die gleiche Bewegung des Geistes, die sich von der gewöhnlichen deutlich unterschied, und der Reichtum des in sie Einbezogenen wuchs; aber Ulrich mochte sich erinnern, woran er wollte, so war es von einer solchen Eingebung zur andern immer ebenso weit, wie es zu einer dritten gewesen wäre, und nirgends hob sich eine Behauptung durch ihre beherrschende Stellung hervor. Auf diese Weise erinnerte er sich jetzt auch daran, daß einstmals ein dem ähnliches »Gleichweit«, wie es hier zwischen den Gedanken beinahe lästig und entmutigend wirkte, auf das beglückendste zwischen ihm und der ganzen Welt, die um ihn war, bestanden hatte; scheinbar oder wirklich, eine Aufhebung des Geistes der Trennung, ja beinahe des Raums. Das war damals, in seinen allerersten Mannesjahren, auf der Insel geschehen, wohin er sich vor der Frau Major, mit ihrem Bilde im Herzen, geflüchtet hatte. Er hatte es wohl auch fast mit den gleichen Worten beschrieben. Alles war auf unverständlich sichtbare Weise durch einen Zustand der Liebesfülle verändert, als hätte er ehedem nur einen Zustand der Armut gekannt. Selbst der Schmerz war Glück. Beinahe auch sein Glück ein Schmerz. Alles war ihm hangend zugeneigt. Es schien, daß alle Dinge von ihm wüßten, und er von ihnen; daß alle Wesen von einander wüßten, und daß es doch ein Wissen überhaupt nicht gäbe, sondern daß Liebe mit ihren Attributen der schwellenden Fülle und des reifenden Werdens als das einzige und vollkommene Gesetz diese Insel beherrschte. Er hatte das später, mit geringfügigen Änderungen, oft genug als Vorlage benutzt, und mehr oder minder hätte er auch in den letzten Wochen diese Beschreibung erneuern können; es war durchaus nicht schwer, in ihr fortzufahren, und je bedenkenloser man es tat, desto fruchtbarer geschah es. Aber gerade diese Unbestimmtheit war das, woran ihm jetzt am meisten lag. Denn hingen seine Gedanken so zusammen, daß sich ihnen nichts Wesentliches hinzufügen ließ, das sie nicht aufgenommen hätten wie einen Hinzukommenden, der in einer Versammlung verschwindet, so bewiesen sie damit doch bloß ihre Ähnlichkeit mit den Empfindungen, durch die sie zum erstenmal in Ulrichs Leben gerufen worden waren; und diese Übereinstimmung einer, nun durch Agathe, zum zweitenmal erlebten Veränderung der Sinnessphäre, von der die Welt ergriffen zu werden schien, mit einem veränderten Denken, – von dem man auch hätte sagen können, daß es sich in unendlichen Träumen auf seinem Platz winde; und schon einmal war es schließlich daran ermattet! – diese merkwürdige Übereinstimmung, die Ulrich heute erst ganz beachtete, gab ihm Mut und Befürchtungen ein. Er wußte noch, daß er damals den Ausdruck, ins Herz der Welt geraten zu sein, gebraucht hatte. Gab es das? War es wirklich mehr als eine Umschreibung? Er war dem Anspruch der Mystik, daß man sich selbst aufgeben müsse, nur mit Ausschluß des Kopfes geneigt: aber mußte er sich nicht gerade darum eingestehn, daß er heute nicht viel mehr davon wisse als ehedem?!

Er ging weiter diese Breiten entlang, die scheinbar nirgends in ihre Tiefen einließen. Ein andermal hatte er alles dies »das rechte Leben« genannt; wohl noch vor kurzem, wenn er nicht irrte; und erst wenn man ihn früher gefragt hätte, was er treibe, so hätte er auch während seiner exaktesten Beschäftigungen gewöhnlich keine andere Antwort darauf gehabt als die, daß sie Vorarbeiten für das rechte Leben seien. Daran nicht zu denken, war überhaupt unmöglich. Zwar ließ sich nicht sagen, wie es aussehen müßte, ja nicht einmal, ob es wirklich eines gebe, und es war vielleicht nur eine jener Ideen, die mehr ein Wahrzeichen als eine Wahrheit sind; aber ein Leben ohne Sinn, eines, das nur den sogenannten Erfordernissen gehorchte, und ihrem als Notwendigkeit verkleideten Zufall, somit ein Leben der ewigen Augenblicklichkeit – und da fiel ihm wieder ein Ausdruck ein, den er einmal gebildet hatte: Die Vergeblichkeit der Jahrhunderte! –: ein solches Leben war ihm einfach eine unerträgliche Vorstellung! Nicht weniger aber auch ein Leben »für etwas«, diese von Meilensteinen beschattete Landstraßendürre inmitten undurchmessener Breiten. Das alles mochte er ein Leben vor der Entdeckung der Moral heißen. Denn auch das war eine seiner Ansichten, daß die Moral nicht von den Menschen geschaffen wird und mit ihnen wechselt, sondern daß sie geoffenbart wird, daß sie in Zeiten und Zonen entfaltet wird, daß sie geradezu entdeckt werden könne. In diesem Gedanken, der so unzeitgemäß wie zeitgemäß war, drückte sich vielleicht nichts als die Forderung aus, daß auch die Moral eine Moral haben müsse, oder die Erwartung, daß sie sie im Verborgenen habe, und nicht bloß eine sich um sich selbst drehende Klatschgeschichte auf einem bis zum Zusammenbruch kreisenden Planeten sei. Er hatte natürlich niemals geglaubt, daß der Inhalt solcher Forderung mit einem Schlag entdeckt werden könnte; es kam ihm bloß wünschenswert vor, beizeiten daran zu denken, das heißt, in einem Zeitpunkt, der nach etlichen Jahrhunderttausenden zwecklosen Drehens verhältnismäßig günstig und geeignet für die Frage zu sein schien, ob sich nicht eine Erfahrung daraus gewinnen lasse. Aber freilich, was wußte er nun auch von dem wirklich? Es war im ganzen nicht mehr, als daß auch dieser Kreis von Fragen im Verlauf seines Lebens dem gleichen Gesetz oder Schicksal unterworfen gewesen sei wie die anderen Kreise, die sich nach allen Seiten aneinanderschlossen, ohne eine Mitte zu bilden.

Er wußte natürlich mehr davon! Zum Beispiel, daß so zu philosophieren, wie er es da tat, für schrecklich unernst gelte, und er wünschte in diesem Augenblick auf das lebhafteste, diesen Irrtum widerlegen zu können. Er wußte auch, wie man so etwas beginnt: er kannte einigermaßen die Geschichte des Denkens; er hätte darin ähnliche Bemühungen finden können und ihre erbitterte oder spöttische oder ruhige Bestreitung; er hätte sein Material ordnen, einordnen können; er hätte Fuß fassen und über sich hinausgreifen können. Für eine Weile erinnerte er sich schmerzlich seiner früheren Tüchtigkeit und namentlich jener Gesinnung, die ihm so natürlich war, daß sie ihm einmal sogar den Spottnamen eines »Aktivisten« eingetragen hatte. War er denn nicht mehr der, den beständig die Vorstellung begleitete, daß man sich um die »Ordnung des Ganzen« bemühen müsse; hatte nicht er mit einer gewissen Hartnäckigkeit die Welt einem »Laboratorium« einer »Experimentalgemeinschaft« verglichen; hatte er nie von einem »fahrlässigen Bewußtseinszustand der Menschheit« gesprochen, der in einen Willen zu verwandeln wäre; gefordert, daß man Geschichte »machen« müsse; hatte er nicht schließlich wirklich, wenn es auch nur spöttisch geschah, ein »Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele« verlangt? Das war nicht vergessen, denn darin kann man sich nicht plötzlich ändern; das war bloß augenblicklich außer Wirksamkeit gesetzt! Es ließ sich auch nicht verkennen, woran das liege. Ulrich hatte nie über seine Gedanken Buch geführt; aber selbst wenn er sich aller auf einmal hätte entsinnen können, so wäre es ihm, das wußte er, nicht möglich gewesen, sie einfach vorzunehmen, zu vergleichen, an möglichen Erklärungen zu prüfen und schließlich das reine, so dünne Blättchen des Metalls der Wahrheit aus den Dämpfen zum Vorschein zu führen. Es war ja eine Eigentümlichkeit dieser Art von Gedanken, daß sie keinen Fortschritt zur Wahrheit besaß; und obwohl Ulrich im Grunde voraussetzte, daß sich ein solcher Fortschritt durch einen unendlichen und langsamen Vorgang in der Gesamtheit einmal doch einstellen werde, so war es ihm kein Trost, denn er besaß nicht mehr die Geduld des Sich-überleben-lassens von dem, wozu man bloß wie eine Ameise etwas beiträgt. Seine Gedanken standen mit der Wahrheit längst nicht mehr auf dem besten Fuß, und nun kam ihm wieder das als die Frage vor, die am dringendsten der Aufklärung bedurft hätte.

Er war damit aber nochmals auf den Gegensatz von Wahrheit und Liebe zurückgekommen, der ihm kein neuer war. Es fiel ihm ein, wie oft in den letzten Wochen Agathe über seine, für ihren Geschmack noch viel zu pedantische Wahrheitsliebe gelacht habe; und manchmal mochte sie davon auch Kummer gehabt haben! Und plötzlich fand er sich bei dem Gedanken, daß es eigentlich kein widerspruchsvolleres Wort gebe als Wahrheitsliebe. »Denn man kann die Wahrheit auf Gott weiß wieviel Weisen hochstellen, bloß lieben darf man sie nicht, weil sie sich ja in der Liebe auflöst« dachte er. Und diese Behauptung, – keineswegs das gleiche wie die kleinmütige, daß die Liebe keine Wahrheit vertrage – war für ihn ebenso vertraut-unvollendbar wie alles übrige. Sobald einem Menschen die Liebe nicht als ein Erlebnis begegnet, sondern als das Leben selbst, mindestens als eine Art des Lebens, kennt er mehrere Wahrheiten. Der ohne Liebe Urteilende nennt das Ansichten, persönliche Auffassungen, Subjektivität, Willkür; aber der Liebende weiß, er ist nicht unempfindlich für die Wahrheit, er ist überempfindlich. Er befindet sich in einer Art Enthusiasmus des Denkens, wo sich die Worte bis zum Grund öffnen. Das kann natürlich eine Täuschung sein, und Ulrich berücksichtigte es, die natürliche Folge allzu lebhaft beteiligten Gefühls. Wahrheit entsteht bei kaltem Blut; das Gefühl ist ihr abträglich, und sie dort zu erwarten, wo etwas »Sache des Gefühls« ist, gilt nach aller Erfahrung für ebenso verkehrt, wie Gerechtigkeit vom Zorn zu fordern. Trotzdem war es unbezweifelbar, was die Liebe als »das Leben selbst« von der Liebe als Erlebnis der Person unterschied. Und Ulrich überlegte nun, wie deutlich doch die Schwierigkeiten, die ihm die Ordnung seines Lebens darbot, immer mit diesem Begriff einer übermächtigen, sozusagen ihre Kompetenz überschreitenden, Liebe zusammengehangen seien. Von dem Leutnant, der ins Herz der Welt versank, bis zu dem Ulrich des letzten Jahres mit seiner mehr oder weniger überzeugten Behauptung, daß es zwei grundlegend verschiedene und schlecht verschmolzene Lebenszustände, Ichzustände, ja vielleicht sogar Weltzustände gebe, waren die Bruchstücke der Erinnerung, soweit er sie sich zu vergegenwärtigen vermochte, alle in irgendeiner Form mit dem Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und gartenhaftkampflosen Seelengefilden verbunden. In diesen Breiten lag auch die Vorstellung des »rechten Lebens«; so leer sie im hellen Verstandeslicht sein mochte, so reich wurde sie vom Gefühl mit halb geborenen Schatten erfüllt.

Es war ihm gar nicht angenehm, diese Bevorzugung der Liebe in seinem Denken so eindeutig anzutreffen; er hatte eigentlich erwartet, daß darin mehr und noch anderes zu gewahren sein müßte und daß Erschütterungen wie die des letzten Jahres ihre Bewegung nach verschiedenen Richtungen getragen hätten; ja, es kam ihm wirklich wunderlich vor, daß der Eroberer, dann der Moralingenieur, als die er sich in seinen Kraftjahren erwartet hatte, schließlich zu einem Minnenden und Minnesüchtigen ausreifen sollten.


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