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Eine Eintragung. Entwurf zur Utopie des motivierten Lebens
»Es ist nur eine kleine Herausforderung des Lebens gewesen, daß sie mir diese Fragen stellte, und sollte bedeuten: Du und ich leben doch auch noch außerhalb des ›Zustands‹! Man kann ebenso gut ausrufen: ›Bitte, reiche mir Wasser!‹ Oder: ›Halt! laß das Licht doch brennen!‹ Es ist eine Augenblicksbitte, etwas Eiliges, Unbeaufsichtigtes und nichts weiter. Ich sage: ›nichts weiter‹, aber weiß doch: es ist nichts weniger als liefe eine Göttin einem Autobus nach, damit er sie noch mitnehme! Eine unmystische Gangart, ein Zusammenbruch des Wahnwitzes! An solchen kleinen Erlebnissen wird es deutlich, wie sehr unser Zustand eine bestimmte einzige Gemütslage zur Voraussetzung hat und augenblicklich umkippt, wenn man sie aus dem Gleichgewicht bringt.
Und doch machen solche Augenblicke erst recht glücklich. Wie schön ist Agathes Stimme! Welches Vertrauen liegt in einer solchen ganz kleinen Bitte, die mitten in einem hohen und feierlichen Zusammenhang auftritt! Sie ist rührend, wie es zwischen einem Strauß kostbarer Blumen ein Wollfaden ist, der vom Kleid der Geliebten hängen geblieben ist, oder ein vorstehendes Stückchen Draht, für das die Hände der Binderin zu schwach waren. In solchen Augenblicken weiß man genau, daß man sich überschätzt, und doch erscheint alles, was mehr ist als man selbst, erscheinen alle Gedanken der Menschheit wie ein Spinngewebe; der Körper gleicht dann einem Finger, der es in jeder Sekunde zerreißt und an dem ein wenig davon haften bleibt.
Soeben habe ich gesagt: die Hände der Binderin, und habe mich dem Schaukelgefühl eines Gleichnisses überlassen, als könnte diese Frau niemals eine fettleibige ältere Person sein. Das ist Mondschein von der falschen Sorte! Und deshalb habe ich auch Agathe eher einen methodischen Vortrag gehalten als eine unmittelbare Antwort gegeben. Aber eigentlich habe ich ihr nur das Leben beschrieben, das mir vorschwebt. Ich will das wiederholen, und, wenn ich kann, verbessern.
In der Mitte steht etwas, das ich Motivation genannt habe. Im gewöhnlichen Leben handeln wir nicht nach Motivation, sondern nach Notwendigkeit, in einer Verkettung von Ursache und Wirkung; allerdings kommt immer in dieser Verkettung auch etwas von uns selbst vor, weshalb wir uns dabei für frei halten. Diese Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will. Aber Motivation hat mit Wollen keine Berührung; sie läßt sich nicht nach dem Gegensatz von Zwang und Freiheit einteilen, sie ist tiefster Zwang und höchste Freiheit. Ich habe das Wort gewählt, weil ich kein besseres fand; es ist wohl verwandt mit dem Ausdruck Motiv der Malersprache. Wenn ein Landschaftsmaler des Morgens mit der Absicht auszieht, ein Motiv zu suchen, so wird er es meist finden, das heißt, etwas, das seine Absicht erfüllt; doch muß man richtiger sagen, das in seine Absicht paßt – so wie ein Wort in jeden Mund paßt, wenn es bloß nicht zu groß ist. Denn etwas, das erfüllt, das ist etwas Seltenes, es überfüllt sogleich, strömt über die Absicht und ergreift den ganzen Menschen. Der Maler, der ›etwas‹ malen wollte, wenngleich in ›persönlicher Auffassung‹, malt nun an sich, er malt um sein Seelenheil, und nur in solchen Augenblicken hat er wirklich ein Motiv vor sich, in allen anderen redet er sich das bloß ein. Da ist etwas über ihn gekommen, das Absicht und Wille zerdrückt. Wenn ich sage, es habe mit ihnen überhaupt nichts zu tun, übertreibe ich natürlich. Aber man muß übertreiben, wenn man die Heimat seiner Seele vor sich hat. Es gibt sicher alle Arten Übergänge, aber so wie in der Farbenleiter selbst: Du kommst durch unzählige Vermischungen vom Grün zum Rot, bist du aber erst dort, so bist du es ganz und gar und ohne die geringste Spur mehr von Grün.
Agathe sagte, es sei die gleiche Abstufung wie die, daß man das meiste gewähren lasse, manches aus Neigung tue, und endlich, daß man aus Liebe handle.
Jedenfalls gibt es etwas Ähnliches auch im Sprechen. Man kann deutlich einen Unterschied machen zwischen einem Gedanken, der nur Denken ist, und einem, der den ganzen Menschen bewegt. Dazwischen gibt es alle Arten Übergänge. Ich habe Agathe gesagt: wir wollen nur noch sprechen, was den ganzen Menschen bewegt!
Aber wenn ich allein bin, denke ich daran, wie unklar das ist. Mich kann auch ein wissenschaftlicher Gedanke bewegen. Aber das ist nicht die Art Bewegung, auf die es ankommt. (Anderseits kann mich auch ein Affekt ganz bewegen, und doch bin ich nachher bloß bestürzt.) Je wahrer etwas ist, desto mehr ist es von uns in einer eigenartigen Weise abgewandt, mag es uns noch so viel angehn. Tausendmal habe ich mich schon nach diesem merkwürdigen Zusammenhang gefragt. Man könnte meinen, je weniger ›objektiv‹ etwas sei, je ›subjektiver‹, desto mehr müßte es uns dann in der gleichen Weise zugewandt sein; aber das ist falsch; die Subjektivität kehrt unserem inneren Wesen gerade so den Rücken zu wie die Objektivität. Subjektiv ist man in Fragen, wo man heute so und morgen anders denkt, entweder weil man nicht genug weiß oder weil der Gegenstand selbst von der Willkür des Gefühls abhängt: aber was ich und Agathe einander sagen möchten, ist nicht der vor- oder beiläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebenso aber auch als Irrtum erkannt werden könnte, und nichts ist unserem Zustand fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit solcher geistreichen Einfälle, denn zwischen uns ist alles von einem strengen Gesetz beherrscht, wenn wir es auch nicht aussprechen können. Die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität kreuzt die, an der wir uns bewegen, ohne sie zu berühren.
Oder soll ich mich vielleicht an die aufgewühlte Subjektivität der Redekämpfe halten, die man mit Jugendgefährten ausführt? An ihre Mischung von persönlicher Empfindlichkeit und Sachlichkeit, an ihre Bekehrungen und Apostasien? Sie sind die Vorstufe der Politik und Geschichte und der Humanität mit ihrem schwankenden, unbestimmten Inhalt. Sie bewegen das ganze Ich, sie stehen mit seinen Leidenschaften in Verbindung und suchen ihnen die Würde eines geistigen Gesetzes und den Anschein eines unfehlbaren Systems zu verleihen. Was sie uns bedeuten, liegt daran, daß sie uns andeuten, wie wir zu sein haben. Und gut, auch wenn mir Agathe etwas sagt, ist es immer, als ginge ihr Wort durch mich, und nicht bloß durch den Gedankenbereich, an den es sich wendet. Aber was zwischen uns geschieht, hat scheinbar gar nicht große Bedeutung. Es ist so still. Es weicht der Erkenntnis aus. Mir fallen die Worte milchig und opalisierend ein: was zwischen uns geschieht, ist wie eine Bewegung in einer schimmernden, aber nicht sehr durchlässigen Flüssigkeit, die immer ganz mitbewegt wird. Es ist beinahe völlig gleichgültig, was geschieht: alles geht durch die Mitte des Lebens. Oder kommt aus ihr zu uns. Ereignet sich mit dem merkwürdigen Gefühl, daß alles, was wir je getan haben und tun konnten, mitbeteiligt sei. Wenn ich es so greifbar wie möglich beschreiben will, muß ich sagen: Agathe gibt mir irgendeine Antwort oder tut etwas, und sogleich gewinnt es für mich ebensoviel Bedeutung wie für sie, ja scheinbar die gleiche Bedeutung oder eine ähnliche. Vielleicht verstehe ich sie in Wirklichkeit gar nicht richtig, aber ich ergänze sie in der Richtung ihrer inneren Bewegung. Wir erraten offenbar, weil wir in der gleichen Erregung sind, das, was diese steigern kann, und müssen unwiderstehlich folgen ... Wenn zwei Menschen in Zorn oder Liebe geraten, steigern sie sich gegenseitig auf eine ähnliche Weise. Aber die Eigenart der Erregung und der Bedeutung, die alles in dieser Erregung annimmt, ist eben das Außerordentliche.
Könnte ich sagen, wir werden von dem Gefühl begleitet, in Einklang mit Gott zu leben, es wäre einfach; aber wie soll man voraussetzungslos beschreiben, was uns dauernd erregt? ›In Einklang‹ ist richtig, aber womit ist nicht zu sagen. Wir werden von dem Gefühl begleitet, daß wir die Mitte unseres Wesen erreicht haben, die geheimnisvolle Mitte erreicht haben, wo die Fliehkraft des Lebens aufgehoben ist, wo die unaufhörliche Drehung des Erlebens aufhört, wo das laufende Band der Eindrücke und Ausstöße, das der Seele Ähnlichkeit mit einer Maschine gibt, stillsteht, wo die Bewegung Ruhe ist, daß wir an die Achse des Kreisels gelangt sind. Das sind symbolische Ausdrücke, und ich hasse diese Symbole geradezu, weil sie sich so leicht anbieten und unendlich ausbreiten, ohne etwas zu ergeben. Ich will es lieber noch einmal versuchen, und so nüchtern wie möglich: die Erregung, in der wir leben, ist die der Richtigkeit. Von diesem Wort, das in solcher Anwendung ebenso ungewöhnlich wie nüchtern ist, fühle ich mich ein wenig beruhigt. Zufriedenheit und Sättigung der Wünsche sind im Gefühl der Richtigkeit enthalten, Überzeugung gehört zu ihm und Stillung, es ist der tiefe Zustand, in den man nach Erreichen seines Ziels verfällt. Wenn ich fortfahre, mir das so darzustellen, und mich frage: welches Ziel ist erreicht; so weiß ich es nicht. Das ist schon wieder der Einklang mit dem unbezeichenbaren ›Womit›‹. Und eigentlich ist es auch nicht ganz richtig, von einem Zustand des erreichten Ziels zu sprechen; zumindest ist es ebenso wahr, daß der Zustand von einem dauernden Eindruck der Steigerung begleitet ist. Aber es ist eine Steigerung ohne Fortschritt. Ebenso ist es ein Zustand des höchsten Glücks, führt aber nicht über ein schwaches Lächeln hinaus. Wir fühlen uns in jeder Sekunde emporgerissen, verhalten uns aber äußerlich wie innerlich ziemlich reglos; die Bewegung hört niemals auf, aber sie schwingt auf engstem Raum. Auch ist eine tiefe Sammlung mit einer weiten Zerstreutheit verbunden, und das Bewußtsein lebhafter Tätigkeit mit der Überwältigung durch ein Geschehen, das wir nicht genügend verstehen. So endet der Vorsatz, daß ich mich auf das Nüchternste beschränke, sogleich wieder in befremdlichen Widersprüchen. Aber das, was sich dem Geist so zerrissen darstellt, ist als Erlebnis von großer Natürlichkeit. Es ist einfach da; also müßte es auch dem richtigen Verständnis einfach sein!
Auch besteht zwischen Agathe und mir nicht die geringste Verschiedenheit in der Meinung, daß die Frage: ›Wie soll ich leben?‹, die wir uns beide aufgegeben hatten, beantwortet ist: So soll man leben!
Und manchmal erscheint es mir verrückt.«