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Achtzehntes Kapitel.
Tod am Ganges

Wir erreichten Benares in zwanzig Stunden, ungefähr mitten in der Nacht. Unsere Kranke verfiel so rasch, daß wir sie geradeswegs zum Ufer des Ganges brachten, wo sie ihr Leben auszuhauchen begehrte. Nachdem der Priester sie in meine Obhut gegeben hatte, ging er auf die Suche nach einem Arzt.

Es war eine wolkige Nacht, die langsam klarer wurde und immer größere ausgestirnte Flecken über dem Fluß enthüllte, der am Fuß des Ghat murmelte und klagte. Dort wartete ich auf das Kommen des Doktors. Hin und wieder stöhnte Kuri, halb im Fieberwahn und halb vor Schmerzen.

Alle die zahlreichen Ghats waren verödet. Außer dem hungrigen Klagen eines Hundes unterbrach nichts die verzehrende Einsamkeit, die uns umgab. Ich horchte auf Schritte, ach, vergebens. Kuri kam für einen Augenblick wieder zum Bewußtsein und verlangte nach einem Trunk. Ich lief zum Fluß hinab, schöpfte ein wenig Wasser und eilte wieder zu ihr herauf. Nachdem sie den letzten Tropfen verschluckt hatte, bewegte sich etwas wie ein Licht, das zwischen ihr und mir stand. Es schien zu mir zu sprechen: »Gräme dich nicht.« In diesem Augenblick entfloh die Seele aus ihrem Körper, und dann geschah etwas Ungewöhnliches. Kann ich es euch begreiflich machen? Ich empfand nicht das überwältigende Schweigen des Todes, sondern hatte den Eindruck, daß meine Tante höchst beredt geworden sei. Sie sagte mir Zehntausenderlei auf einmal. Sie war mir jetzt näher denn je zuvor. Sie und ich waren uns unbeschreiblich vertraut.

Gerade als mein Einssein mit ihr am vollkommensten war, hörte ich jemand um die Tote gehen. Langsam ließ die scheidende Seele von mir ab, und siehe! ich war in diese Welt zurückgestoßen. Ein entsetzliches Gefühl der Trostlosigkeit ergriff mein Herz. Jetzt hörte ich deutlich einen Fremden – den Doktor – zum Priester sagen, daß alles vorüber sei. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verstrich; das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß die Fuhrleute Ladungen von Holz auf ihren Karren herbeibrachten, und daß der Priester sang. Augenscheinlich hatte sich der Doktor um alle Anordnungen gekümmert, aber ich hatte keine Augen für das Holz; nur meine Ohren waren wachsam. Ich hörte den Priester feierlich sprechen:

»Ohne Geburt, ohne Tod, ohne Wandel ist die Seele.
Wer denkt, daß sie sterbe, weiß nicht die Wahrheit.
Wie könnte sie sterben, wenn sie nie gewillt war geboren zu werden?
          Sie steht über dem Wandel,
          Sie steht über dem Tod,
          Sie ist gleichewig mit Gott.«

Mit Hilfe der Fuhrleute stapelten wir das Holz auf und bauten daraus ein hohes Lager, und langsam und sorgfältig legten wir die Tote darauf. Wir bedeckten sie mit Stößen von Sandelholz, über das gewöhnliches Holz geschichtet wurde. Obgleich ich mein Herz brechen fühlte, mußte ich, da ich ihr nächster Verwandter war, die letzten Riten vollziehen. Ich entzündete eine Fackel und umschritt siebenmal das Feuer, wobei ich betete, wie der Priester mich hieß:

         »Akasastu niralamba
         Vaya bhoota nirasraya.
Jetzt bist du heimatlos unter dem Himmel:
Der Wind, die Erde und alle lebendigen Welten
Vermögen dich nicht mehr zu halten.

*

Geh, geh in das Reich des ewigen Lebens, woher du gekommen bist!
Die Väter des Stammes,
Die Göttlichen Eltern, grüßen dich.
Leg an das Gewand des göttlichen Glanzes
Auf sternbestreuten Tälern zwischen Strömen ans Licht
Und weile für immer dort, wo alle Begierden gestillt sind.«

Jetzt hielt ich die Fackel an den Scheiterhaufen und setzte ihn in Brand. Als der Rauch vom Wind weggeblasen wurde, stiegen die Flammen hoch empor.

Nicht weit von der Stelle, wo wir die Tote einäscherten, kamen die Pilger, Tausende zugleich, die langen Treppen der Ghats hinab, um ihr Morgenbad zu nehmen, bevor sie in den Tempel gingen, Gott bei Sonnenaufgang anzubeten. Alles schien mir traurig. Was mich rings umgab war nicht eine Stadt, sondern ein schwermütiger Bienenschwarm.

Gegen Mittag schließlich lag dort, wo ein Feuer gewesen war, eine Handvoll Asche. Ich sammelte sie ein und streute sie in die Fluten des Ganges:

»Fahre, fahr' hin auf rauschenden Strömen der Reinheit zum Hause Gottes, wo alles Frieden ist und ewiges Leben.«

In diesem Augenblick hatte ich die Empfindung, als ob in meinem Innern etwas zerbrochen sei. Ein langsam herabsinkender Bogen aus Dunkelheit überdeckte und verschluckte die Felder jenseits des Flusses, den Fluß selbst und ganz zuletzt eben die Stufen der Ghats, auf denen Millionen Menschen standen. Dunkelheit senkte sich auf Dunkelheit, bis ich nichts sah, nichts roch und das Gefühl hatte – ja, ich hatte das Gefühl, als ob eine Fliege über meine bloßen Beine kröche, und wohin immer sie sich bewegte, folgte ihr eine vollkommene Stille. Zuletzt stieg wie Wasser nichts als Stille über meinen Kopf. Weit weg surrte einen Augenblick lang etwas. Dann verstummte auch das.

Nach Aussage des Priesters war ich von der Pest befallen. Stundenlang schwebte ich zwischen Leben und Tod. Ich erinnere mich nur noch daran, daß es mir, so oft ich das Bewußtsein wiedererlangte, so vorkam, als säße meine Tante sinnend über mich gebeugt, und neben ihr sah ich das vornübergeneigte Gesicht des Priesters.

Er versuchte alles, um mich zu retten. Zuerst probierte er es mit einem englischen Arzt und seiner rein europäischen medizinischen Wissenschaft. Das erwies sich als nutzlos. Dann rief er einen Hakim. Hakimi ist die ärztliche Wissenschaft der indischen Moslems. Trotz ihres großen Rufes vermochte sie mich nicht zu retten. Darauf versuchte der Priester es mit unserer eigenen alten Hindu-Heilkunde, Ayurveda, unserer alten »Wissenschaft vom langen Leben«, und auch die sprach mir das Todesurteil. Aber statt darauf zu warten, daß der Tod mich holte, überließ mich der Priester der Pflege eines Brahmatschari, eines jungen Mönchs, und machte sich auf die Jagd nach einem Hathayogi. Nun müßt ihr wissen, daß Hathayogis eine Bruderschaft von halb heiligen Männern sind, die Kranke heilen und andere verblüffende Taten vollbringen. Die meisten von ihnen können Wunder tun.

Eine Stunde vor Mitternacht brachte – so erzählten die, die dabei waren – Purohit einen Hathayogi. Die Götter allein wissen, wie er den Mann fand.

Das einzige, was ich mir lebhaft ins Gedächtnis zurückrufen kann, waren drei über mich gebeugte Männerköpfe. Einen Augenblick sah ich sie an, trotz der starken Schmerzen, die mir in den Körper schnitten, und statt daß ich in einen neuen Anfall von Fieberwahn überging, blieb mein Blick auf jene Gesichter geheftet. Einer der Männer sah mich an. Er sprach »Es ist nicht, es ist nicht, es ist nicht«. Jetzt zog er eine Hand unter seiner Tunika hervor und legte sie mir auf den Kopf. Sie war so kühl. Sie machte meinen Kopf beinahe klar; wie ein Tropfen eiskalten Wassers glitt diese Kühle in meine Wirbelsäule, dann abwärts, abwärts zu meinen Füßen, und wie Schichten dampfender Wolldecken hob sich langsam die drückende Hitze, die mich erstickt hatte – eine Decke nach der anderen. Und damit begann die Befreiung von der qualvollen Todespein meines Körpers. Ich fühlte mich so erschöpft, daß ich augenblicklich einschlief.

Man hat mir erzählt, daß ich anderthalb Tage ununterbrochen schlief, aber als ich endlich aufwachte, war ich ein geheilter Mensch Zur Erhärtung des Obigen: Selbst in einer so kurz zurückliegenden Zeit wie 1920-21, vollbrachte ein Hathayogi namens Dheap Narain einige Heilungen in Allahabad. Er genoß den Ruf, sogar Leute von Kobrabissen zu heilen. Sein Tun war ganz unerklärlich..

Ich blieb jedoch noch weitere vierzehn Tage an mein Bett gefesselt. Ein Monat war nahezu vergangen, bis ich einen längeren Weg machen konnte. Während jener Zeit sah ich den Zauberer, der mich gesund machte, noch zweimal.

Nach seinem ersten Besuch blieb er ein paar Tage weg, dann bekam Purohit, der mich gepflegt hatte, es wieder mit der Angst, da ich noch immer unter einem leichten Fieber litt, das nicht weichen zu wollen schien. Er brummte beständig: »Dieses Fieber ärgert mich. Wenn du gesund bist, weshalb geht dann das elende Fieber nicht gänzlich weg? Ich habe große Lust, noch einmal zu dem Zauberer zu laufen!«

Mag es auch verblüffend klingen, jener Bursche hatte offenbar den Gedanken des Priesters vernommen, denn siehe, in einigen Tagen tauchte er wieder auf. Jetzt sah ich ihn, nicht mit vom Fieberwahn halbblinden Augen, sondern bei klarem Verstand, der in ihm etwas sehr Strenges wahrnahm. Er war nackt bis zur Körpermitte, das übrige war in ein ockerfarbenes Lendentuch gehüllt, was anzeigte, daß er ein Sannyasina, ein Bettelmönch, war. Obgleich er sozusagen seine Uniform trug, zweifelte ich daran, ob er sich völlig der Frömmigkeit geweiht hatte. Sein Gesicht sah hager aus, und seine Augen waren wie kleine Scheinwerfer. Dem Manne fehlte das vornehmste Zeichen der Frömmigkeit – das Abgewandtsein.

Als er sich neben meinem Tschampie Tschampie: leichte Bettstelle auf den Boden hockte, dankte ich ihm überschwenglich, aber das schien ihn zu erzürnen, und er sagte heftig: »Weshalb dankst du mir, Knabe; ich habe nur Verdienst erworben!«

Gerade als ich ihm antworten wollte, überfiel er mich mit der seltsamen Frage: »Warum trauerst du noch immer um deine Tante?«

Ich erwiderte: »Herr, ich kann es nicht ändern.«

Der Lehrer schmatzte mit den Lippen: »Du solltest nicht trauern, denn sie ist nicht tot. Ihr Körper ist verbrannt. Ich sehe ihre Seele hinter dir stehen, mein Kind. Sie beauftragt mich, dir zu sagen, daß du nicht trauern sollst. Wie sie aussieht? Ha, junger Zweifler! Du meinst, ich sähe sie nicht wirklich – ich will sie dir beschreiben.« Darauf gab er eine genaue Schilderung meiner Tante. Er erzählte mir sogar, wie ihr großer Zeh immer von ihren anderen Zehen abgesondert war, wenn sie stand.

»Woher wißt Ihr dies alles?« sagte der Priester.

»Weil die Trauer dieses Knaben die Seele seiner Tante auf der Erde festhält. Sie geht mit ihm, wo immer er hingeht. Durch lange Ausübung frommer Abtötung und vieler Kasteiungen habe ich Gott wohlgefallen, und er schenkte mir die Gabe, Gedanken zu lesen und den Menschen ins Herz zu sehen. Ich gebrauche meine Kräfte, um den Leuten zu helfen. Ich möchte dir helfen, Knabe. Wie kann ich das, wenn du dich selbst durch Trauern krank machst? Gräme dich nicht! Wenn du es tust, wirst du die Seele deiner Tante hier zurückhalten. Gib ihr die Freiheit! Sei fröhlich, damit sie ihren Weg zu Gott fortsetzen kann, denn sie war alt und hat dir lange gedient; erlöse sie davon, dir noch weiter zu dienen!«

»Muß ich sie vergessen, Herr?« fragte ich angstvoll.

»Nein. Halte ihr Gedächtnis lebendig, aber sei nicht abhängig von ihr. Sei stark, hilf ihr

Das schien mir sehr einleuchtend, obgleich ich jung war. Sie, die soviel Kraft und Einsicht in mich gegossen hatte, sollte mich nicht schwach finden. Das schuldete ich ihr vor allem. Ich durfte sie nicht hier unten festhalten. »Ich muß stark sein, ich muß stark sein«, wiederholte ich meinem verborgensten Ich.

Als habe er meine Gedanken gelesen, sagte der Bursche: »Stärke erzeugt Stärke. Gott liebt den Starken. Er hat nicht viel Liebe für den Schwachen.« Mit diesen Worten verlangte er ein Glas Wasser. Sofort brachte der Priester es. Ich wurde aufgefordert, es in die Hand zu nehmen. Kurz darauf berührte der Zauberer die Außenseite des Glases mit dem Finger. Sogleich begann das Wasser in dem Glas zu kochen und zu wallen. Er zog seine Hand einen Augenblick zurück; der Inhalt des Glases wurde ruhig. Wieder berührte er es, und sofort fing das Wasser an zu sprudeln.

Nach dem zweiten Mal sagte er zu mir: »Wenn du dieses Wasser trinkst, wird es dir Kraft verleihen. Trinke es, kleine starke Seele.«

Ich tat, wie mir geboten wurde. Dann stand er auf, um wegzugehen, und sprach dabei: »Du bist zu einem Leben der Abenteuer und der Macht bestimmt. Sei stark. Bereite deine Seele zu einem solchen Leben. Du bist geheilt. Lebe wohl.«

In wenigen Sekunden vernahmen wir das Klappern seiner Pantoffel draußen auf dem steinigen Hof unserer Herberge. Nach Verlauf einer Woche war ich imstande spazierenzugehen. Ich wünschte sehr nach Mayavati zurückzukehren, aber der Priester bestand darauf, mich noch ein paar Tage in Benares zu halten.

»Obgleich Benares nach außen hin eine Handelsstadt ist,« begründete er gewissenhaft, »ist es im Kern eine sehr geistliche Stadt. Es gibt keine ältere Stadt. Hier predigte und lebte die Inkarnation Gottes, Buddha Deva (Buddha, der Herr). Hier verkündete Krischna unsere Bibel, die Ghita. In Benares wirst du nicht nur das Beste aus der Vergangenheit, sondern auch aus der Gegenwart Indiens finden. Laß uns einen heiligen Mann suchen und ihn nach Weisheit fragen.«

Natürlich fügte ich mich Purohit, der mir ein Vater gewesen war, und wir besuchten alle Arten frommer Lehrer, von denen die meisten nicht vollkommen heilig waren. Mehr als ein Dutzend sogenannter Lehrer lehrten nicht, weil sie Gott geschaut hatten, sondern weil sie dadurch ihr Auskommen fanden. Für sie war Religion ein Werkzeug zur Beschaffung des Lebensunterhaltes. Dies trifft, glaube ich, für die große Mehrzahl der Priester in der ganzen Welt zu.

Ich sah mich auch nach unserem Zauberer um, der an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsorten nicht zu finden war. Wir suchten nach ihm, weil wir ihm ein kleines Geschenk bringen wollten, zum Zeichen meiner Dankbarkeit für seine Güte. Ich war der Ansicht, daß, wenn er auch Verdienst erworben hatte, als er mir das Leben rettete, ich meine Anerkennung doch zum Ausdruck bringen müßte, indem ich ihm eine Börse schenkte, die einige Goldmünzen enthielt.

Eines Morgens machten wir ihn endlich aus reinem Zufall auf einer Stufe des Dasaschwamedha Ghats ausfindig. Er las laut in einem Sanskritbuch, obgleich Tausende von Pilgern, Männer, Frauen und Kinder, schreiend und rufend die breiten Treppen neben ihm auf und ab gingen. Sobald wir uns neben ihm niedergesetzt hatten, hörte er auf zu lesen.

Ich bemerkte, daß er erfreut schien uns wiederzusehen. »Ha, was hält euch in Benares? Geht es dir nicht gut? Möchtest du noch einmal von dem Zauberwasser trinken?«

»Nein, Herr«, antwortete ich bescheiden, »ich wünsche Euch meine Dankbarkeit zu bezeigen.« Ich gab ihm die kleine Börse. Er nahm sie und sagte mit einem Auflachen: »Ich bin froh, daß ich nicht vollkommen heilig bin; denn dann hatte ich eine Menge Jünger, die mich ausnützen würden, wie die Bauern ihre milchenden Kühe.«

»Ihr seid nicht vollkommen heilig?« fragte Purohit.

»Mein Freund, ich bin kein geistlicher Lehrer. Ich bin ein wenig mehr als ein gewöhnlicher Zauberer. Nein, ich habe Gott nicht geschaut. Ich habe einige okkulte Kräfte«, fuhr der Wundertäter fort. »Wenn ich ein ganz frommer Mann wäre, würde ich keinerlei Kunststücke machen oder Wunder tun. Ein wahrhaft frommer Lehrer macht niemals Kunststücke, niemals!« Dann wechselte er den Gegenstand und sagte zu mir: »Ich sehe in deine Zukunft. Nächstes Jahr sehe ich dich in einer merkwürdigen Gesellschaft. Du stehst im Begriff einen Mann aufzusuchen, der Katzen in einem Käfig mit sich führt. Er ist ein Schausteller. Im nächsten Winter wird er dich lehren Tiere zu zähmen, aber du mußt sehr, sehr stark werden! Noch hast du nicht ganz aufgehört zu trauern.«

Mit diesen Worten verabschiedete uns der seltsame Mann. War ich zufrieden? Ich muß sagen, daß ich es war. An jenem Tage und oftmals später sprach ich zu mir: »Sei stark! Sei stark!« Zweifellos richtete das meine Seele von der Trauer auf; was aber wichtiger ist: ich glaube, daß das Klagen um die Toten nicht gut für die Seelen ist, die ihren Körper verlassen haben. Unser altes Hindu-Ideal des Schraddha ist ein sehr weiser Totenbrauch. Das allein kann den abgeschiedenen Seelen helfen, das Ende ihres zu Gott gerichteten Weges zu erreichen. Schraddha ist die rechte Art der Trauerfeier Schraddha ist ein Freudenfest, das nach einem Todesfall von der Gemeinde veranstaltet wird, um die Flugkraft der Seele zu stärken. Ein Trauermonat ist gestattet, und dann wird der feierliche Schraddha-Brauch vollzogen, um die Seele aus den Fesseln des Grams zu befreien..

Nun, da der durch die Religion zur Pflicht gemachte Trauermonat vorüber war, beschlossen wir nach Mayavati zurückzukehren, um Schraddha zu vollziehen. Aber ehe wir Benares verließen, begegneten wir durch einen seltsamen Glücksfall einem wahren Heiligen. Wir trafen ihn eines Tages in Durga Bari – dem Tempel der Mutter des Weltalls. Der Ort wird so sehr von Affen heimgesucht, daß Toren ihn manchmal den »Affentempel« nennen. Aber ihr versteht: Da die Göttin die Mutter des Weltalls ist, sagt sie nicht einmal zu Affen und Kühen nein. Alle sind in ihrem Hause willkommen.

An einem stillen Morgen, als alle Beter den Tempel verlassen hatten, sahen wir dort, an einen gemeißelten Pfeiler der Halle gelehnt, einen Mann vor dem inneren Schrein sitzen. Er hatte die Leute beobachtet, die kamen und gingen, und machte den Eindruck eines Bildhauers, der auf diejenigen Bewegungen der Menschen achtet, die er in Stein aushauen möchte. Zunächst bemerkte er gar nicht, daß wir ihn ansahen, als er es aber endlich tat, zeigte er keine Verwirrung, sondern machte uns ein Zeichen, heranzukommen und uns neben ihn zu setzen. Sein ovales Gesicht, die hohe Stirn, die kantigen Kinnbacken und die fast weiße Gesichtsfarbe deuteten auf etwas Ungewöhnliches. »Benares ist die einzige Stadt, die nie aufhört anziehend zu sein!« sagte er zu uns.

Wir stimmten ihm zu.

»Dreitausend Jahre wurden allein durch Tempelbauten unsterblich gemacht, ohne ihre Erbauer oder Stifter zu nennen. Es gibt in Benares keinerlei Denkmal persönlicher Art, kein Mausoleum, keine Paläste, keine Gemälde, keine Theater – nichts Persönliches wurde als Andenken an irgendein Ereignis geschaffen – Jahrhundert nach Jahrhundert hat man hier immer nur Tempel für Gott oder die Götter errichtet. Kein Wunder, daß selbst die Ochsen, die träge durch die Straßen gehen, so gutmütig aussehen wie Heilige; Kühe und Heilige sind hier unsere besten Bürger!«

»Aber so viele Kühe und kaum ein Heiliger«, klagte Purohit.

»Ja«, versetzte der fromme Mann. »Aber wenn die Heiligen so zahlreich wären wie die Kühe und Affen, wo wolltet ihr sie dann unterbringen?«

»Sind sie so schwer zu beherbergen?« forschte der Priester.

»Das sind sie«, antwortete er. »Ein Heiliger ist, wer in Gott lebt. Ein solcher ist gewöhnlich streng mit den Priestern und hochtrabenden Gottesverehrern, die sich selber schmeicheln, indem sie fromme Bräuche vollziehen, Barmherzigkeit üben und den Namen Gottes im Munde führen. Eines Heiligen Verachtung läßt sie klein werden. Es ist besser, daß wir nur wenige Heilige haben. Sie verursachen den meisten Leuten großes Unbehagen.«

»Habt ihr Gott geschaut?« fragte ich plötzlich und ohne zu wissen, weshalb, gerade so, wie ich gelegentlich und nebenbei nach seiner Adresse hatte fragen können.

Er sah mich eine Weile ruhig an, ohne mit der Wimper zu zucken, und wie ein Mensch, der aus tiefster Überzeugung spricht, sagte er: »Ja!« Dann schloß er die Augen, um das Feuer zu verbergen, daß in ihnen aufgeglüht war. Wäre ein Tiger zwischen uns gesprungen, es hatte nicht eine solche Bestürzung hervorrufen können wie dieses schlichte und klare »Ja«.

Purohit, ein Brahmane der Brahmanen, der höchsten Kaste in der Welt, neigte das Haupt und berührte ehrfurchtsvoll die Füße dieses Mannes. Es war nicht daran zu zweifeln, daß er heilig war.

Nachdem wir ihn so demütig gegrüßt hatten, erhoben wir uns schweigend, um zu gehen. Der Heilige sprach: »Friede geleitet euch!« Als sei es wirklich so, schieden der Priester und ich ohne ein Wort. Wir packten unsere Habe und reisten nach Mayavati ab. Es wird euch überraschen, wenn ich euch sage, daß wir während unserer ganzen Reise kaum miteinander sprachen. Ich wagte es nicht, weil ich befürchtete, daß jedes Wort den Frieden verscheuchen könnte, der in meine Seele gekommen war, und im Schweigen vernahm ich um so beredter den Frieden, der auch Purohits Seele erfüllte. Alle bedeutenden religiösen Wahrheiten sind durch Schweigen von Mensch zu Mensch übermittelt worden.

In Mayavati feierten wir nach unserer Ankunft ein großes Freudenfest. Wir speisten die Armen und teilten viele Geschenke aus. Einen ganzen Tag verbrachten wir mit solchen frommen Bräuchen, die Kuri auf ihrem Wege zu Gott weiterhelfen sollten. Statt Schmerz weilte nur Frieden in unserem Hause. Durch die ganze Feier des Schraddha wiederholte sich unablässig ein Gedanke:

»Freue dich, o Seele, in der neuen Heimat!
Lege an das Strahlengewand, denn nun
Weilst du, wo alle Begierden gestillt sind!«


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